Einleitung

Viele junge Erwachsene stellen sich heutzutage die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für die Gründung einer Familie. Die enge Taktung moderner Biografien zwischen Ausbildung und beruflicher Absicherung, individueller Selbstentfaltung, Partnerschaft oder Elternschaft erzeugt lebenszeitlichen Entscheidungsdruck. Dies gilt insbesondere für die Fortpflanzung, die gemäß weit verbreiteter gesellschaftlicher Erwartungen innerhalb eines vergleichsweise kurzen biografischen Zeitfensters erfolgen sollte: nicht zu früh, aber möglichst auch nicht zu spät. Im Rahmen dieses gesellschaftlichen Erwartungshorizonts können die Angebote moderner medizinischer Reproduktionstechnologien auch als eine Möglichkeit wahrgenommen werden, Fortpflanzung so weit wie möglich zu planen, steuern und zeitlich zu optimieren (vgl. Myers und Martin 2021; Martin 2017; Waldby 2015; Romain 2011). Dies gilt auf der einen Seite für jene Angebote der Reproduktionsmedizin, die die reproduktive Spanne im Lebenslauf zu vergrößern erlauben, wie die künstliche Befruchtung und die Kryokonservierung eigener Keimzellen sowie die Spende von Keimzellen Dritter. Auch medizinische Maßnahmen der Empfängnisverhütung müssen dazu gezählt werden, weil sie es auf der anderen Seite möglich machen, eine frühzeitige – und damit ggf. „unzeitige“ und gesellschaftlich nicht erwünschte – oder überhaupt Fortpflanzung im Lebenslauf zu verhindern.

Entscheidungen für oder gegen das Angebot und die Nutzung solcher Technologien werden in der Ethik üblicherweise im Rahmen moralphilosophischer Analysen der Rechte und Interessen der jeweils beteiligten und betroffenen Personen verhandelt (Goold und Savulescu 2009; DeGrazia 2012; Karnein 2013). Weniger Beachtung findet, dass sich solche Entscheidungen vor dem Hintergrund von verbreiteten normativen Vorstellungen guten Lebens vollziehen, die noch genauer zu untersuchen sind. Vorstellungen guten Lebens sind in der Regel zeitlicher Natur, d. h. sie teilen das Leben in angemessene Phasen oder Abschnitte ein; sie geben vor, wann im Rahmen einer individuellen Biografie welche Möglichkeiten realisiert oder Entwicklungsschritte genommen werden sollen. Vorstellungen von zeitlich angemessener, also etwa „nicht zu früher“ und „nicht zu später“ Elternschaft, sind Ausdruck solcher gesellschaftlich akzeptierter, nicht selten stereotyper Vorstellungen guten Lebens und finden ihren Niederschlag auch in den ethischen und rechtlichen Regularien der Fortpflanzungsmedizin. Zugleich sind solche Zeitnormen geprägt von sich verändernden gesellschaftlichen Temporalverhältnissen sowie von lebenszeitlichen Effizienz- und Optimierungsanforderungen, deren individuelle Folgen mit einzubeziehen sind.

Im Beitrag wollen wir verschiedene Zusammenhänge von Fortpflanzung, Zeit und gutem Leben näher beleuchten. Wir untersuchen zunächst die Bedeutung von Zeit für Lebenslauf und Reproduktion und neue Relationen von Erweiterungs- und Begrenzungserfahrungen aus einer soziologisch-sozialpsychologischen Perspektive. Fortpflanzungsmedizin kann die Spielräume für Elternwerden und für lebenszeitliche Autonomie vergrößern, aber im Kontext gesellschaftlicher Optimierungs- und Effizienzimperative auch Heteronomie bei der Gestaltung von Reproduktion steigern. Reproduktives Timing auf Basis von Fortpflanzungstechnologien kann Ausdruck von Selbstbestimmung, aber auch eine neue Form von Anpassung an soziale Normen, Effizienz- und Optimierungsdruck sein. Vor diesem Hintergrund erläutern wir, wie die Ethik der Reproduktionsmedizin von einer interdisziplinären, das Leben in seinem zeitlichen Verlauf in den Blick nehmenden biografischen Forschung profitieren könnte, und skizzieren Forschungsansätze, die diese Veränderungen in den Blick nehmen.

Die zeitliche Planung und Optimierung von Fortpflanzung

Zeitliche Normen prägen den gesellschaftlichen Umgang mit der menschlichen Fortpflanzung, wobei sich normative Erwartungen und darauf basierende leistungsrechtliche Regularien hinsichtlich der Planung von Elternschaft nach wie vor insbesondere an (heterosexuelle) Frauen richten.Footnote 1 In Deutschland werden z. B. Verhütungsmittel für junge Frauen bis zum 22. Lebensjahr von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt, womit die Vorstellung verbunden zu sein scheint, dass eine Familiengründung erst ab diesem Alter eigenverantwortlich realisiert werden sollte. Ebenso wie der Beginn unterliegt auch das Ende der Fortpflanzungsphase von Frauen gesellschaftlichen Erwartungen. So wird die künstliche Befruchtung bei Frauen nur bis zum 40. Lebensjahr von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert. Nachvollziehbare Gründe für eine solche Altersgrenze sind zwar die Risikozunahme bei gleichzeitiger Abnahme der Erfolgswahrscheinlichkeit, diese allein reichen aber – wie die Nationale Akademie der Wissenschaften in einer Stellungnahme kürzlich argumentierte – nicht aus, um eine solche vergleichsweise strikte pauschale Altersgrenze zu rechtfertigen (Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina et al. 2019). Denn weder sinkt die Erfolgswahrscheinlichkeit von In-Vitro-Fertilisation (IVF) mit Erreichen des 40. Lebensjahrs auf null, noch steigen die Schwangerschaftsrisiken mit dem Alter über 40 dramatisch an, wie etwa Cleary-Goldman et al. (2005, S. 989) bereits vor einigen Jahren betonten: „Although the likelihood of adverse outcomes increases along with maternal age, patients and obstetric care providers can be reassured that overall maternal and fetal outcomes are favorable in this patient population.“ Entsprechend erscheinen derartige im Sozialgesetz festgelegte Altersgrenzen für Frauen vor allem von zeitlichen Erwartungen an angemessene Lebensphasen, Alters- und Generationenverhältnisse geprägt (Rimon-Zarfaty und Schweda 2019).

Nicht zuletzt ist auch das Handeln der Nutzerinnen und Nutzer dieser Technologien selbst gekennzeichnet von solchen impliziten oder expliziten normativen Setzungen und Erwartungen von angemessener Zeitlichkeit. Unter den gegebenen Bedingungen können Planung und Steuerung von Fortpflanzung aus individueller Sicht als ein normaler oder gar gebotener Weg erscheinen, um ein gutes Leben zu realisieren. Die Technologien eröffnen zum einen neue Möglichkeiten, zum anderen schaffen sie neue Begrenzungen, können daher entsprechende Dilemmata generieren: Beispielsweise bietet die Technik der Kryokonservierung der eigenen Eizellen zwar die Chance, das Alter der Fortpflanzung nach hinten zu verschieben, und entlastet die Frau damit von späterem Entscheidungsdruck. Zugleich erhöht sich aber der Druck, möglichst früh im Leben über die Entnahme der Eizellen zu entscheiden, insofern jüngere Eizellen später eine größere Chance auf Fruchtbarkeit bieten. Damit verbundene Konflikte sowie Ambivalenzen (Lüscher und Fischer 2014) werden in ihrer ganzen Bedeutung erst erfassbar – so unsere Ausgangsthese –, wenn sie vor dem Hintergrund von Erwartungen an Individualbiografien und in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Vorstellungen guten Lebens in der Zeit verstanden und interpretiert werden.

Die Bedeutung von Zeit für Lebenslauf und Fortpflanzung aus soziologisch-sozialpsychologischer Perspektive

Die Gestaltung des Lebenslaufs, von Fortpflanzung und Elternschaft sind in vielfältiger Weise mit Vorstellungen von Zeitlichkeit verknüpft. Soziologisch betrachtet stellt Zeit zunächst eine regulative Dimension von Lebensverläufen dar, wie sie etwa Kohli (1986) in Hinblick auf die temporalen institutionellen Gestaltungen und kulturellen Normierungen von Lebensphasen und -abschnitten in der Moderne beschrieben hat. In der Gegenwart scheinen Biografie und Lebensführung dabei zunehmend einer zeitlichen Dynamisierung und Beschleunigung sozialer Praxis unterworfen zu sein, die mit neuen Anforderungen an Effektivitätssteigerung und Optimierung des Umgangs mit der Zeit verbunden sind (Rosa 2005). Weil ökonomische Absicherung und soziale Teilhabe immer mehr durch eine erfolgreiche Positionierung auf dem Arbeitsmarkt errungen werden müssen, sind Individuen dazu angehalten, sich kurzfristig und flexibel an sich ständig ändernde Bedingungen und Anforderungen anzupassen und Effizienz zu erhöhen. Steigerungs- und Wettbewerbsdruck wirken sich zudem darauf aus, wie Anforderungen und Übergänge im Lebenslauf bewältigt werden. Um erfolgreich zu sein, müssen berufliche und private Entscheidungen auch in zeitlicher Hinsicht möglichst passgenau abgewogen werden, zumal Risiko und Verantwortung individuell zu tragen sind (Bröckling 2021; Reckwitz 2017). Die Wahl des biografischen Zeitpunkts des Elternwerdens ist ebenfalls vielfach von Optimierungsanforderungen in verschiedenen Lebensbereichen geprägt, die wiederum mit soziökonomischen Bedingungen, kulturellen Normen und individuellen Orientierungen verwoben sind (Schadler 2013; Düntgen und Diewald 2008; Helfferich 2008).

Eine wesentliche Herausforderung besteht überdies darin, dass die Logik der Optimierung und Effizienzsteigerung in einem Spannungsverhältnis steht zur Zeit als einer konstitutiven Dimension generationaler Beziehungen (King 2021, 2010; Cornelißen 2019; Bertram 2012). Zeit ist eine notwendige Ressource auch in generationalen und familialen Sorgebeziehungen, insofern die Entwicklung von Bindung und Autonomie der Erfahrungen von zeitlicher Stabilität und Verlässlichkeit bedarf. Optimierungsimperative, so zeigen aktuelle Studien, beschränken sich jedoch nicht mehr auf den Arbeitsmarkt, sondern wirken sich in zunehmendem Maße auf die zeitliche Gestaltung von Familien‑, Paar- und Eltern-Kind-Beziehungen aus (Rehmann-Sutter 2009; Heitkötter 2009; Jurczyk et al. 2009; King und Busch 2012; King 2015). Wo Vereinbarkeitsdilemmata von Beruf und Familie sowie Zeitdruck zunehmen, (Fürsorge‑)Beziehungen nach dem Muster der Effizienz und instrumentellen Zeitverwendung gestaltet werden oder Elternschaft eher Projektcharakter annimmt, kann indes die Qualität der Beziehungen beeinträchtigt werden (Hochschild 2006; King et al. 2021).

Insgesamt zeigt sich, dass Elternschaft und Fortpflanzung eingebettet sind in gesellschaftliche Zeitverhältnisse, die teils konflikthafte Normierungen und Praktiken der Zeitplanung und Zeitoptimierung generieren, sodass individuell hohe Anforderungen an lebensgeschichtliche Zeitgestaltung wirksam werden. Bezogen auf reproduktives Timing geht es dann darum, unter gesundheitlichen, sozialen und nicht zuletzt ethischen Gesichtspunkten den „richtigen“ Zeitpunkt für die Fortpflanzung zu finden. Insofern scheinen reproduktionstechnologische Entwicklungen auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren und zugleich Möglichkeiten bereitzustellen, die mit den zeitlichen Zuspitzungen verbundenen psychosozialen Anforderungen zu bewältigen. Zugleich tragen sie ihrerseits zu einem Wandel kultureller, institutioneller und normativer Vorstellungen von Zeitlichkeit und Elternschaft bei. Und obgleich sie die Lösung individueller Probleme zu versprechen scheinen, können sie neue Normen für die zeitliche Planung und Steuerung von Lebenslauf und Reproduktion hervorbringen. Reproduktives Timing ist in diesem Sinne auf ambivalente Weise geprägt durch veränderte Erfahrungen von Heteronomie und Autonomie, neue Qualitäten des Gelingens und Misslingens sowie Erweiterungs- und Begrenzungspotenziale. Diese schaffen praktisch und normativ neue Herausforderungen.

Zwischen Erweiterung und Begrenzung: Elternschaft durch Reproduktionsmedizin

„Früher haben die Leute halt ihren Job gemacht, ihren Beruf gemacht und irgendwann hat man beschlossen als junges gemeinsames Paar, ich werde schwanger und lass alles an Verhütungstechnik weg. Und das hat dann irgendwann funktioniert oder eben auch nicht. Und heute ist es so, dass man sagt, ich kann es ja für mich entscheiden, wann ich will. Und dieses ‚ich wollen‘ bezieht sich gar nicht mehr so drauf, wann ist so der optimale – oder vielleicht ist es sogar der überoptimale Zeitpunkt, den man sucht, so muss man es sagen.“ (Dr. R., Gynäkologin)Footnote 2

Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen bieten sich reproduktionsmedizinische Technologien zunächst als Möglichkeiten an, Lebens- und Karriereplanung zu flexibilisieren, Geschlechterrollen und Familienmodelle vielfältiger zu gestalten und biografische Handlungsspielräume zu erweitern. Mit ihnen wird es teilweise leichter, auf äußere Erwartungen und Bedingungen zu reagieren, Unsicherheiten und Ungewissheiten abzufedern, Reproduktion und Lebensläufe aktiver zu gestalten: eben zu „entscheiden, wann ich will“, wie es die eingangs zitierte Gynäkologin formuliert. Dabei scheint die Fortpflanzungsmedizin zugleich auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen und kulturelle Ansprüche zu reagieren – wird die Entscheidung zur Elternschaft doch zunehmend auch an eine äußere Absicherung geknüpft, etwa in beruflicher und ökonomischer Hinsicht, durch Haus- oder Wohnungseigentum sowie eine stabile Partnerschaft (Bodin et al. 2021). Währenddessen haben sich Erwerbsbiografien und -verhältnisse derart verändert, dass das Erreichen jener Voraussetzungen zunehmend unsicherer wird oder sich erst zu einem späten Zeitpunkt im Leben realisieren lässt. Reproduktionstechnologien können dann als Chance erscheinen, die Zeitkonflikte zwischen Beruflichem und Privatem zu lösen, indem das Erreichen der beruflichen Ziele der Sorge für die Nachkommen vorgeschaltet wird, womit sich auch die (ökonomische) Planbarkeit des Elternwerdens zu verbessern scheint (Inhorn und Patrizio 2015; Goold und Savulescu 2009). Zudem können sie von der Hoffnung getragen sein, den mit Elternschaft verbundenen normativen Anforderungen in Zukunft eher gewachsen zu sein (Baldwin 2017). In der Kryokonservierung etwa sehen alleinstehende Frauen eine Möglichkeit, ihren Wunsch nach „guter Elternschaft“ – und das heißt für viele in einer festen Partnerschaft – in Zukunft noch erfüllen zu können (Baldwin 2018; Baldwin et al. 2019).

Unter anderem wegen ihrer zeitlichen Steuerungsmöglichkeiten werden Technologien der Fortpflanzungsmedizin dabei außerdem in Hinblick auf ihre die reproduktive Autonomie vergrößernden, emanzipatorischen Potenziale beleuchtet (Bernstein und Wiesemann 2014), etwa in dem Sinne, dass traditionell als begrenzt erlebte Lebensphasen verschoben werden können (Weber-Guskar 2018). Die durch neuere Methoden der Reproduktionsmedizin ermöglichte Auflösung der Verbindung von Sexualität und Fortpflanzung wird zudem in Zusammenhang gebracht mit einem Wandel der normativen Vorstellungen von Geschlecht und Reproduktion sowie von Familien- und Verwandtschaftsverhältnissen (Knecht et al. 2011; Franklin 1997). Insofern wird Fortpflanzungsmedizin nicht zuletzt auch als Instrument zur Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit diskutiert und mit Empowerment und Selbstermächtigung für Frauen verknüpft (Baldwin 2019a; Inhorn 2017; Göçmen und Kılıç 2018).Footnote 3 Inhorn et al. (2021, S. 59) bezeichnen Kryokonservierung gar als eine „technology of repair“; sie zielen darauf ab, dass Frauen durch „social freezing“ ihre Unabhängigkeit und Kontrolle über Elternschaft zu behalten versuchen, auch wenn die Lebensumstände dies zu bestimmten Zeiten nicht ermöglichen. Insgesamt fungieren Angebote der Fortpflanzungsmedizin aus dieser Sicht als Formen einer Ermächtigung über den eigenen Körper und die damit verbundenen biologischen Limitierungen.

Demgegenüber wird zu bedenken gegeben, dass die Möglichkeiten des medizinischen Zugriffs den Blick insbesondere auf den weiblichen Körper, körperliches Erleben und Erwartungen zum angemessenen Umgang mit körperlichen Alterungsprozessen verändern können (Hurley 2020). Studien zeigen auf, wie gerade im Kontext reproduktionsmedizinischer Praktiken und biomedizinischen Wissens der weibliche Körper oder Bereiche des Körpers als Quelle zukünftigen Risikos und Verlusts erlebt werden können (Majumdar 2021; Feiler 2020). In diesem Sinne seien reproduktionsmedizinische Angebote auch mit der Aufforderung verbunden, antizipierend mit Zukunft umzugehen (Sänger 2015), womit die aktive Absicherung von „best possible futures“ als moralische Pflicht erscheine (Adams et al. 2009, S. 256). Solche Responsibilisierungen beziehen sich nahezu ausschließlich auf Frauen (Baldwin 2019b).

Insofern können reproduktionsmedizinische Möglichkeiten neue Formen von Heteronomie begünstigen: beispielsweise, wenn aus der Option zur Inanspruchnahme fortpflanzungsmedizinischer Angebote die Erwartung resultiert, sie auch zu nutzen, um Vereinbarkeitsprobleme zu lösen und Unsicherheiten zu minimieren, wie Robertson (2014, S. 122) im Zusammenhang mit Kryokonservierungen resümiert: „Rather than ‚you may choose to freeze‘ some might read the message sent as ‚you must freeze‘ for the sake of workplace and career efficiency“. Die Möglichkeit, die Menopause technisch zu umgehen, könne dann zu einer impliziten Norm guten Lebens für Frauen avancieren, ähnlich der Einnahme der Pille zum Zweck der Empfängnisverhütung (Bozzaro 2012). Angebote der Reproduktionsmedizin könnten vor dem Hintergrund der ausgeführten gesellschaftlich-kulturellen Optimierungsimperative zu einem vorwiegend instrumentellen Umgang mit Schwangerschaft und Geburt beitragen (King et al. 2021; Neiterman und LeBlanc 2018; Budds et al. 2016) – beispielweise im Sinne eines Mittels der Selbstoptimierung (Schmidhuber 2015) oder der Schwangerschaft als eines Optimierungsprojekts (Hager und Grießler 2012; Gordo 2009; Friese et al. 2008), wie sich dies in der von Golusin (2016, S. 176) identifizierten „Rhetorik des Erfolgs“ von Müttern nach reproduktionsmedizinischen Interventionen manifestiert. Die destruktiven Nebenfolgen dieser Entwicklungen deuten sich indessen gerade da an, wo die Behandlungen nicht erfolgreich sind und eine Schwangerschaft nicht eintritt: Studien verweisen in diesem Zusammenhang etwa auf einen Zirkel von Enttäuschung und erneuten Behandlungsversuchen, aus dem betroffene Patientinnen und Patienten trotz des hohen Leidensdrucks oft nicht austreten könnten (Carson et al. 2021; Franklin 1997).

Zeitlichkeit und Reproduktionsmedizin – neue Ambivalenzen

„Das ist so eine Verschiebung der Wichtigkeiten im Leben, würde ich eher sagen. Also das Wichtigste ist nicht mehr, ich kriege ein Kind und dann versuche ich alle Rahmenbedingungen für dieses Kind zu schaffen, damit es diesem wirtschaftlich auch gut geht, keine Frage, und die Liebe im Vordergrund steht, sondern ich schaffe erstmal die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und dann fange ich an, mich mit einem Kind – Kinderwunsch auseinanderzusetzen. Das würde ich heute sagen ist eben anders geworden.“ (Dr. R., Gynäkologin)

Angebote der Fortpflanzungsmedizin, lebenspraktische Orientierungen und normative Konzeptionen guten Lebens, so die zentrale These dieses Artikels, beeinflussen sich wechselseitig, wobei der Zeit eine wesentliche Bedeutung zukommt. Individuelle Formen der Lebensführung sind an einem normativen Anspruch zur biografischen Selbstverwirklichung und zeitlich-autonomen Gestaltung des Lebens ausgerichtet; entsprechende Ansprüche wirken sich auch auf die Entwicklung und das Selbstverständnis von Fortpflanzungsmedizin aus. Zugleich scheinen Reproduktionstechnologien ihrerseits in Aussicht stellen zu können, biografische Optionen zu erweitern und Lebensverläufe in temporaler Hinsicht aktiver zu gestalten, womit sie sich auch auf Konzeptionen guten Lebens auswirken.

Gemeinsam ist den Versprechen der Fortpflanzungsmedizin, wie sie von den medizinischen Akteuren hervorgebracht werden, und den von den Individuen an sie herangetragenen Wünschen und Hoffnungen dabei die Vorstellung, mit Zeit im Sinne einer kontrollierbaren und steuerbaren Ressource umzugehen – Zeitfenster zu erweitern, zeitliche Prozesse und Entwicklungen zu beschleunigen, zu unterbrechen oder gar anzuhalten. Insgesamt scheinen reproduktionsmedizinische Praktiken dabei in hohem Maße anschlussfähig an eine selbstverantwortete, effiziente Zeitverwendung sowie Steigerung und Verfügbarmachung von Lebensoptionen.

Zugleich steht die durch fortpflanzungsmedizinische Angebote begünstigte rational-instrumentelle Logik im Umgang mit Zeit in einem Spannungsverhältnis zur fundamentalen Bedeutung von Stabilität und Dauer für die individuelle Entwicklung und zur Gabe von Zeit als qualitativer Basis generationaler Beziehungen (King 2010). Überforderung und Erschöpfung, Unbehagen und moralische Bedenken scheinen sich schließlich gerade auch da anzudeuten, wo der Druck zu Rationalisierung, Effizienzsteigerung und optimiertem Timing im Bereich Schwangerschaft und Reproduktion verstärkt wird (King et al. 2021).Footnote 4

Entsprechend ist Fortpflanzungsmedizin zum einen Ausdruck von Verschiebungen im Verständnis von zeitlichen Begrenzungen, von Endlichkeit, Nichtplanbarkeit und Unverfügbarkeit, die wesentlich auch Vorstellungen des „guten Lebens“ in der Zeit berühren. Zum anderen trägt sie zu weiteren Veränderungen bei, verbunden mit neuen Potenzialen von Heteronomie und Autonomie. Neue Ambivalenzen ergeben sich aus den Spannungen zwischen möglicher Anpassung an soziale Normen einerseits und produktivem, autonomieorientiertem Eigensinn andererseits, zwischen Optimierungsbestreben und Anerkennung von Begrenztheit. Und sie wirft Fragen auf nach jenen Umschlagstellen, an denen biografisches „Timing“ und die Vergrößerung von ZeitsouveränitätFootnote 5 kippen können in destruktive, mitunter als leidvoll erlebte Umgangsweisen.

Nicht zuletzt haben diese Verschiebungen und die mit ihnen verbundenen Konflikte und Widersprüche auch Auswirkungen auf die medizinische Praxis: etwa dann, wenn Gynäkolog*innen und Reproduktionsmediziner*innen mit den lebenspraktischen Anforderungen und individuellen Bedürfnissen der Patient*innen konfrontiert sind, die zudem im Verhältnis zu medizinethischen Ansprüchen und normativen Konzeptionen guten Lebens abgewogen werden müssen. Von zentraler Bedeutung ist es daher auch zu verstehen, wie die mit den Angeboten der Fortpflanzungsmedizin verbundenen Möglichkeiten und Begrenzungen von Mediziner*innen verstanden werden und welche neuartigen, etwa kommunikativen Herausforderungen sich für sie stellen.

Zur Ethik der Fortpflanzungsmedizin aus lebenszeitlicher Perspektive

Angebote der Fortpflanzungsmedizin und Konzeptionen des guten Lebens in der Zeit – so konnten wir zeigen – beeinflussen einander wechselseitig. Implizite oder explizite normative Setzungen bzw. Erwartungen von angemessener Zeitlichkeit, Lebensphasen oder Altersstufen prägen dabei sowohl das Handeln der Reproduktionsmedizinerinnen und -mediziner als auch der Nutzerinnen und Nutzer. Ethische Entscheidungen vollziehen sich vor dem Hintergrund entsprechender individueller und gesellschaftlicher Erwartungshaltungen. Das erzeugt neue Formen und Ambivalenzen zeitlicher Planung. Steuerung und Optimierung von Fortpflanzung werden sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene thematisiert. Die ethische Analyse sollte auf diese Ambivalenzen eingehen.

Aus einer Perspektive des guten Lebens in der Zeit wird zunächst deutlich, wie wichtig es ist, alle Technologien, die es erlauben und sogar nahezulegen scheinen, lebensgeschichtliche Abläufe der Fortpflanzung zu planen und optimieren, als einander ergänzende, sich gelegentlich potenzierende Praktiken zu betrachten. Ein solches weites Verständnis von Reproduktionsmedizin legt es etwa nahe, Techniken wie die Antikonzeption und das Social Freezing, die als Themen der Medizinethik in der Regel gesondert behandelt werden, als sich wechselseitig bedingend zu untersuchen. Das ermöglicht es, die den Handlungsfeldern gemeinsamen Aspekte der Planung, Flexibilisierung und Optimierung von Fortpflanzung auf der einen sowie des Verzögerns, Aufschiebens und Anhaltens auf der anderen Seite in den Blick zu nehmen. Derartige Ambivalenzen werden in Ethik und Recht oft nur selektiv und hinsichtlich einzelner Techniken angesprochen.

Normative Bewertungen setzen zudem bestimmte zeitliche Aspekte guten Lebens oft unhinterfragt voraus. Betrachtet man die Fortpflanzungsmedizin dagegen von Anfang an im Horizont einer Ethik guten Lebens in der Zeit, wird deutlich, dass ethische Entscheidungen oft mit großer zeitlicher Vorauswirkung gefällt werden müssen. Wenig untersucht ist bisher, inwieweit sich die beteiligten Akteurinnen und Akteure dabei an impliziten oder expliziten zeitlichen Vorstellungen guten Lebens orientieren (oder daran scheitern) bzw. ob und wie sie sich daran orientieren sollten. Die besondere Schwierigkeit einer solchen Perspektive liegt in der Tatsache begründet, dass im Konzept des guten Lebens philosophisch-theoretische, ethische, medizinisch-technische, soziologische und sozialpsychologische Fragestellungen konvergieren. Für eine erweiterte Sicht auf die Ethik der Fortpflanzungsmedizin sollten solche Zusammenhänge deshalb im Rahmen interdisziplinärer Forschung beleuchtet werden.

Darüber hinaus muss bedacht werden, dass die Anwendung der ethischen Prinzipien der Autonomie oder des Wohltuns und Nicht-Schadens vor dem Hintergrund von Vorstellungen guten Lebens in der Zeit erfolgt. Es reicht zum Beispiel nicht aus, Selbstbestimmung als den momentanen Akt der Entscheidung über eine fortpflanzungsmedizinische Maßnahme zu verstehen, da sich dieser vermeintlich selbstbestimmte Akt innerhalb eines Kontexts von biografischen Erwartungshaltungen und zeitlichen Zwängen vollzieht, welche die Entscheidungsfreiheit korrumpieren können (Beier und Wiesemann 2013; Bleisch und Büchler 2020). Allerdings gibt es kohärentistische Konzepte von Autonomie, die diese von vornherein in einem biografischen Horizont sehen, z. B. im Sinne des Zusammenhangs einer aktuellen Entscheidung mit dem bisherigen Leben und den darin ausgeprägten Haltungen und Wertvorstellungen (Ekstrom 2005; Quante 2011) oder etwa zwischen momentaner Autonomie und „life-time autonomy“ unterscheiden (Vaught 2008, S. 119).

Vergleichbare konzeptuelle Weiterungen sind auch für die Prinzipien des Wohltuns und Nichtschadens sinnvoll. Hier ist es offensichtlich, dass sich insbesondere Vermutungen über das Wohlergehen des zukünftigen Kindes, die oft Entscheidungen für oder gegen die Zulässigkeit bestimmter Fortpflanzungstechniken motivieren, vor dem Horizont unterschiedlicher Vorstellungen guten Lebens in der Zeit gefällt werden und als solche eine stärker in die Tiefe gehende Reflexion erfordern. Dabei ist ein Abgleich mit sozial- und gesundheitswissenschaftlichen Konzeptionen von Wohlergehen oder Lebensqualität notwendig. Begreift man also – wie hier anhand von Beispielen gezeigt – die menschliche Fortpflanzung als einen Prozess, der sich vor dem biografischen Horizont eines individuellen Lebens vollzieht und in dieser Dimension moralische Bedeutung erlangt, dann wird deutlich, wie sehr eine ethische Theorie guten Lebens mit Blick auf Fortpflanzung der Einsichten, etwa der soziologischen und sozialpsychologischen Forschung bedarf.

Schließlich beruhen Konzepte reproduktiver Autonomie auf Vorstellungen von Zeitsouveränität, die sich unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen als Schimäre erweisen können. Darüber hat sich eine eigene geschlechterkritische Debatte innerhalb der Medizinethik entwickelt, die die gesellschaftlichen Zwänge insbesondere in den Biografien von Frauen in den Blick nimmt (Graumann 2003; Harwood 2009). Die Flexibilisierung und Destandardisierung von Lebensläufen geht einher mit der Auflösung von gesellschaftlich tradierten zeitlichen Strukturen. Die damit verbundene Verunsicherung von Erwartungen an „typische“ Frauen- und Männerbiografien führt zu Auseinandersetzungen über den rechten Moment von Elternschaft und das rechte Alter von Eltern.Footnote 6 In den medizinethischen Debatten sind solche Hintergrundannahmen stets präsent, wenngleich sie oft nicht ausbuchstabiert werden (Kipke 2013; Schweda und Wiesemann 2016).

Diese Themen können hier nur angerissen und als sinnvolle Objekte einer zukünftigen Forschungsrichtung vorgestellt werden. Dabei muss untersucht werden, welche Vorstellungen guten Lebens und insbesondere von angemessener Zeitlichkeit implizit oder explizit verwendet und zwischen den verschiedenen Akteurinnen und Akteuren verhandelt werden. Nur so kann es gelingen, im Rahmen von interdisziplinärer, das Leben in seinem zeitlichen Verlauf in den Blick nehmenden biografischer Forschung Hintergrundannahmen der verschiedenen beteiligten Akteure und Disziplinen aufzudecken, zu analysieren und womöglich aus einer ethischen Perspektive zu rechtfertigen oder zu kritisieren.