Epidemiologie

Die distale Radiusfraktur stellt mit bis zu 25% aller Frakturen die häufigste Verletzung des menschlichen Skeletts dar [1, 2]. Während bei jungen Patienten meist ein Hochrasanztrauma als Unfallmechanismus vorliegt, so tritt diese Verletzung bei älteren Patienten über 60 Jahren am häufigsten infolge eines Bagatelltraumas nach Sturz auf die ausgestreckte Hand auf [1, 2, 3, 4]. Hierbei sind vorwiegend postmenopausale Frauen mit osteoporotischem Knochen betroffen.

Die meisten Fälle distaler Radiusfrakturen entstehen durch eine axiale Stauchung mit Hyperflexion im Handgelenk, was zum typischen metaphysären Biegungs-/Stauchungsbruch mit Fehlstellung des distalen Fragmentes nach dorsal führt (Typ Colles) [4].

Konservativer Therapieansatz

Die extraartikulären Frakturen galten noch bis vor wenigen Jahren fast ausschließlich als eine Domäne der konservativen Therapie, insbesondere bei einfachen Frakturen des Typs 23-A2 nach AO-Klassifikation [1, 2, 4, 5]. Dieses Konzept umfaßt die geschlossene Reposition und Retention im Unterarmgips bis zur knöchernen Konsolidierung mit anschließender funktioneller Nachbehandlung [4]. Die konservative Therapie birgt jedoch das Risiko für eine sekundäre Dislokation—in Abhängigkeit von der Qualität des Knochens (Osteoporose) und der Ausprägung der dorsalen Trümmerzone—sowie für Komplikationen von Weichteilen und Einschränkungen der Gelenkbeweglichkeit.

Nachteile

Die negativen Folgen einer konservativen Frakturbehandlung wurden bereits Anfang des 20. Jahrhunderts durch Lorenz Böhler (1885–1973) als „Knochenbruch-Krankheit“ bezeichnet [6]. Dieses Syndrom ist charakterisiert durch Kontrakturen, Gelenksteife, Muskelatrophie bis hin zur Entwicklung einer Algodystrophie (M. Sudeck), im angelsächsischen Raum auch „complex regional pain syndrome type I“ (CRPS I) genannt [7, 8].

Die Komplikationen der konservativen Therapie haben dazu geführt, dass die Tendenz der Versorgungskonzepte in jüngster Zeit immer mehr in Richtung osteosynthetischer Stabilisierung und frühfunktioneller Nachbehandlung geht [2, 3, 9, 10, 11, 12, 13]. Insbesondere bei Vorliegen definierter Instabilitätkriterien (Tabelle 1) bei extraartikulären Brüchen sowie bei allen intraartikulären Frakturen mit Gelenkstufenbildung (sog. „Melone-type-Frakturen“) stellt sich die Indikation zur operativen Versorgung [14].

Tabelle 1 Radiologische Instabilitätskriterien distaler Radiusfrakturen

Herkömmliche Prinzipien der operativen Versorgung

Die unterschiedlichen operativen Verfahren zur Stabilisierung distaler Radiusfrakturen umfassen die minimal-invasive Kirschner-Draht-Osteosynthese, die externe Fixation sowie die offene Reposition und interne Fixation mit dorsaler oder palmarer Plattenosteosynthese [2, 3, 10, 12, 14, 15, 16, 17, 18].

Kirschner-Draht-Osteosynthese

Die Kirschner-Draht-Osteosynthese bleibt im Rahmen des Wandels der therapeutischen Strategien in den letzten Jahren [2] eigentlich nur noch der Versorgung pädiatrischer Frakturen und ggf. der auxiliären Stabilisierung einfacher extraartikulärer Frakturen (A2-Typ nach AO) bei Erwachsenen ohne weitere Instabilitätskriterien (Tabelle 1) vorbehalten.

Externe Fixation

Weiterhin stellt die geschlossene Reposition und Retention im gelenküberbrückenden Fixateur externe den Standard zur temporären Stabilisierung von komplexen intraartikulären distalen Radiusfrakturen infolge von Hochrasanzverletzungen oder bei Polytraumapatienten dar [17, 18, 19]. Bei stabiler Fraktur und adäquater Reposition kann die externe Fixation ggf. als definitives Konzept bis zur Ausbehandlung der Fraktur fortgeführt werden [17, 18].

Offene Reposition und interne Fixation

Das „klassische“ AO Konzept der offene Reposition und internen Fixation (ORIF) instabiler distaler Radiusfrakturen strebt das Ziel der anatomischen Rekonstruktion der Gelenkflächen, der Restoration der radioulnaren und radiokarpalen Stabilität und der stabilen Retention der Fraktur an [14].

Hierbei wurde seit der Einführung der 3,5-mm-T-Platte für den distalen Radius durch Maurice E. Müller Ende der 1960er-Jahre das Konzept verfolgt, Frakturen mit dorsaler Dislokation über einen dorsalen Zugang—bzw. bei ventraler Abkippung (sog. „Smith-type“ Frakturen) über einen palmaren Zugang—zu versorgen [14, 20]. Dieses biomechanische Konzept stellte über mehrere Jahrzehnte bis in die heutige Zeit den „golden standard“ der operativen Versorgung distaler Radiusfrakturen dar.

Neben der „klassischen“ T-Platte der AO wurden auch unterschiedliche Formplatten sowie die Doppelplatten-Osteosynthese als erfolgreiches Konzept beschrieben [2, 10, 12, 20, 21].

Pi-Platte

Mitte der 1990er-Jahre wurde die erste winkelstabile Platte zur dorsalen Stabilisierung distaler Radiusfrakturen eingeführt (sog. „Pi-plate“ oder „Jupiter-plate“). Während mit dieser Platte erstmals die erheblichen biomechanischen Vorteile der winkelstabilen Osteosynthese durch die erhöhte Ausreißfestigkeit vor allem im osteoporotischen Knochen nachgewiesen werden konnte [22, 23], waren im weiteren Verlauf die klinischen Resultate mit der dorsalen Pi-Platte eher ernüchternd [12].

Das Hauptproblem dieser in Form eines Buchstabens „Pi“ des griechischen Alphabets der speziellen Anatomie des distalen Radius angepassten Platte ist die Notwendigkeit eines ausgedehnten dorsalen Zuganges mit Freilegung mehrerer Sehnenfächer sowie die lokale Irritation der Extensorensehnen durch das Osteosynthesematerial [12]. Dies führt bei einem erheblichen Teil der mit einer Pi-Platte versorgten Patienten zu Komplikationen der Sehnenscheiden mit chronischen Schmerzen und Tendovaginitis bis hin zur Strecksehnenruptur durch Abnützung am Implantat [12, 22, 24, 25, 26, 27, 28, 29].

Unterfütterung des ossären Defektes

Ein weiterer wichtiger Nachteil der konventionellen dorsalen Plattenosteosynthese bei dorsal dislozierten Frakturen, was dem Verletzungsmuster in etwa 90% aller distalen Radiusfrakturen entspricht [1, 15], ist die Notwendigkeit einer Unterfütterung des ossären Defektes der dorsalen Trümmerzone mit einer Spongiosaplastik oder einem Knochenersatzstoff [12, 30].

Das Standardverfahren durch Unterfüttern des ossären Defekts mit autologer Spongiosa wird allein in Europa jährlich in über 25.000 Fällen durchgeführt, ist aber nach wie vor mit einer bedeutenden Komorbidität im Bereich der Entnahmestelle am Beckenkamm assoziiert, wie Schmerzen, Nachblutung/Hämatome, Infektionen, Verletzung des N. cutaneus femoris lateralis, oder iatrogene Frakturen der Beckenschaufel [31, 32, 33, 34]. Die Gewinnung der autologen Spongiosa—als „golden standard“ zur Auffüllung dorsaler Knochendefekte am distalen Radius—bedeutet eine assoziierte Belastung für den Patienten durch den zusätzlichen operativen Zugang, die Verlängerung der Eingriffszeit und das bestehende Zusatzrisiko für Komplikationen im Bereich der Spongiosaentnahmestelle.

Diesbezüglich wurde in der internationalen Literatur über eine Morbidität der Entnahmestelle am Beckenkamm in bis zu 50% der Fälle berichtet [31, 32, 33, 34]. Im Gegensatz dazu werden die nichtautologen Augmentationsformen der biologischen Anforderung einer Knochentransplantation nur teilweise gerecht und gehen ebenfalls mit einer erhöhten Komplikationsrate einher.

Komplikationen

Zu den bekannten Problemen und Komplikationen einer „konventionellen“ dorsalen Plattenosteosynthese distaler Radiusfrakturen gehören Implantatversagen bei osteoporotischem Knochen, Nichtverheilen der Fraktur durch Kompromittierung der periostalen Durchblutung durch konventionelle Implantate, Strecksehnenbeeinträchtigung durch dorsal eingebrachte Platten, Komplikationen im Bereich der Spongiosaentnahmestelle am Beckenkamm für die dorsale Defektauffüllung am Radius etc.

Mit dem Ziel, diese zu vermeiden, wurde mit der Entwicklung der „locking compression plate“ (LCP) durch die AO im neuen Jahrtausend ein revolutionäres Konzept der Osteosynthese für instabile distale Radiusfrakturen eingeführt [11, 13, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41].

Konzept der winkelstabilen Osteosynthese mit der LCP

Das Konzept der Winkelstabilität mit den Vorteilen der erhöhten Ausreißfestigkeit der Schrauben und einer verbesserten periostalen Durchblutung durch reduzierten Kontakt der Implantate mit dem Knochen wurde seit den 1990er-Jahren zunehmend in die Entwicklung neuer Implantate integriert [42]. Dies führte über die ersten internen „Platten-Fixateure“ („point contact fixator“ oder „PC-Fix“) zur LISS („less invasive stabilization system“) und zur Entwicklung der LCP („locking compression plate“; Abb. 1; [35, 41, 42]).

Abb. 1a, b
figure 1

„Locking compression plate“ (LCP) zur winkelstabilen Osteosynthese distaler Radiusfrakturen: 3,5-mm-System (a) und 2,4-mm-/2,7-mm-System (b)

Die LCP hat seit der Einführung in prospektive klinische Studien im Jahr 2001 bereits weltweite Verbreitung gefunden [36, 42]. Bei diesen winkelstabilen Implantaten ist das direkte Anpressen der Platte auf den Knochen zur rigiden Stabilität der Fraktur obsolet [38, 41, 42, 43]. Durch den fehlenden Anpressdruck wird die periostale Blutversorgung weiterhin gewährleistet. Ein zusätzlicher wichtiger Vorteil der Osteosynthese mit winkelstabilen Implantaten stellt die hohe Ausreißfestigkeit im osteoporotischen Knochen dar [36, 38, 42].

Als Innovation weist die LCP ein kombiniertes Loch aus dem klassischen ovalen Loch zur dynamischen Kompression und dem internen Fixateur-Loch mit winkelstabilem Schraubengewinde auf (Abb. 1). Das Kombinationsloch erlaubt die freie Wahl des geeigneten Schraubentyps (konventionell vs. winkelstabil) in Abhängigkeit von den individuellen Anforderungen der verschiedenen Frakturen und der unterschiedlichen Knochenqualität. Mehrfache prospektive Mono- und Multicenterstudien sind in den letzten Jahren angelaufen und haben anhand erster Auswertungen die Wertigkeit der LCP zur Versorgung von osteoporotischen Frakturen des distalen Radius und des proximalen Humerus belegt [11, 13, 36, 44, 45, 46].

Neue Operationstechnik

Die palmare winkelstabile T-Platten-Osteosynthese ist ein geeignetes Verfahren zur Stabilisierung der instabilen Extensionsfrakturen am distalen Radius, insbesondere der AO-23-A3-/B3-/C1- bis C3-Frakturen. Über den palmaren Zugang, der sich als technisch einfach und komplikationsarm erweist, lassen sich die Frakturen anatomisch reponieren und durch das neue winkelstabile System langfristig stabil fixieren. Das Therapiekonzept basiert auf der hohen Stabilität und Ausreißfestigkeit der winkelstabilen LCP, insbesondere auch bei osteoporotischem Knochen. Die distal in die Platte eingebrachten winkelstabilen Schrauben ermöglichen auch bei dorsal abgekippten distalen Radiusfrakturen mit ausgedehnter Trümmerzone eine hohe Stabilität bei palmar eingebrachter LCP.

Präparation

Der Eingriff erfolgt in Rückenlage mit dem Handtisch und in pneumatischer Oberarmblutleere von 250–280 mmHg. Radiopalmarer Hautschnitt über der Sehne des M. flexor carpi radialis (FCR) in einer Länge von ca. 5 cm, mit der Option, den Karpaltunnel spalten zu können. Longitudinale Eröffnung der Unterarmfaszie entsprechend dem palmaren Anteil der Sehnenscheide des FCR, in gleicher Länge und Richtung Durchtrennen des dorsalen Anteils. Stumpfe Präparation radial der Flexoren, welche nach ulnar weggehalten werden. Radialseitige scharfe Ablösung des M. pronator quadratus und Mobilisation desselben nach ulnar. Dabei ergibt sich eine übersichtliche Präparation der Fraktur, vor allem distalseitig, ohne das Gelenk zu eröffnen.

Frakturversorgung

Das Konzept der Ligamentotaxis wird zur Frakturreposition unter axialem Zug genutzt. Die Fraktur wird nun mit Kirschner-Drähten der Stärke 1,4 mm durch palmares Eingehen in den Frakturspalt angehoben und vorsichtig reponiert und mit radialseitig perkutan eingebrachten Spickdrähten temporär retiniert. Die winkelstabile LCP wird 15° palmar vorgebogen, palmar platziert und proximal mit 3,5-mm-Kortikalisschrauben fixiert. Unter leichtem Druck und Gegendruck von dorsal werden nun 2–3 winkelstabile Schrauben in die distalen Fragmente fixiert, welche die Radiusgelenkfläche in der anatomisch korrekten Position halten.

Anschließend werden alle Kirschner-Drähte entfernt. In vereinzelten Fällen komplexer intraartikulärer Frakturen vom C3-Typ können auxiliär eingebrachte gelenkrekonstruierende Kirschner-Drähte für 4–6 Wochen in situ belassen werden. Es erfolgt eine frühfunktionelle Nachbehandlung ohne Notwendigkeit der Gipsruhigstellung.

Erfahrungen über 2 Jahre

Eigene Erfahrungen mit dieser neuen Technik an über 150 Frakturen mit einer Nachuntersuchungszeit von bis zu 2 Jahren belegen die einfache und komplikationsarme Anwendbarkeit dieser Technik mit langfristiger stabiler Retention der palmaren winkelstabilen Platte ohne Notwendigkeit einer autologen Spongiosaplastik und frühfunktioneller Nachbehandlung mit klinisch exzellenten Resultaten. Die Abb. 2, 3, 4 zeigen radiologische Fallbeispiele des Versorgungskonzeptes mit der palmaren 3,5-mm-LCP.

Abb. 2
figure 2

Repositionsmanöver bei dorsal abgekippter Fraktur: Fixation der 3,5-mm-LCP über palmaren Zugang und Reposition über Ligamentotaxis und modifiziertes perkutanes Kapandji-Manöver von dorsal

Abb. 3a–d
figure 3

Fallbeispiel: 45-jährige Patientin mit dorsal disloziertem intraartikulärem Biegungs-/Stauchungsbruch (AO 23-C2) nach Sturz auf die ausgestreckte Hand: Unfallbild (a), postoperative Versorgung (b), Verlaufskontrollen nach 6 Wochen (c) und nach 6 Monaten (d). Kein Nachweis einer sekundären Dislokation der Fraktur trotz frühfunktioneller Nachbehandlung ohne Gipsruhigstellung. Die unversorgte dorsale Trümmerzone ist nach 6 Monaten komplett konsolidiert (Pfeil)

Abb. 4
figure 4

Distale Radiusfraktur mit dorsaler Abkippung und relativ schmalem distalem metaphysärem Fragment (a, Pfeil). Problemlose Retention von palmar winkelstabilen Kopfverriegelungsschrauben (b)

Fazit für die Praxis

Die Vorteile der winkelstabilen Plattenosteosynthese distaler Radiusfrakturen mit der LCP wie der Erhalt der periostalen Durchblutung, die erhöhte Ausreißfestigkeit und die variable Möglichkeit des Einsatzes konventioneller und winkelstabiler Schrauben erlauben eine breiten Einsatz dieser Platte auch über das Spektrum der herkömmlichen Indikationen hinaus.

Die ersten Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass auch bei Defektzonen nach reponierten eingestauchten Brüchen Spongiosatransplantationen in der überwiegenden Zahl der Fälle durch die hohe Stabilität des Konstruktes entbehrlich sind. Dadurch entfällt mit diesem neuen Versorgungskonzept auch die Morbidität der Spongiosaentnahme am Beckenkamm. Die hohe Stabilität des winkelstabilen Platten-/Schraubenkopfverbundes erlaubt die Versorgung der viel häufigeren Extensionsfrakturen des distalen Radius, vor allem auch bei osteoporotischem Knochen, vom palmaren Zugang aus.

Durch diesen anatomisch unproblematischen Zugang können die bekannten Langzeitprobleme vermieden werden, wie Komplikationen im Bereich der Strecksehnengleitlager. Die frühfunktionelle Nachbehandlung ohne Notwendigkeit der Gipsruhigstellung verhindert die Entwicklung der herkömmlichen „Frakturkrankheit“ und des CRPS I.