Hinführung zum Thema

Bislang fanden geschlechtsspezifische Unterschiede in der Medizin nur wenig Beachtung. So werden klinische Studien von z. B. Medikamenten vorzugsweise bei männlichen Probanden durchgeführt. Frauen, besonders vor der Menopause, werden aus Sorge vor dem Einfluss zyklischer Hormonschwankungen für Studien eher selten berücksichtigt. Für die Anästhesie und Intensivmedizin ergeben sich geschlechtsspezifische Unterschiede im Hinblick auf anästhesierelevante Vorerkrankungen, sowie den intra- und postoperativen Verlauf, die bislang nur wenig untersucht sind [1, 2]. Die Datenlage für die nichtbinäre Geschlechtszuteilung ist noch geringer bzw. noch gar nicht erhoben. Dieser Artikel gibt einen Überblick über den aktuellen Wissensstand zu anästhesierelevanten Unterschieden zwischen beiden Geschlechtern.

Unterschiede zwischen Frauen und Männer ergeben sich sowohl aufgrund der hormonellen Einflüsse von Testosteron, Östrogen und Progesteron, aber auch durch die genetischen Einflüsse der Geschlechtschromosomen. Auch wenn diese anatomischen und physiologischen Differenzen schon vor der Geburt nachweisbar sind, treten sie v. a. mit der Pubertät zunehmend in Erscheinung. Dabei beeinflussen die Hormone nicht nur die phänotypische Erscheinung, sondern auch die Sozialisierung. Mit dem Beginn der reproduktiven Phase nehmen bei Frauen v. a. Östrogen und Progesteron Einfluss auf zahlreiche Prozesse, die auch für die perioperative Phase relevant sein können. Dies betrifft neben dem Gehirn die kardiovaskuläre, die pulmonale, die hepatische und renale Funktion, sowie das endokrinologische System.

Anästhesierelevante Vorerkrankungen

Frauen unterscheiden sich von Männern in einigen für die Anästhesie relevanten Erkrankungen. Für viele Erkrankungen ist der Unterschied vor der Menopause noch ausgeprägter als danach, aber auch nach der Menopause meist nicht gänzlich verschwunden. Als wichtigstes Organsystem ist das Herz-Kreislauf-System zu nennen, somit nehmen kardiovaskuläre Vorerkrankungen eine wichtige Rolle ein. Vor der Menopause weisen jüngere Frauen eine bessere diastolische Funktion, eine höhere Ejektionsfraktion und eine höhere Herzfrequenz auf als Männer. Nach der Menopause ist der Blutdruck bei Frauen meist höher, häufiger liegt eine längere Systole, eine diastolische Dysfunktion sowie ein verkürzter Herzzyklus vor [3]. KHK, Myokardinfarkt, Herzinsuffizienz oder Rhythmusstörungen werden bei Frauen erst mit signifikant höherem Lebensalter diagnostiziert als bei Männern [3]. Dabei sind bei der KHK eher die kleinen und nicht wie bei Männern, die größeren Herzkranzgefäße betroffen [3]. Außerdem findet sich bei Frauen eine höhere Reinfarktrate und ein höheres Risiko für Arhythmien als bei Männern [3, 4]. Ein möglicher Grund für die spätere Diagnose könnte daran liegen, dass bei Frauen die Symptome bereits seit Längerem bestehen und die beweisende Diagnostik erst viel später durchgeführt wird als bei männlichen Patienten [4]. Auch entwickeln Frauen erst in höherem Alter eine Herzinsuffizienz, deren Ätiologie seltener die KHK, sondern eher eine hypertensive Herz- oder eine Klappenerkrankung ist [4]. Dabei geht die weibliche Herzinsuffizienz häufiger mit einer erhaltenen Ejektionsfraktion einher als bei Männern. Bei Frauen besteht häufiger eine relative längere QT-Zeit und ein erhöhtes Risiko für Vorhofflimmern [5].

Pathophysiologie und Klinik von KHK oder Herzinsuffizienz unterscheiden sich zwischen Frauen und Männern

Obgleich Frauen seltener Nikotin konsumieren als Männer, sind sie dennoch anfälliger an einer COPD oder einem Asthma bronchiale zu erkranken [6, 7]. Dafür ist die Prävalenz für Diabetes mellitus Typ 2 bei Männern deutlich höher als bei Frauen [8]. Die Einnahme von oralen Kontrazeptiva prädestiniert Frauen für ein erhöhtes Thrombose- und Embolierisiko [1]. Tab. 1 gibt einen Überblick über anästhesierelevante Aspekte (Tab. 1).

Tab. 1 Anästhesierelevante Unterschiede zwischen Frauen und Männern

Pharmakokinetik und Pharmakodynamik

Unterschiede in Pharmakokinetik und -dynamik zwischen Frauen und Männern lassen sich auf die physiologischen und hormonellen Unterschiede zurückführen. Im Durchschnitt sind Frauen kleiner als Männer, haben weniger Gewicht, mehr Körperfett und weniger Muskelmasse. Außerdem ist der Körperwasseranteil geringer und sowohl der extrazelluläre Flüssigkeitshaushalt als auch die Serum Na+-Konzentration schwankt zyklusabhängig [9]. Während der lutealen Phase des Zyklus sind – im Gegensatz zur follikulären Phase – die Plasmakatecholaminspiegel und folglich Herzfrequenz und Blutdruck erhöht, sowie die pulmonale Leistungsfähigkeit gesteigert [10, 11]. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Pharmakokinetik und -dynamik führen dazu, dass Medikamente bei Frauen leichter überdosiert werden können und deshalb bei Frauen häufiger unerwünschte Nebenwirkungen wie z. B. eine allergische Reaktion auftreten [2, 12].

Aufgrund einer verzögerten Magenentleerung und einem niedrigeren gastralen pH-Wert ist die Resorption oral applizierter Medikamente verzögert [10]. Die Dosierung von potenten Medikamenten wie Anästhetika sollte bei Frauen u. a. aufgrund des geringeren Plasmavolumens und Wassergehalts, verminderter Albuminkonzentration sowie eines verminderten durchschnittlichen Blutflusses pro Organ geschlechterspezifisch angepasst werden [13]. Lipophile Medikamente, wie beispielsweise Midazolam, erreichen bei Frauen ein höheres Verteilungsvolumen, sodass bei gleicher Dosis eine niedrigere initiale Plasmakonzentration erreicht wird [14, 15]. Im Gegensatz dazu ist das Verteilungsvolumen von wasserlöslichen Medikamenten wie Muskelrelaxanzien bei Frauen geringer als bei Männern, sodass diese geringer dosiert werden können, um denselben Effekt zu erreichen [9].

Auch die Ausscheidung von Medikamenten wird geschlechtsspezifisch beeinflusst. So ist die renale Clearance bei Frauen reduziert [13]. Die Metabolisierung der Anästhetika durch die Leber weist geschlechtsspezifische Unterschiede auf und unterliegt ebenfalls hormonellen Einflüssen: Die Aktivität von Enzymen wie beispielsweise CytP 450 wird durch den Menstruationszyklus, Schwangerschaft oder die Einnahme oraler Antikontrazeptiva beschleunigt [14]. Gleiches gilt für die Glucuronidierung und Hydroxylierung der Medikamente [10]. So ist beispielsweise der Heparin-Plasma-Spiegel und das Blutungsrisiko bei gleicher Dosis bei Frauen höher als bei Männern und erklärt möglicherweise, warum Frauen signifikant häufiger eine heparininduzierte Thrombozytopenie (HIT) entwickeln [16, 17].

Anästhetika und Narkosetiefe

Weibliche Geschlechtshormone beeinflussen Rezeptoren, die auch von Anästhetika aktiviert oder blockiert werden. Progesteron, das v. a. in der lutealen Phase des Zyklus produziert wird, hat eine ähnliche modulierende Wirkung auf GABAA-Rezeptoren wie Anästhetika und wirkt selbst sedierend, anxiolytisch, analgetisch und antikonvulsiv [18]. Dies ist von klinischer Relevanz, da die Plasmakonzentration von Progesteron negativ mit der Dauer bis zum Augenöffnen nach einer Allgemeinanästhesie korreliert [10].

Neben pharmakokinetischen und -dynamischen Unterschieden sind Frauen weniger empfindlich gegenüber Anästhetika als Männer. So ist die beispielsweise bei Frauen nach derselben Propofoldosierung die mittels Bispectral Index (BIS) gemessene Narkosetiefe höher als die bei Männern. Gleichzeitig erwachen Frauen schneller aus einer Anästhesie als Männer, was das höhere Risiko für eine Awareness bei Frauen erklären könnte [15, 19, 20]. Für volatile Anästhetika konnten bislang keine geschlechtsspezifischen Unterschiede detektiert werden [14]. Im Gegensatz zu den Anästhetika scheinen Frauen empfindlicher gegenüber Muskelrelaxanzien zu sein. Bei gleicher Dosierung wird nicht nur eine tiefere neuromuskuläre Blockade, sondern auch eine längere Wirkdauer erreicht, was das Risiko einer Awareness nochmals erhöhen kann [14].

Schmerzempfinden und Opioide

Schmerzempfinden

Die Wirkung der weiblichen Geschlechtshormone Östradiol und Progesteron auf die Schmerzverarbeitung sind komplex, wobei beide pro- und antinozizeptive Eigenschaften aufweisen. Die Wirkung von Testosteron wird als antinozizeptiv eingestuft [21, 22]. Tendenziell sind prämenopausale Frauen in der follikulären Phase schmerzempfindlicher als in der lutealen Phase des Menstruationszyklus [15]. Experimentelle Untersuchungen ergaben als mögliche Ursache hierfür eine unterschiedliche Immunantwort von Frauen und Männern auf Schmerzen [23].

Ganz allgemein empfinden Frauen postoperative Schmerzen stärker als Männer [15, 24, 25]. Dies gilt besonders für intrathorakale Eingriffe, Eingriffe an der Wirbelsäule oder in der HNO und weniger für intraabdominelle oder orthopädische Operationen.

Frauen empfinden postoperative Schmerzen stärker als Männer

In mehreren Studien konnte belegt werden, dass im Vergleich zu Männern die Schmerzgrenze bei Frauen niedriger und die Schmerzempfindlichkeit gegenüber schmerzhaften Reizen verstärkt ist [24, 25]. In einer Multicenterstudie an mehr als 25.000 Patient:innen betrug der Unterschied auf der visuellen Analogskala zur Selbsteinstufung von Schmerzen (VAS) allerdings nur 0,29 Punkte, sodass die Autoren einer Übersichtsarbeit dem Geschlechtsunterschied eher eine untergeordnete Bedeutung gegenüber dem Einfluss von Alter, Ethnizität, präoperativen chronischen Schmerzen oder psychologischen Faktoren zuordneten [26]. Als Ursache für die potenziell höhere Schmerzempfindlichkeit von Frauen wird eine verminderte endogene Schmerzhemmung diskutiert [27]. Frauen unterscheiden sich von Männern auch in der Wahrnehmung, der Erfahrung, und der Dauer von Schmerzen. Frauen sind von Schmerzen stärker gequält und verbinden negativere Gefühle mit den Schmerzen als Männer [28]. Auch der Einfluss des Schmerzes auf die Funktionalität ist bei Frauen ausgeprägter [26]. Im Gegensatz zum akuten Schmerz ist gesichert, dass Frauen häufiger an chronischen Schmerzen leiden als Männern. Die Ursachen hierfür sind unklar [29].

Analgetika

Obwohl Frauen Schmerzen stärker empfinden als Männer, benötigen sie weniger Opioide wie beispielsweise Morphin oder Fentanyl, um nach einem Schmerzreiz dasselbe Schmerzniveau zu erreichen wie Männer [14]. Frauen scheinen sensibler gegenüber µ‑ als auch κ‑Rezeptoragonisten und deren Nebenwirkungen zu sein als Männer. Bei Frauen zeichnen sich Opioide durch einen langsameren Wirkungsbeginn und eine größere Affinität u. a. auf das Atemzentrum aus und kann mit einer genderspezifisch erhöhten µ‑Rezeptordichte, einer verminderten Clearance und dem höheren Körperfettanteil erklärt werden [30, 31]. Für Alfentanil oder Remifentanil sind keine geschlechtsspezifischen Unterschiede bekannt. Die Wirkungsdauer von Paracetamol ist aufgrund des Verteilungsvolumens bei Frauen verlängert [14].

Postoperativer Verlauf

Obwohl Frauen schneller aus der Narkose erwachen, ist die Aufwachphase und der postoperative Verlauf verzögert. Neben der erhöhten Schmerzempfindlichkeit leiden Frauen signifikant häufiger an postoperativer Übelkeit und Erbrechen („postoperative nausea and vomiting“, PONV). Frauen haben ein dreimal so hohes Risiko, PONV zu erleiden wie männliche Patienten. Dabei ist die Inzidenz während der lutealen Phase am niedrigsten, nimmt in der follikulären Phase zu und ist während der Menstruation am höchsten [11]. Dieses erhöhte PONV-Risiko reduziert sich nach der Menopause zwar, bleibt aber trotzdem geschlechtsspezifisch erhöht [32].

Frauen haben eine erhöhte PONV-Rate als Männer

Neben diesem unmittelbar erhöhten postoperativen Risiko im Aufwachraum haben Frauen insgesamt ein erhöhtes Risiko für ein ungünstiges Ergebnis sowie einen komplikationsträchtigeren postoperativen Verlauf. Die meisten Untersuchungen zum geschlechtsspezifischen Unterschied im postoperativen Verlauf stammen hierbei aus der Gefäßchirurgie.

Fazit für die Praxis

  • Frauen und Männer unterscheiden sich in einer Reihe von Aspekten, die für die Anästhesie und Schmerztherapie von Bedeutung sind.

  • Anästhesierelevante Vorerkrankungen v. a. des Herz-Kreislauf-Systems, des respiratorischen Systems oder Stoffwechselerkrankungen werden bei Frauen gegenüber Männern verzögert diagnostiziert, nicht zuletzt auch, weil sich die Klinik bei beiden Geschlechtern unterscheidet.

  • Frauen und Männer unterscheiden sich auch in Pharmakokinetik und -dynamik wie Resorption, Verteilungsvolumen, Plasmaeiweißbindung, Metabolismus und Elimination. Dies führt bei Frauen u. a. zu höheren Medikamentenplasmaspiegeln als bei Männern.

  • Der Einfluss zyklusabhängiger Hormonschwankungen beeinflusst den perioperativen Verlauf. Am Beispiel der altersunabhängig erhöhten PONV-Rate bei Frauen sieht man, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede auch nach der Menopause noch erhalten bleiben.