Die Beteiligung am Durchgangsarztverfahren (D-Arzt-Verfahren) setzt voraus, dass der D-Arzt einmal in 5 Jahren an einem Fortbildungsseminar über die Begutachtung in der gesetzlichen Unfallversicherung teilnimmt [5]. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) entwickelte ein Curriculum für Gutachtenseminare, in dem die Inhalte und der Umfang der Fortbildung in der Begutachtung festgelegt sind.

In den bislang 30 Gutachtenseminaren für den Landesverband Südost (LV) der DGUV machten wir die Erfahrung, dass bestimmte Begrifflichkeiten und rechtliche Grundlagen der gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) unbekannt sind und immer wieder hinterfragt werden. Dabei handelt es sich um

  • die Definition Unfall in der GUV,

  • die Unterscheidung zwischen Schadensanlage und Vorerkrankung und

  • die Prüfung der Kausalität (Zusammenhang zwischen Unfall und Gesundheitsschaden) in 2 Schritten.

Unfall – Arbeitsunfall

„Ohne klare Kenntnis der Theorie der wesentlichen Bedingung kann über die haftungsbegründende Kausalität nicht entschieden werden, ist die Erstellung eines (medizinischen) Gutachtens über sie nicht möglich. Kernaufgabe des (medizinischen) Sachverständigen ist es, die ihm im Gutachtensauftrag gestellten Beweisfragen zu beantworten.“ [1]

Die Rolle des ärztlichen Gutachters besteht also darin, dem Unfallversicherungsträger (UV-Träger) und ggf. dem Gericht medizinische Sachverhalte darzustellen und zu erläutern, damit der UV-Träger/das Gericht eine Entscheidung treffen kann. Dies setzt voraus, dass der ärztliche Gutachter die Beweisfragen versteht und mit der sozialrechtlichen Terminologie vertraut ist.

Definition Arbeitsunfall

Ein Arbeitsunfall liegt vor, wenn 5 Bedingungen erfüllt sind: Eine versicherte Person muss bei einer versicherten Tätigkeit einen Unfall erleiden und dieser muss zu einem Gesundheitserstschaden führen. Versicherte Tätigkeit, Unfall und Gesundheitserstschaden müssen voll bewiesen und der Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall einerseits sowie dem Unfall und dem Gesundheitserstschaden andererseits (hinreichend) wahrscheinlich sein (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Die 5 Voraussetzungen für einen Arbeitsunfall, Erläuterungen s. Text

Das bedeutet, dass ein Arbeitsunfall nicht schon allein deswegen vorliegt, weil sich während der Arbeit ein Unfall ereignete. Der Unfall ist nur eine von 5 Voraussetzungen, die alle erfüllt sein müssen, damit der Unfall als Arbeitsunfall betrachtet werden kann.

„Unfälle sind zeitlich begrenzte Ereignisse, die von außen auf den Körper einwirken und zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen.“ (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII)

Nach der Definition des SGB VII (Sozialgesetzbuch VII) muss die äußere Einwirkung nicht plötzlich auf den Körper einwirken und auch das Adjektiv unfreiwillig kommt nur noch in der Definition des Unfallbegriffs in der privaten Unfallversicherung [8] vor. Die Ausweitung des Unfallbegriffs, die das Bundessozialgericht (BSG) in seinem Urteil vom 12.04.2005 [2] noch einmal eingehend erläuterte, ist noch immer nicht allgemein verbreitet. Dies führt zu erheblichen Missverständnissen im Dialog zwischen Ärzten und UV-Trägern, häufig schon bei der Erstattung eines D-Arzt-Berichts – wenn z. B. die Frage beantwortet werden soll, ob Hinweise vorliegen, die gegen die Annahme eines Arbeitsunfalls sprechen.

Das BSG stellte 2005 klar:

„Für das von außen einwirkende Ereignis ist kein besonderes, ungewöhnliches Geschehen erforderlich. Es dient der Abgrenzung zu Gesundheitsschäden aufgrund von inneren Ursachen, wie Herzinfarkt, Kreislaufkollaps usw., sowie zu vorsätzlichen Selbstschädigungen. Ist eine innere Ursache nicht feststellbar, liegt ein Unfall vor. Die Unfreiwilligkeit der Einwirkung ist dem Begriff des Unfalls immanent, weil ein geplantes, willentliches Herbeiführen einer Einwirkung dem Begriff des Unfalls widerspricht. Hiervon zu unterscheiden sind jedoch die Fälle eines gewollten Handelns mit einer ungewollten Einwirkung, bei dieser liegt eine äußere Einwirkung vor (z. B. der Sägewerker, der nicht nur ein Stück Holz absägt, sondern auch unbeabsichtigt seinen Daumen). Für die äußere Einwirkung ist nicht ein äußerliches, mit den Augen zu sehendes Geschehen zu fordern (Störung eines Herzschrittmachers durch ein elektrisches Gerät, Sonnenstich). Die äußere Einwirkung liegt – z. B. im vorliegenden Fall – in der (unsichtbaren) Kraft, die der schwere und festgefrorene Stein dem Versicherten entgegensetzte (vgl. Drittes Newton’sches Gesetz über die gleiche Größe der Gegenwirkung)“ [2].

Die rechtliche Begriffsbestimmung Unfall unterscheidet sich also ganz erheblich vom allgemeinen, aber auch vom medizinischen Sprachgebrauch. Letztendlich obliegt es dem UV-Träger (und nicht dem Arzt!), zu entscheiden, ob ein Unfall vorliegt. Im Rahmen der Begutachtung steht der Unfall als Tatsache fest, und auch der Unfallablauf wird in der Regel dem Gutachter vom UV-Träger vorgegeben („Gehen Sie davon aus, dass…“). Sofern anlässlich der Befragung des Verletzten zum Begutachtungstermin eine abweichende Schilderung des Geschehensablaufs vorgetragen wird, muss der Gutachter primär den vorgegebenen Unfallablauf seiner Einschätzung zugrunde legen – und dann unter Berücksichtigung der neuen Schilderung des Verletzten ggf. eine alternative Wertung abgeben.

Der UV-Träger entscheidet dann, welche Variante seiner Entscheidung zugrunde gelegt wird.

Gesundheitsschaden

Die ärztliche Sachkompetenz ist im Begutachtungsprozess an 2 Punkten gefragt:

  • bei der Feststellung der Unfallverletzung und anderer Körperschäden,

  • bei der Klärung der Frage, ob zwischen dem Unfall und den festgestellten Körperschäden ein Zusammenhang besteht.

Der unfallbedingte Gesundheitserstschaden ist (im unfallchirurgisch-orthopädischen Fachgebiet) die Verletzung der materiellen Körpersubstanz. Gutachterlich problematisch ist die Feststellung von Verletzungen, die sich nicht oder nur unzureichend objektivieren lassen: nichtstrukturelle Verletzungen wie Zerrung, Prellung, Stauchung und Dehnung. Diese Diagnosen ergeben sich in der Regel aus dem Geschehensablauf, wenn äußere Verletzungszeichen (Druckschmerz, Schwellung, Rötung, Bluterguss) nicht vorhanden oder nicht dokumentiert sind.

Der medizinische Sachverständige ist gehalten, Art und Umfang der durch äußere Gewalt eingetretenen Verletzung möglichst genau und im Detail zu beschreiben. Hierzu gehören die Klassifikation der Verletzungsschwere [z. B. AO-Klassifikation (AO: Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen) der Frakturen], des Grades und des Ausmaßes der Bandverletzung, der Größe und Breite von Sehnenverletzungen, z. B. an der Schulter, und die Typisierung der Rissform, z. B. des Kniegelenkmeniskus. Daneben ist der Gutachter verpflichtet, alle Vorerkrankungen und Schadensanlagen ebenfalls im Detail exakt zu beschreiben und diese den Verletzungen gegenüberzustellen.

Alle Gesundheitsschäden, die in der Diskussion der Kausalität zu berücksichtigen sind, müssen voll bewiesen sein. Der Vollbeweis ist erbracht, wenn durch die klinische Befunderhebung und die bildgebende Diagnostik die Verletzung/der Vorschaden und deren/dessen Umfang zweifelsfrei (objektiv) beschrieben und somit bewiesen werden können, d. h. wenn

„Zweifeln Schweigen geboten ist“.

Vorschaden, Schadensanlage, Vorerkrankung

Die Definition des Begriffs Vorschaden ist nicht einheitlich. Zum Teil wird Vorschaden als Oberbegriff für alle körperlichen Abweichungen von der Norm verwendet, z. T. allein der Vorerkrankung zugeordnet. Für die Beurteilung eines Zusammenhangs zwischen einem Unfall und dem Eintritt eines Körperschadens bewährte es sich, die klinisch stumme Vorschädigung als Schadensanlage und die klinisch manifeste Vorschädigung als Vorerkrankung zu bezeichnen. Diese unzweideutige Trennung der Erscheinungsformen des Vorschadens/der Vorschädigung hat erhebliche Konsequenzen.

Schadensanlage

Ist eine Schadensanlage bei der Beurteilung der Entstehung eines Körperschadens zu berücksichtigen, ist das erstmalige Auftreten eines Schadens (in Form von Beschwerden und Funktionseinschränkungen) von Bedeutung. Eine Schadensanlage ist etwas Angelegtes, bisher klinisch Stummes, das, um krankhaft (funktionell symptomatisch) zu werden, noch eines äußeren Anstoßes bedarf. Bei der Begutachtung ist die Rolle dieses Anstoßes zu ermitteln, und im Endeffekt ist dann entweder der Unfall oder die Schadenslage überwiegend ursächlich für den Eintritt der Beschwerden und Funktionseinschränkungen (Alles-oder-nichts-Prinzip). Ein typisches Beispiel ist die Funktionsstörung einer Schulter (Impingement) nach einer Prellung bei bewiesenem vorbestehendem asymptomatischem Rotatorenmanschettendefektschaden.

Vorerkrankung

Sie ist etwas Krankhaftes, das bereits manifest (funktionell symptomatisch) war oder bereits behandelt wurde. Bei der Begutachtung ist zu ermitteln, ob der Unfall zu einer Verschlimmerung der vorbestehenden Erkrankung führte. Im Endeffekt ist der aktuelle Zustand nach dem Unfall mit dem Zustand vor demselben zu vergleichen. Entschädigt wird in diesem Fall nur der unfallbedingte Verschlimmerungsanteil. Typische Beispiele sind der intraartikuläre Bruch der proximalen Tibia bei vorbestehender und vorbehandelter Gonarthrose oder der periprothetische Knochenbruch bei liegender Hüft-/Knie-TEP (TEP: Totalendoprothese).

Eine Schadensanlage kann sich durch einen Unfall nicht verschlimmern. Was medizinisch/natur-wissenschaftlich gut vorstellbar ist, ist im Rechtsbereich der GUV nicht anwendbar. Das bedeutet, der Gutachter ist gehalten, die nicht sichtbare, aber klare Grenze zwischen klinisch stummer und klinisch manifester Vorschädigung nicht zu überschreiten. Bei einer Schadensanlage steht am Ende der Überlegungen die eindeutige Festlegung auf eine wesentliche Ursache. Bei der Vorerkrankung sind immer zwei Ursachen für die Beschwerden und Funktionsstörungen zu berücksichtigen, aber nur der unfallbedingte Anteil an der Verschlimmerung, der auch zeitlich begrenzt sein kann, wird entschädigt, entweder in Form einer Übernahme der Behandlungskosten oder einer Rente.

Prüfung der Kausalität in 2 Stufen

Die Frage, ob zwischen dem Unfall und dem Gesundheitserstschaden ein ursächlicher Zusammenhang besteht, ist in den meisten Fällen unschwer zu beantworten. Problematisch sind im unfallchirurgisch/orthopädischen Fachgebiet alle Konstellationen, bei denen anlagebedingte Veränderungen oder klinisch stumme degenerative Vorschädigungen/Texturstörungen mit einer äußeren Gewalteinwirkung zusammentreffen: Sehnenverletzungen, Meniskus-/Diskusverletzungen, Verrenkungen von Schulter und Kniescheibe, Frakturen bei Osteoporose u. v. a. m.

Entscheidend ist immer die Beurteilung des Einzelfalls. Allgemeine wissenschaftliche Erkenntnisse über die Entstehung von Erkrankungen und Verletzungen sind für die Beurteilung der Zusammenhangsfrage zwar von herausragender Bedeutung, sie müssen aber entsprechend der Tatsachen des Einzelfalls angewandt werden. Diese sog. Anknüpfungstatsachen sind das Ergebnis der Ermittlungsarbeit der UV-Träger, sie werden dem Gutachter vorgelegt und sind als „voll bewiesen“ zu betrachten. Wenn im histologischen Untersuchungsbefund die Wertung steht: „mehrzeitiges Geschehen“ ist davon auszugehen, dass das untersuchte Gewebe zu mehreren Zeitpunkten geschädigt worden war. Wenn im D-Arzt Bericht steht „Schulter frei beweglich“, war die Schulter zum Zeitpunkt der Untersuchung frei beweglich.

In seiner Entscheidung zur posttraumatischen Belastungsstörung äußerte sich das BSG [3, 4] 2006 zum Stellenwert des wissenschaftlichen Kenntnisstands folgendermaßen:

„Wenn auch die Theorie der wesentlichen Bedingung im Unterschied zu der an der generellen Geeignetheit einer Ursache orientierten Adäquanztheorie auf den Einzelfall abstellt, bedeutet dies nicht, dass generelle oder allgemeine Erkenntnisse über den Ursachenzusammenhang bei der Theorie der wesentlichen Bedingung nicht zu berücksichtigen oder bei ihr entbehrlich wären. Die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten zu erfolgen“ [3, 4].

Übertragen auf die somatischen Unfallfolgen bedeutet dies: Nicht nur bei der Analyse des Unfallgeschehens, sondern v. a. bei der Wertung der Anknüpfungstatsachen [z. B. klinischer Befund, Röntgenbilder, MRT-Bilder (MRT: Magnetresonanztomographie) usw.] ist zu hinterfragen, ob die Befunde für eine typische Unfallverletzung oder für eine typische Erkrankung, die auch ohne äußere Einwirkung in der vorgefunden Form eingetreten wäre, sprechen.

Anhand der vorgelegten (in der Akte dokumentierten) Tatsachen erfolgt die Kausalitätsprüfung in 2 Schritten.

Stufe 1 der Prüfung

Es wird hinterfragt, ob eine Bedingung „hinweggedacht werden kann“. Es handelt sich also um ein hypothetisches Eliminationsverfahren, das zunächst nur den Unfall und seine Wirkung (sog. Erfolg) im Fokus hat. Die diesbezügliche Frage lautet: Entfällt der Gesundheitsschaden (sog. Erfolg), wenn man sich eine mögliche Ursache (Unfall und/oder Vorschaden) wegdenkt?

Wird der Vorschaden mit einem gefüllten Wasserglas verglichen und der Unfall mit dem Einschenken von Wasser, können 2 verschiedene Fälle betrachtet werden. Ist der Gesundheitsschaden (sog. Erfolg) durch das Überlaufen eines vollen Glases durch einen (letzten) Tropfen (Unfall) bedingt, sind Unfall und Vorschaden im naturwissenschaftlich/philosophischen Sinn gleichwertig: Keine der beiden Bedingungen ist wegdenkbar. Tritt der gleiche Gesundheitsschaden (sog. Erfolg, d. h. Überlaufen des Glases) ein, weil eine volle Wasserflasche in das Glas geschüttet wird, kommt es nicht darauf an, ob und bis zu welchem Grad das Glas vorher gefüllt war (Vorschaden). Das Glas läuft sowieso über. Deshalb kommt es auf den Inhalt des Glases nicht an, der Vorschaden ist wegdenkbar. Man muss sich keine Gedanken über den Füllungszustand des Glases (Vorschaden) machen, selbst wenn es voll gewesen wäre, ist der Unfall rechtlich wesentlich. Ist das Unfallereignis in seiner Art und Richtung derart ausgeprägt, dass es auch bei gesundem Gewebe zu einem Erstschaden gleicher Ausprägung führen würde, kommt es auf den Vorschaden nicht an.

Beispiel 1

Eine 75-jährige Frau fällt beim Apfelpflücken aus 2 m Höhe auf das Gesäß und hat anschließend Rückenschmerzen. Die Röntgenuntersuchung ergibt eine Fraktur des LWK 1 (A1.1; LWK: Lendenwirbelkörper), daneben sieht man eine ausgeprägte Osteoporose, alte Wirbelkörpersinterungen und Bandscheibenschäden. Die MRT-Untersuchung (MRT: Magnetresonanztomographie) ergibt, dass die LWK 1-Fraktur frisch ist (Abb. 2).

Im 1. Schritt der Kausalitätsprüfung wird festgestellt, dass ein Sturz aus 2 m Höhe auch bei einer jungen Person mit einer gesunden Wirbelsäule mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer LWK 1-Fraktur führen kann. Damit steht fest, dass es auf den Vorschaden nicht ankommt, dieser spielt für die Kausalitätsprüfung keine Rolle, so ausgeprägt er auch sein mag. Die Bedingung Vorschaden kann entfallen, der 2. Schritt der Kausalitätsprüfung ist somit nicht erforderlich.

Abb. 2
figure 2

Fraktur des Lendenwirbelkörper 1, ausgeprägte Osteoporose, alte Wirbelkörpersinterungen und Bandscheibenschäden, Beispiel 1 und 2, a,b Röntgenuntersuchung, c Magnetresonanztomographie, weitere Erläuterungen s. Text

Beispiel 2

Die gleiche 75-jährige Frau fällt beim Apfelpflücken nicht von der Leiter. Sie sammelt die Äpfel in einem Korb. Bei dessen Anheben (etwa 20 kg) kommt es zu Rückenschmerzen. Radiologisch und magnetresonanztomographisch ergeben sich die gleichen Veränderungen und Verletzungen wie in Beispiel 1 (Abb. 2).

Im 1. Schritt der Kausalitätsprüfung wird festgestellt, dass das Anheben eines 20 kg schweren Gegenstands bei einer jungen Person mit gesunder Wirbelsäule mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht zu einer Wirbelkörperfraktur führen kann, d. h. bei der Beurteilung der Kausalität sind der Vorschaden und dessen Ausmaß von wesentlicher Bedeutung. Der 2. Schritt der Kausalitätsprüfung ist demzufolge erforderlich. Es ist nicht möglich, bereits zu diesem Zeitpunkt festzustellen, dass der Unfall rechtlich unwesentlich für den Eintritt der Wirbelkörperverletzung war.

Allein mit der Feststellung, das Unfallereignis war naturwissenschaftlich nicht geeignet, die Verletzung herbeizuführen, kann der Unfallzusammenhang nicht ausgeschlossen werden.

Stufe 2 der Kausalitätsprüfung

Es handelt sich um ein Abwägen, eine Wertung der Kausalbedingungen. Im Beispiel 2 wird man die Überzeugung vertreten müssen, dass das Vorhandensein der Osteoporose mit alten Wirbelkörpersinterungen ein sehr starkes Indiz dafür ist, dass die Wirbelsäule alltäglichen Belastungen nicht mehr standhalten konnte. Es muss nur noch geprüft werden, ob das Anheben eines 20 kg schweren Korbs für eine 75-jährige Frau eine alltägliche Belastung darstellt.

Dieses Abwägen im 2. Schritt der Kausalitätsprüfung lässt sich bildlich mit einer Waage veranschaulichen (Abb. 3).

„Wesentliche Teil-/Mitursache ist eine Ursache dann, wenn die Abwägung der nach der Bedingungstheorie relevanten Kausalfaktoren ergibt, dass einer gegenüber den anderen mitwirkenden Bedingungen eine überragende Bedeutung zukommt.“ [3]

Abb. 3
figure 3

Schritt 2 der Kausalitätsprüfung: Abwägen der Bedeutung von Unfall und Vorschaden

Auf die eine Waagschale kommen alle Argumente/Indizien für den Unfallzusammenhang, wie sie sich aus der Prüfung der Anknüpfungstatsachen ergeben. Jedes Argument/Indiz hat hierbei ein eigenes Gewicht. Auf die andere Waagschale kommen alle Tatsachen, die gegen den Unfallzusammenhang sprechen. Alle Argumente/Indizien/Tatsachen und deren Gewicht müssen voll bewiesen sein, d. h., es darf keine vernünftigen Zweifel an deren Art und Bedeutung geben. Alles, was weder für noch gegen einen Unfallzusammenhang spricht, darf nicht in die Abwägung einbezogen werden, es bleibt – bildlich gesprochen – neben der Waage liegen und hat kein Gewicht.

Beispiel 3

Ein 55-jähriger Mann erleidet eine Stauchung und Prellung der Schulter. Danach bestehen Bewegungsschmerzen an der Schulter (Impingement) bei annähernd freier aktiver Beweglichkeit und eine Kraftminderung der Schultergürtelmuskulatur. Röntgenbilder zeigen eine Verminderung der akromiohumeralen Distanz. Die Beweglichkeit der Schulter ist 4 Wochen nach dem Unfall reduziert, und im MRT findet sich ein Supraspinatussehnendefektschaden mit einem Erguss in der Bursa subacromialis und im Akromioklavikulargelenk.

Im ersten Schritt der Kausalitätsprüfung wird man feststellen müssen, dass eine Stauchung und Prellung der Schulter nicht in der Lage sind, bei einer jungen Person mit gesundem Sehnengewebe eine Ruptur der Supraspinatussehne zu verursachen. Somit ist im zweiten Schritt ein Abwägen erforderlich, wobei sich das Unfallereignis als wenig gewichtiges Indiz auf der Kontraseite befindet. Gegen den Unfallzusammenhang sprechen auch der klinische Erstbefund und das erste Röntgenbild. Die MRT-Bilder geben ggf. Hinweise auf den Zustand des Sehnengewebes und der dazugehörigen Muskulatur. Hieraus können in einem Fall ein deutliches Übergewicht der Kontrawaagschale resultieren, in einem anderen Fall ein wesentlich weniger überzeugendes Ergebnis. Damit wird erkennbar, dass die Kausalitätsprüfung immer zu einer Einzelfallentscheidung führt. Hätte der Patient nicht nur eine Stauchung und Prellung der Schulter erlitten, sondern eine Verrenkung des Schultergelenks, könnte man argumentieren, dass die Schulterverrenkung auch beim jungen Patienten generell geeignet ist, eine Sehnenverletzung an der Schulter in der vorgefundenen Weise zu verursachen. Dann wäre der 2. Schritt der Abwägung nicht erforderlich und das Unfallereignis rechtlich wesentliche Ursache gewesen.

Die Abwägung ergibt eine überragende Bedeutung der Vorschädigung (Schadensanlage), wenn diese bewiesenermaßen so stark ausgeprägt war, dass der Schaden auch durch ein anderes alltägliches Ereignis in etwa derselben Zeit im selben Ausmaß eingetreten wäre, wenn also der Versicherte aufgrund seiner bewiesenen schadensnahen Konstitution wahrscheinlich nicht mehr in der Lage war, die alltäglichen Belastungen auszuhalten.

Maßstab für sog. alltägliche Belastungen sind die dem Alter der Versicherten entsprechenden, üblicherweise mit gewisser Regelmäßigkeit (wenn auch nicht jeden Tag) auftretenden Belastungen (z. B. Hochheben und Tragen einer Getränkekiste, normale Körperdrehbewegungen, Gehen, Treppensteigen, Bücken, in die Hocke gehen, Schieben eines Einkaufswagens usw.).

Aussagekraft der Befunde

Währen im ersten Schritt der Kausalitätsprüfung wissenschaftliche (gesicherte) Erkenntnisse über die Entstehung von Verletzungen den Begutachtungsprozess erheblich verkürzen können, setzt die Abwägung der Befundtatsachen im zweiten Schritt fundierte Kenntnis über die Diagnostik und Entstehung bestimmter degenerativer Krankheitsbilder voraus.

Das größte Gewicht haben immer die Erstangaben im D-Arzt-Bericht zum klinischen Untersuchungsbefund, das erste Röntgenbild und die MRT-Bildgebung. Dabei darf sich der Sachverständige nicht auf die Beurteilung der MRT-Bilder durch den Radiologen verlassen. Er muss sich diese selbst ansehen und sie einer eigenen Wertung unterziehen. Kann der Sachverständige des orthopädisch-unfallchirurgischen Fachgebiets die Befunderhebung und/oder Beurteilung durch den Radiologen nicht nachvollziehen, ist dies im Gutachten zu vermerken und ggf. eine alternative Wertung abzugeben.

Der Beweiswert eines Operationsberichts hängt davon ab, ob die Beschreibung des intraoperativen Befunds mit den klinischen und radiologischen Befunden im Übereinklang steht, ob (z. B. bei einem arthroskopischen Eingriff) Bilddokumente angefertigt und vorgelegt werden und ob der Operateur eine eigene Einschätzung zur Entstehung des Körperschadens vornimmt.

Zum Beweiswert feingeweblicher Untersuchungen gibt es eine Fülle von Sekundärliteratur. Es überwiegen die Ansichten, dass der histologische Befund keinen Rückschluss auf die Ursächlichkeit der Gewebeveränderungen erlaubt.

„Die feingewebliche Untersuchung der Sehnenränder zeigt innerhalb von 3 Monaten nach Trauma Sehnengewebenekrosen mit Hämosiderineinlagerungen, eine Fibroblastenproliferation in ungerichteter Anordnung und Granulationsgewebe; später überwiegen ältere reparative Veränderungen mit Strukturalteration der kollagenen Fasern, Hypervaskularisation und einer faserknorpeligen Umwandlung. Die histopathologischen Befunde sind allerdings häufig wenig richtungsweisend.“ [6]

Die feingeweblichen Veränderungen von Sehnengewebe können aber in ein grobes Zeitraster eingeordnet werden: Der Nachweis einer chondroiden Metaplasie im Randbereich eine Supraspinatussehnendefekts spricht für einen Altschaden, der Nachweis von Fibroblasten und Granulationsgewebe dafür, dass die Erkrankung erst vor kurzer Zeit begann und die Sehne noch die Kraft der Regeneration besitzt [7].

Fazit für die Praxis

  • Weitreichende sozialgerichtliche Entscheidungen finden nur selten in der Begutachtung nach Arbeitsunfällen ihren sofortigen Niederschlag.

  • Die Gutachtenseminare der Landesverbände der DGUV dienen der Vermittlung der Rechtsgrundlagen auf der Basis aktueller Rechtsprechung mit dem Ziel einer Optimierung der Gutachten und damit einer Beschleunigung der Verwaltungsverfahren der UV-Träger.

  • Eine Vertiefung der Kenntnisse in der Begutachtung ist für jeden Durchgangsarzt verpflichtend.