Informations- und Kommunikationsort: Die Funktion von Gaststätten „als Orte, an denen private und öffentliche Nachrichten verbreitet werden […], nimmt allerdings ab, da andere Möglichkeiten zur Informationsübermittlung (u. a. Internet, Social Media) entstanden sind“ (Franz 2020, S. 96). In Dreis-Brück scheint es genau diese Funktion zu sein, die besonders vermisst wird und die zur oben erwähnten Arbeitsgruppe Kommunikation führte. So bezeichnet ein Bewohner die weggefallenen Kneipen als „die absolute Informationsbörse“. Ein anderer bemängelt die Kommunikation im Dorf, „weil, diese Kommunikationsorte, die wir bis dato hatten, Kneipen, Restaurants, die sind ja immer weiter weggebrochen […] Da ist jetzt auch die Dorfapp so ein bisschen in die Bresche gesprungen und hat die Lücke auch so ein bisschen aufgefüllt.“ Als digitaler Kommunikationsraum soll die App „eine einfache Möglichkeit [bieten], zwanglos irgendwo Informationen auszutauschen“, betont einer der Engagierten.
Die Dorfapp befördert so die „Kommunikation als einen (zweckrationalen) Austausch von Informationen“ (Fiehler 1990, S. 107) und erfüllt somit teilweise die von den Bewohnerinnen und Bewohnern gewünschte Funktion des Kommunikationsraumes. Jüngere Vorstellungen zur kommunikativen Konstruktion von Räumen (Christmann 2016) aber verstehen Kommunikation immer auch als kommunikatives Handeln, also aufeinander bezogenes Handeln mittels unterschiedlicher Zeichen (Keller et al. 2013). Dass ein solches Verständnis von Kommunikation nicht nur theoretisch ist, zeigt beispielhaft die Aussage einer aktiven Nutzerin: „[Die App] wird nach wie vor ja überwiegend eher als Informationsplattform benutzt, für Bekanntmachungen […] und weniger in der Interaktion, also in der Kommunikation miteinander. […] manches oder vieles bleibt halt auch so unkommentiert“. Der Wunsch nach mehr Austausch über die App deckt sich mit der Einschätzung eines Engagierten, wonach bisher nur 68 Nutzerinnen und Nutzer einen Eintrag kommentiert hätten. Er wünscht sich, „dass da noch ein regerer Austausch stattfinden könnte“.
Treffpunkt: In der Kneipe „hat man Karten miteinander gespielt, da hat man mal einen über den Durst getrunken. Das wurden ja ganz tolle Erlebnisse […] und diese Kultur kriegst du natürlich auf die Schnelle mit so einem digitalen Medium nicht mehr aufgebaut“, ist sich einer der Engagierten sicher. Physische Treffpunkte mit ihrem Geruch, ihrer Atmosphäre und Lautstärke, aber auch in der Unverbindlichkeit und Zufälligkeit sozialer Beziehungen kann die Dorfapp am wenigsten ersetzen. Es fehlen der „Raum der Kneipenöffentlichkeit“ (Dröge und Krämer-Badoni 1987, S. 209) und die „hohe sozialisierende Kraft des Conviviums“ (Matthiesen 2005, S. 10), welche durch gemeinsames Essen und Trinken entsteht. Auch mit Dorfapp braucht es Treffpunkte, um digitale und analoge Kommunikation zusammenzuführen.
Ort der Entspannung: Geht es um die Kneipe als Ort der Entspannung, wird oft auf gemeinsames Spielen verwiesen, wie auch im obigen Zitat. Dies ist theoretisch digital möglich, wenn auch nicht über die Dorfapp. Interessanter ist der Hinweis auf eine besondere Form der Entspannung: schweigend am Tresen ein Bier trinken, lesen, nachdenken oder einfach nur das Geschehen beobachten (Dröge und Krämer-Badoni 1987, S. 208). Hier zeigt sich eine klare Fehlstelle der Dorfapp und anderer digitaler Kommunikationsmittel: Gehören Kneipengäste auch ohne aktives Einmischen in Gespräche oder Spiele dazu, so geschieht das schweigende Mitlesen – vielleicht sogar zur Entspannung mit einem Bier auf dem Sofa – der Dorfapp unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Ankunftsort: Durch ihre Wirkung in den öffentlichen Raum werden Kneipen zu Ankunftsorten für Fremde. Ist die Dorfapp auch Fremden bekannt und zugänglich, kann sie einen digitalen Ankunftspunkt bieten, wie die Autorin erleben durfte. Vor dem zweiten Forschungsaufenthalt in Dreis-Brück war in der Dorfapp zu lesen, dass am Tag der Ankunft eine Feier im Dorftreff stattfand. So ergab sich die Möglichkeit, informell das Forschungsprojekt vorzustellen und in den Alltag der Dorfgemeinschaft einzutauchen. Erneut zeigt sich die Bedeutung der Verknüpfung digitaler Räume und analoger Orte: Der digitale Raum kann dazu führen, dass ein persönliches Kennenlernen am analogen Ort überhaupt stattfindet. Oder wie es ein Dorfbewohner beschreibt: „Also dieses Medium soll nicht den Kontakt an sich auf die digitale Ebene bringen, sondern soll einfach nur mal ein Anstoß sein, dass man normal miteinander redet.“
Emotions- und Erinnerungsraum mit Kontrollfunktion: Die Funktion der Kneipe „als Bündelung emotionaler und edukativer Aspekte“ (Hopfinger et al. 2013, S. 14), kann die Dorfapp ebenfalls nicht ersetzen. Eine Kontrollfunktion besteht einzig hinsichtlich der verbalen Äußerungen durch das mögliche Eingreifen von Moderatorinnen und Moderatoren in die Posts der App. Dass dies im ersten Jahr nur einmal notwendig war, zeigt jedoch, dass die Hemmschwelle innerhalb der Dorfapp recht hoch sein dürfte. Im Gegensatz zur Kneipe spielt Alkoholkonsum selbstredend keine unmittelbare Rolle und auch als Emotionsraum fungiert die Dorfapp nicht. Wird die Kneipe jedoch weniger als Affektnische und mehr als Teil des kulturellen Gedächtnisses verstanden (vgl. Reinhardt 2006), ist bisher noch offen, ob sich nicht über die Dorfapp eine Art kommunikatives Gedächtnis (Knoblauch 1999) des Dorfes etablieren kann. Über die in der App geposteten Informationen wird durchaus geredet, man frage sich untereinander: „Hast du gelesen, da und da?“ Mitunter kann die Dorfapp über die Zeit zu einem Speicher der Geschichte des Dorfes werden und damit das kommunikative Gedächtnis befördern.