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Helfen die Neurowissenschaften, besser zu „verstehen“?

„Erklären“ und „Verstehen“ in der Psychotherapie

Do neurosciences help to “understand” better?

“Explanation” and “understanding” in psychotherapy

  • Originalarbeit
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Forum der Psychoanalyse Aims and scope

Durch Verstehen bewirke ich nicht, sondern appelliere an die Freiheit. Durch kausales Erklären werde ich fähig, in gewissem Umfang rational berechenbar einzugreifen in das Geschehen im Sinn erwünschter Ziele. Verwechsle ich aber die Verstehbarkeit von Sinn im Raume der Freiheit und die kausale Erklärbarkeit, so taste ich die Freiheit an (Jaspers 1950, S. 465).

Zusammenfassung

Insbesondere naturwissenschaftlich orientierte Psychotherapieforscher betonen gerne, dass neurowissenschaftliche „Erklärungen“ zum „Verstehen“ psychischer Störungen beizutragen vermögen. In diesen Aussagen wird die klassische erkenntnistheoretische Unterscheidung von „Erklären“ und „Verstehen“ jedoch nicht angemessen berücksichtigt. Dies könnte zu einer Verflachung des Verstehensbegriffs beitragen und letztlich den Anspruch der zwischenmenschlichen Verständigung in der Psychotherapie unterlaufen. Dennoch haben „erklärende“ Ansätze in der Therapie einen Nutzen und können selbst in Bezug auf das „Verstehen“ eine förderliche Funktion einnehmen – allerdings nur, wenn sie erkenntnistheoretisch richtig verortet und im Interesse der Emanzipation des Patienten eingesetzt werden.

Abstract

Science-oriented psychotherapy researchers in particular like to stress that neuroscientific “explanations” are able to contribute to “understanding” mental disorders. In these statements the classical epistemological distinction between “explanation” and “understanding” is, however, not appropriately considered. This could lead to a flattening of the concept of understanding and ultimately undermine the demand of interpersonal communication in psychotherapy. Nevertheless, explanatory approaches to therapy can be valuable and may even play a beneficial role with regard to understanding—but only if they are correctly located epistemologically and used in the interest of the emancipation of the patient.

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Notes

  1. Damit ist kein explizites Wissen gemeint, denn sonst befände man sich im Bereich der Ideologie, wo einer für den anderen weiß, was „gut“ oder „richtig“ ist. Beim personalen Verstehen bekommt die Sprache einen neuen Status: Ihre Wahrhaftigkeit liegt nicht mehr in der Aussage, sondern im Ansprechen. Denn wer eine Person ist, lässt sich nicht wie ein Sachverhalt in einer Aussage repräsentieren. Ich kann mit einem Narrativ auf eine Person hinweisen, und vor allem kann ich eine Person in ihrem Personsein „ansprechen“ (Buber 1962) beziehungsweise an ihr Personsein „appellieren“ (siehe Abschnitt zum „personalen Verstehen“).

  2. Freud selbst fasste in seinem wissenschaftlichen Selbstverständnis das psychoanalytische Erkennen als ein „Erklären“ im naturwissenschaftlichen beziehungsweise quasikausalen Sinne auf. Nur tritt bei ihm an die Stelle naturwissenschaftlicher beziehungsweise neurobiologischer Gesetze die Annahme des hypothetischen „psychischen Apparats“, der erlauben soll, „die Psychologie auf einer ähnlichen Grundlage aufzurichten wie jede andere Naturwissenschaft“ (Freud zit. nach Habermas 1973, S. 301).

  3. Dass sich „Verstehen“ und „Erklären“ trotz ihres kategorialen Unterschieds in einem Ansatz miteinander verbinden lassen, liegt daran, dass beide Begriffe nicht auf dieselbe Ebene zielen. „Verstehen“ ist ein Auffassungsakt und steht als solcher zunächst nur zu den „Beobachtungen“ der Dritten-Person-Perspektive in einem ausschließlichen Verhältnis. Mit „Erklären“ ist aber ein komplexes, der Erfahrungsperspektive übergeordnetes Verstandesurteil im Sinne der kausalen, quasikausalen oder teleologischen Schlussverfahren gemeint. Aus diesem Grund kann das Erklärungsmodell auch auf Inhalte angewendet werden, die nicht „beobachtet“, sondern zunächst aus der Teilnehmerperspektive „verstanden“ wurden.

  4. Nach Körner überspringt das „intentionale Erklären“ noch die Fantasien sowie die aktuellen Beziehungsgestaltungen des jeweiligen Patienten und ist daher in der Psychoanalyse das Fortschreiten zu einem „idiographischen Verstehen“ sinnvoll (Körner 1985).

  5. In den gängigen Leib-Seele-Theorien würde dies am ehesten dem Verhältnis einer „starken Emergenz“ entsprechen, bei der die emergenten Eigenschaften eine Eigendynamik erringen und darin ähnlich einer Form- oder Zweckursache die sie ermöglichenden neurobiologischen Prozesse prägen (vgl. „Primat der Funktion“ bei Fuchs 2008a).

  6. Die „heuristische Vertiefung des reflexiven Selbstverständnisses … auf dem Umweg über ein distanziertes kausales Erklären“ (Apel 1979, S. 295) zum Zwecke der Emanzipation fordern Apel und Habermas zur Kompensation der erklärenden Verhaltenswissenschaften, die den Menschen nur in seiner Abhängigkeit zeigen und so lediglich zu einem „sozialtechnologischen Verfügungswissen“ beitragen.

  7. In der weiteren Philosophiegeschichte wurde diese Unterscheidung zwischen Gründen und Ermöglichungsbedingungen mit den Begriffen „causa“ und „conditio sine qua non“ tradiert.

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Die Arbeit wurde durch ein Stipendium des Marsilius-Kollegs der Universität Heidelberg gefördert.

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Richter, M. Helfen die Neurowissenschaften, besser zu „verstehen“?. Forum Psychoanal 29, 403–420 (2013). https://doi.org/10.1007/s00451-013-0131-6

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