Der Ansatz bei institutionellen Pathologien erlaubt die begriffliche Modellierung unterschiedlicher Störungsformen. Das kann hier nur schematisch angedeutet werden.
Das biomedizinische Grundmodell ist auf Einzelorganismen abgestimmt. In diesem finden Ätiologie, Symptomatik und Therapie ihren ontologischen Ort. In einem ersten, einfachen Störungsmodell der Institutionspathologie – nennen wir es M1 – erweitern wir nun den ätiologischen Ort und den therapeutischen Ort, aber noch nicht den symptomatischen Ort. Ein klassisches Beispiel für M1 war Freuds Diagnose, die bürgerliche Sexualmoral verursache massenhaft neurotische Störungen. Nota bene: Schon um 1900 sprachen einige Ärzte (z. B. Alfred Grotjahn) von „sozialer Pathologie“, um eine damals neue, nämlich ätiologisch erweiterte Betrachtungsweise von bereits wohlbekannten Krankheiten wie z. B. Tuberkulose unter „sozialen Gesichtspunkten“ zu bezeichnen. Der ätiologische Ort wurde um soziale „pathogene“ Gegebenheiten (z. B. unhygienische Arbeits- und Lebensbedingungen, oder, wie bei Freud, eine überrepressive, institutionalisierte Sexualmoral) erweitert. Die Logiken von institutionspathologischen und ärztlichen Diagnosen treten im Modell M1 noch nicht auseinander: Die Krankheit/Störung manifestiert sich an den Menschen. M1 bietet aber bereits einen guten Ausgangspunkt für institutionspathologische Forschungen. Das wird deutlich, sobald wir für jene „sozialen Verhältnisse“, die gemäß Modell M1 ein ätiologisches Ortsrecht erhalten, weil sie in M1 als pathogen (krankmachend) begriffen werden, modernere sozialtheoretische Konstrukte zulassen wie z. B. Mentalitäten, Dispositive, Diskurse, Narrative, Exklusionsstrategien, strukturelle Gewaltverhältnisse, soziale Ungleichheit u. a. m.
Ein gegenüber M1 angereichertes Modell, nennen wir es M1+, resultiert, wenn es gelingt, neue, überraschende Störungsdiagnosen und/oder neue leidvolle Beeinträchtigungen dingfest zu machen, die im Disease-Katalog der medizinisch anerkannten Krankheiten und leidvollen Beeinträchtigungen von Menschen (noch) nicht vorkommen, also lege artis noch nicht als Krankheiten und Krankheitssymptome „gelten“ (z. B. Selbstentfremdung, Enhancement-Sucht, Endgeräte-Abhängigkeit, Klimakatastrophen-Depression, oder mit Blick auf schwere Verwerfungen der öffentlichen Meinungsbildung in Zeiten von Covid-19 und Corona-Kontrollpolitik, womöglich massive infosphere disorder als eine neuartige Funktionsdefizienz im Mediensystem).
Wirklich interessante Erweiterungsmöglichkeiten ergeben sich, wenn wir aktive Sozialgebilde als solche zur Referenz von Krankheits- und Gestörtheitsurteilen machen: Modell M2. In pathologisch gestörten aktiven Sozialgebilden arbeiten wichtige innere und äußere Funktionen defizient, und zwar so, dass sich dies als Misere in allen oder in einigen der mit Recht erwartbaren Normalleistungen der betroffenen Sozialgebilde manifestiert. Aktive organisierte Sozialgebilde können sogar quasi todkrank sein – die Auflösung (z. B. die Auflösung einer heillos korrupten Klinik) wäre dann ein Äquivalent für den exitus.
Da man von Krankheit/Gestörtheit ohnehin nur bei massiven, jedenfalls nichttrivialen Störungen sprechen sollte, wäre Folgendes ein klarer Fall massiver Funktionsdefizienz: Sozialgebilde sind normalerweise offen für innovative oder reparative Um- und Neukonstruktionen, für Reformen und entsprechende Lernprozesse, wenn nur genug Menschen, die in die Aktivitäten der betreffenden Gebilde einbezogen sind (d. h. ihr Personal und Klientel, z. B. die Studierenden, Dozenten, Verwaltungsleute als Personal der Organisation Universität), diese Aktivitäten massiv „nicht mehr in Ordnung“ finden. Angenommen aber, bestimmte Funktionen wären so schwer gestört, dass mit den verfügbaren „Bordmitteln“ keine Abhilfe mehr geschaffen werden könnte, dann hätten wir einen klaren Fall von massiver Defizienz. Und wenn die Funktionsdefizienz so massiv wäre, dass eine Reform auch mit anderen Mitteln nicht mehr machbar wäre, würden wir von einem hoffnungslosen Fall sprechen. Bei Auflösung der betreffenden Sozialgebilde könnten wir durchaus vom soziokulturellen Tod sprechen. Organisationen können an den Komplikationen ihrer systemischen Krankheiten sterben.
Finden wir auch ein sozialpathologisches Äquivalent von Illness, also von Krankheitswertigkeit, leidvoller Beeinträchtigung? Sozialgebilde leiden gewiss nicht wie Menschen und Tiere, aber warum sollte es unmöglich sein, mit Hilfe von passenden, auf die Eigenart der jeweiligen Gebilde abgestimmten Werttheorien gewisse miserable Zustände, die aus bestimmten Funktionsdefizienzen entspringen, quasi als leidvolle Beeinträchtigungen der betroffenen Sozialgebilde zu begreifen? Wir können hier von Miseren der sozialen Gebilde selbst sprechen (statt nur vom krankheitsbedingten Leiden kranker Menschen, etwa von Teilen des Personals oder Klientels einer Organisation).
Anders als in M1 und M1+, treten in M2 die Logik von sozialpathologischen Diagnosen und die Logik von ärztlichen Diagnosen wirklich auseinander, denn gemäß M2 können Sozialgebilde und Lebewesen krank oder gesund sein, und dies auch unabhängig voneinander. Es kann gesunde, florierende Sozialgebilde mit gesundem Personal geben. Es kann kranke Sozialgebilde mit krankem Personal geben. Es kann kranke Sozialgebilde mit gesundem Personal geben und solche, die florieren, obwohl oder sogar weil sie mit gestörtem oder krankem Personal operieren. Zudem sind die Modelle M1 und M2 miteinander kombinierbar: Wenn zum Umfang der Misere eines gemäß Modell M2 kranken Sozialgebildes S auch solche Auswirkungen gehören, die gemäß Modell M1 als pathogene Auswirkungen zählen (= Auswirkungen, die für bestimmte Gruppen von Menschen die Wahrscheinlichkeit signifikant erhöhen, sich gesundheitliche Übel zuzuziehen), dann haben wir hier den Fall, dass pathologisch gestörte Sozialgebilde mittelbar oder unmittelbar Menschen krankmachen, d. h. krank im üblichen medizinischen Sinne.
Auch Modell M2 lässt sich noch anreichern: Im Modell M2+ soll begreiflich gemacht werden, dass Funktionsdefizienzen in S nicht an S selbst als Misere in Erscheinung treten, sondern so, dass S pathogen für andere Sozialgebilde S′ wird, die ihrerseits erst durch S funktionsdefizient („krank“) werden und in miserable Zustände geraten. (Ein klarer Fall von M2+ wäre eine Polizeibehörde, die von einer erfolgreichen mafiösen Organisation infiltriert wurde.)Footnote 16.