Hintergrund

Die kurative Strahlentherapie geht trotz optimal konformaler Bestrahlungsvolumina und präziser Behandlungsplanung und -applikation unvermeidlich mit der Exposition normaler Gewebsstrukturen einher – im Tumor, in dessen Randbereichen und in den Ein- und Austrittskanälen der Strahlung. Dies ist zwangsläufig mit einem bestimmten, geringen Risiko für (späte) Nebenwirkungen verbunden. Die klinische Manifestation von Nebenwirkungen muss daher als Indikator für eine optimale Behandlung und maximale Tumorheilungswahrscheinlichkeit, und nicht a priori als Folge einer Fehlbehandlung angesehen werden.

Pathogenese von Spätfolgen

Späte Strahleneffekte werden grundsätzlich in allen Organen gefunden. Die Pathogenese umfasst Veränderungen im Parenchym sowie in den Binde- und Gefäßgewebskomponenten (Abb. 1). Zudem ist das Immunsystem beteiligt. Späte Strahleneffekte stellen somit eine komplexe Reaktion dar [1, 5, 10, 25, 28]. Sie sind mit wenigen Ausnahmen irreversibel und im Schweregrad fortschreitend. Daher erhöht sich mit der Verbesserung der Überlebensraten und der Verlängerung der Überlebenszeiten der Patienten die Zahl der Krebsüberlebenden mit einem Risiko für Spätfolgen.

Abb. 1
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Pathogenese von Spätfolgen – Komponenten und Abläufe

Spätfolgen der Strahlentherapie sind komplex

Frühe und späte Strahleneffekte sind primär voneinander unabhängig. In bestimmten Fällen können jedoch konsekutive Spätfolgen („consequential late effects“, CLE) auftreten. So, wenn die früh reagierenden Gewebsanteile (z. B. Epithelien) eine Schutzfunktion gegen mechanische und/oder chemische Einflüsse haben, welche während der Frühreaktion beeinträchtigt wird, sodass zusätzliche Traumata auf die Zielstrukturen der Spätfolgen einwirken [7].

Parenchymzellen in jedem Organ werden durch Strahlenexposition inaktiviert. Daneben trägt bei Endothelzellen eine veränderte biologische Aktivität [10, 21, 23] zur Strahlenreaktion bei. Endothelzellvakuolisierung und Endothelablösung sind häufig schon zu sehr frühen Zeitpunkten zu beobachten, gefolgt vom Endothelzelltod. Zudem finden sich ein subendotheliales Ödem und die Bildung von Thromben [12]. Dies geht einher mit einer Leukozytenadhäsion und -infiltration in die Gefäßwand. Diese Veränderungen führen zu einem progressiven Verlust von Kapillaren, mit der Folge einer Parenchymatrophie.

Teleangiektasien werden in praktisch allen bestrahlten Geweben und Organen beobachtet. Diese beruhen ebenfalls auf der Schädigung der Endothelzellen, in Verbindung mit dem Verlust von glatten Muskelzellen bei größeren Kapillaren und Venen. Im Darm, in der Harnblase oder auch im ZNS können Teleangiektasien wegen der Blutungsneigung klinisch relevant sein; in der Haut sind sie ein kosmetisches Problem. Über längere Zeiträume können die teleangiektatischen Kapillaren kollabieren, was zu einer Reversibilität der Blutungen führt [13, 14].

In mitotischen Fibroblasten wird durch Strahlenexposition die Differenzierung zu postmitotischen Fibrozyten induziert, mit der Folge einer drastisch erhöhten Kollagensynthese [18]. Die resultierende Fibrose wirkt sich signifikant auf die Organfunktion aus [1, 15, 28].

Makrophagen, bestrahlt oder nach Bestrahlung rekrutiert, tragen ebenfalls signifikant zu den relevanten Signalkaskaden bei. Reaktive Sauerstoff- und Stickstoffspezies, die chronisch von verschiedenen Zellpopulationen produziert werden, scheinen in Kombination mit chronischer Hypoxie und einer permanent aktivierten und modifizierten Kaskade von Zytokinen eine wesentliche Rolle bei der Pathogenese chronischer Strahlenfolgen zu spielen [1, 9, 19, 20].

Die geschilderten Veränderungen führen zu einer zunächst subklinischen, jedoch progressiven Parenchymschädigung und schließlich zum Funktionsverlust innerhalb desjenigen Organvolumens, das einer bestimmten Dosis ausgesetzt war. Die klinischen Konsequenzen hängen von der Architektur des Organs, der Strahlentoleranz und teilweise von der Lokalisation des exponierten Volumens im Organ ab [11].

Das Organ definiert die klinische Manifestation bei Teilorganexposition

Jede der beteiligten zellulären/geweblichen Komponenten reagiert auf eine Strahlenexposition mit einer spezifischen Dosisabhängigkeit; das Zusammenspiel definiert dann die Gesamtdosisantwort für die verschiedenen klinischen Endpunkte. Für verschiedene Organe kann die Relevanz der einzelnen pathogenetischen Komponenten unterschiedlich sein [9, 10, 16].

Latenzzeiten

Die Latenzzeiten für chronische Strahlenfolgen sowie die Progressionsrate sind invers dosisabhängig (Abb. 2). Als Folge werden späte Normalgewebseffekte bei niedrigeren Strahlendosen erst mit zunehmenden Nachbeobachtungszeiten registriert.

Latenzzeiten für Strahlenspätfolgen sind invers dosisabhängig

Somit ist – v. a. bei modernen Bestrahlungstechniken – eine ausreichend lange Nachsorge zur vollständigen Erfassung chronischer Strahlenfolgen unumgänglich [5]. Folglich erfordert aber auch die Definition von Toleranzdosen immer Informationen über die Nachbeobachtungszeit [5].

Abb. 2
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Verlauf von Spätfolgen – Dosisabhängigkeit der Latenz

Beispiele später Strahlenfolgen

In diesem Abschnitt werden die Reaktion und die Toleranz einiger klinisch wichtiger Normalgewebe („organs at risk“, OAR) zusammengefasst. Ausführlichere Beschreibungen finden sich in QUANTEC [2], in den Berichten der Internationalen Strahlenschutzkommission ICRP [4] und in verschiedenen Übersichtsarbeiten (z. B. [5]).

Haut und Hautanhangsgebilde

Die chronische subkutane Fibrose, die sich klinisch als Induration manifestiert, beruht überwiegend auf einem Anstieg der Kollagenfasern und einer Reduktion des Fettgewebes. Teleangiektasien beruhen auf den Gefäßeffekten in der Dermis.

Ab einer kumulativen Dosis von etwa 12 Gy wird ein Verlust in der Funktion der Talgdrüsen beobachtet, bei etwas höheren Dosen reagieren auch die Schweißdrüsen, was zu einer typischen „trockenen Haut“ führt. In den Haarfollikeln führen Einzeldosen von etwa 4 bzw. 10 Gy zu vorübergehendem bzw. dauerhaftem Haarausfall. In fraktionierten Protokollen erlauben signifikant höhere Dosen bis zu 40 Gy noch ein Nachwachsen der Haare. Häufig finden sich Farbveränderungen der nachwachsenden Haare.

Die Okklusion von Lymphgefäßen, als direkte Strahlenwirkung sowie durch die Fibrose, kann zu einem chronischen Lymphödem führen, was sich ebenfalls signifikant auf die Lebensqualität der Patienten auswirkt.

Lunge

Die Lunge gehört zu den empfindlichen Organen. Neben einer Verringerung des bestrahlten Volumens sind reduzierte Dosen pro Fraktion am wirksamsten zur Verminderung/Vermeidung schwerer Lungenreaktionen. Klinische Symptome einer Strahlenpneumonitis sind eine verminderte Compliance, progressive Dyspnoe, verminderter Gasaustausch und trockener Husten, bis hin zum kardiorespiratorischen Versagen.

Lunge und Niere sind sehr strahlenempfindlich bei ausgeprägtem Volumeneffekt

Fibrosen entwickeln sich langsam über einen Zeitraum von einigen Monaten bis zu Jahren. Lokale fibrotische Reaktionen müssen bei allen Patienten mit frühen Reaktionen erwartet werden, was auf eine starke konsekutive Komponente der Spätreaktion hinweist. Höheres Alter und eine Tamoxifenbehandlung erhöhen signifikant die Häufigkeit der Pneumopathie [6].

Niere

Strahlenfolgen an der Niere entwickeln sich sehr langsam über viele Jahre. Die Strahlennephropathie manifestiert sich in der Regel als Proteinurie, Hypertonie und Beeinträchtigung der Urinkonzentrationsfunktion. Eine Anämie (Hämolyse, verminderte Erythropoetinproduktion) ist gewöhnlich vorhanden. Eine leichtgradige Nephropathie, in Form einer Proteinurie, kann über einen Zeitraum von vielen Jahren beobachtet werden. Nach partieller Nierenbestrahlung kann sich eine Hypertonie nach einer Latenzzeit von bis zu 10 Jahren entwickeln.

Eine glomeruläre Endothelschädigung gilt als initiales Ereignis, welches zur glomerulären Sklerose und später zur tubulointerstitiellen Fibrose führt. Durch den Verlust von tubulären Epithelzellen kann Fibrin in das Interstitium austreten, was den Beginn der Fibrose verursacht.

Nervensystem

Das Nervensystem ist relativ unempfindlich für eine Strahlenexposition, jedoch führt eine Schädigung zu schwerwiegenden klinischen Folgen. Die wichtigsten Strahlensyndrome im zentralen Nervensystem entwickeln sich wenige Monate bis mehrere Jahre nach der Therapie. Einige Reaktionen, die innerhalb der ersten 6 Monate auftreten können, umfassen eine vorübergehende Demyelinisierung („Somnolenzsyndrom“) oder eine Leukenzephalopathie. Die typische Strahlennekrose kann nach 6 Monaten, aber auch noch nach 2–3 Jahren auftreten. Histopathologisch sind Veränderungen, die innerhalb des ersten Jahres auftreten, meist auf die weiße Substanz beschränkt. Für Zeiträume jenseits von 6–12 Monaten zeigt gewöhnlich auch die graue Substanz Veränderungen, zusammen mit ausgeprägten vaskulären Läsionen (Teleangiektasien, fokale Blutungen).

Das Gehirn von Kindern ist empfindlicher als bei Erwachsenen. Funktionelle Defizite, wie eine Abnahme des Intelligenzquotienten (IQ), können zumindest teilweise der Strahlentherapie nach kombinierten Behandlungsprotokollen zugeschrieben werden. Veränderungen in der neurovaskulären Interaktion können zu Beeinträchtigungen des Lernens und des Gedächtnisses beitragen [26].

Die strahleninduzierten Veränderungen im Rückenmark ähneln denen im Gehirn in Bezug auf Latenzzeit, Histopathologie und Strahlentoleranz. Unter den (relativ) frühen Syndromen bei der Strahlentherapie von Kopf-Hals-Tumoren ist das Lhermitte-Zeichen eine häufig vorkommende, meist reversible demyelinisierende Reaktion, die sich einige Monate nach Beendigung der Behandlung entwickelt und Monate bis länger als ein Jahr anhält. Es kann bei Dosierungen ab 35 Gy in 2‑Gy-Fraktionen auftreten, somit deutlich unter der Toleranz für die Strahlenmyelopathie, wenn lange Rückenmarkssegmente bestrahlt werden. Es besteht kein Zusammenhang mit der späteren Entwicklung einer Myelopathie.

Wie im Gehirn umfasst auch die späte Myelopathie (bis zur Querschnittslähmung) 2 Hauptsyndrome. Eine Demyelinisierung und Nekrose der weißen Substanztritt meist nach 6–18 Monaten auf. Der zweite Symptomenkomplex, mit einer Latenz von gewöhnlich 1 bis >4 Jahren, beruht hauptsächlich auf vaskulären Veränderungen.

Herz und große Gefäße

Die häufigste späte Strahlenfolge am Herzen ist eine Perikarditis mit unterschiedlich ausgeprägtem Perikarderguss. Diese beginnt relativ früh (6 Monate bis 2 Jahre). Sie ist meist asymptomatisch und heilt spontan bei der Mehrzahl der Patienten.

Strahlenspätfolgen am Herzen treten nach sehr langen Latenzzeiten auf

Die strahleninduzierte Kardiomyopathie tritt entweder als verminderter ventrikulärer Ausstoß oder als Leitungsblock auf; sie entsteht langsam über einen Zeitraum von 10–20 Jahren. Aktuelle Schätzungen von Dosen, die eine 50%ige Komplikationswahrscheinlichkeit ergeben, liegen bei 50 Gy in 2‑Gy-Fraktionen [5, 21]. Ein erhöhtes Risiko für eine ischämische Herzerkrankung wird nach mehr als 10 Jahren beobachtet.

Histopathologisch ist eine Spätschädigung des Myokards vorwiegend durch eine diffuse interstitielle und perivaskuläre Fibrose und Kardiomyozytenverlust charakterisiert. Vaskuläre Strahleneffekte tragen auch signifikant zum Myokardinfarkt nach Strahlenexposition des Herzens bei. Die (molekulare) Pathophysiologie dieser Effekte ist derzeit unklar.

In großen Blutgefäßen kann die Bestrahlung mit Dosen über 8 Gy Atherosklerose auslösen oder fördern.

Auge

In der Augenlinse wird bereits nach sehr niedrigen Strahlendosen – bei fraktionierter Bestrahlung im Bereich weniger Gy und bei einmaliger Exposition deutlich unter 1 Gy – eine Degeneration proliferierender Epithelzellen in der Äquatorzone beobachtet [5]. Schließlich entsteht eine subkapsuläre Strahlenkatarakt. Die Latenzzeiten liegen im Bereich von 6 Monaten bis zu mehreren Jahrzehnten. Anzumerken ist, dass Katarakte heute mit modernen Operationstechniken gut behandelt werden können.

Späte Effekte in den Tränendrüsen (Funktionsverlust) haben die Ausbildung eines „trockenen Auges“ zur Folge. Bereits nach moderaten Strahlendosen können diese zu chronischen Korneaulzerationen und letztendlich zum Verlust des Auges führen.

Strahlenassoziierte Tumoren

Für solide Sekundärtumoren nach Strahlentherapie kann die Latenz bis zu mehreren Jahrzehnten betragen [27]. Die aus der Strahlenempfindlichkeit der Allgemeinbevölkerung gegenüber homogener Ganzkörperexposition resultierenden Risikoschätzungen sind signifikant höher als die aus den epidemiologischen Studien resultierenden Werte [22, 24]. Der Grund hierfür liegt u. a. in Dosisinhomogenitäten im Körper und innerhalb einzelner Organe [17]. Derartige Inhomogenitäten verringern die Wahrscheinlichkeit einer Krebsinduktion signifikant.

Verschiedene Aspekte des Risikos für Zweitkrebserkrankungen nach Heilung eines ersten Tumors wurden von Trott und Dörr ausführlich diskutiert [24]. Hier können das Alter der Krebsüberlebenden, die fortgesetzte Exposition mit Karzinogenen und der genetische Hintergrund sowie andere Behandlungsmodalitäten (Chemotherapie) eine Rolle spielen.

Ein besserer Ansatz besteht darin, das Risiko von Zweitmalignomen durch Vergleich ihrer Häufigkeit in Patientenkohorten nach Behandlungen ohne (nur Operation) oder mit Strahlentherapie zu bestimmen. Voraussetzung ist aber, dass der Primärtumor eine hohe Frequenz und eine gute Prognose hat, die für beide Behandlungsmodalitäten ähnlich sind. Darüber hinaus sollte die Therapieentscheidung unabhängig von Faktoren sein, die Krebsrisiken betreffen. Diese Voraussetzungen werden weitgehend bei Gebärmutterhals- und Prostatamalignomen erfüllt. Zudem kann die Lokalisation des Sekundärtumors in Bezug auf diejenige des Primärmalignoms in symmetrischen Organen analysiert werden, insbesondere für primären Brust- und sekundären Lungenkrebs [22, 24].

Mechanismen der Tumorinduktion

Die klassische Form der Tumorinduktion durch Strahlentherapie ist die maligne Transformation einzelner Zellen. Bei Prostatatumoren [3] traten jedoch fast 50 % der Zweitmalignome in den hohen Dosisvolumina (Harnblase, Rektum) auf. Ähnliches wurde für andere Tumorentitäten berichtet [26]. Wahrscheinlich liegt in diesen Regionen ein völlig anderer Mechanismus der Krebsinduktion vor [8, 24]: Hohe Strahlendosen führen häufig zu einer chronischen hyperproliferativen Gewebsreaktion mit progressiver Parenchymatrophie, mikrovaskulären Veränderungen, chronischer Fibrose und chronischen Entzündungen, die in ihrer Kombination präkanzeröse Läsionen darstellen.

Strahleninduzierte Sekundärtumoren manifestieren sich erst nach vielen Jahren bis Jahrzehnten. Das Risiko für radiogene Zweitkarzinome liegt nach radikaler Strahlentherapie bei den meisten Krebserkrankungen bei Erwachsenen bei sehr wenigen Prozent [24]. Für die Strahlentherapie maligner Erkrankungen im Kindesalter müssen diese Schätzungen erst definiert werden [8, 24]. Im Gegensatz zum Sekundärtumorrisiko ist die Wahrscheinlichkeit einer (sehr) frühen Mortalität aufgrund fehlender Kontrolle des Primärtumors für die meisten Tumorentitäten wesentlich höher. In Anbetracht der negativen Auswirkungen einer suboptimalen Therapie rechtfertigt die Möglichkeit einer signifikanten Verlängerung der Überlebenszeit bzw. Heilung des Primärtumors eindeutig die Strahlenanwendung [8].

Fazit für die Praxis

  • Strahlenspätfolgen sind Indikatoren für eine optimale Therapie.

  • Ein geringes Risiko muss akzeptiert werden.

  • Die Pathogenese ist komplex und schließt neben dem Organparenchym das Gefäßsystem und Bidegewebsanteile ein.

  • Das Immunsystem (Makrophagen) trägt zum Geschehen bei.

  • Latenzzeiten sind invers dosisabhängig, mit Konsequenzen für die Nachbeobachtungszeit.

  • Bei Teilorganexposition definiert die Struktur des Organs die klinischen Konsequenzen.

  • Das Risiko für strahleninduzierte Sekundärtumoren liegt im Bereich weniger Prozent.