Zusammenfassung
Die etwas saloppe Frage, ob wir eine Neuropsychotherapie brauchen, meint genauer, ob deren neurowissenschaftliche Sichtweise für die psychotherapeutische Praxis von Nutzen sein kann. Zur Beantwortung dieser Frage eignen sich die herkömmlichen wissenschaftlichen Ansätze allerdings nur bedingt. Der „empirisch-technische Ansatz“ der quantitativen Psychotherapieforschung vermag hierbei nicht weiterzuhelfen, da die Neuropsychotherapie selbst nur deren Fortführung darstellt. Innerhalb dieser Methodologie ist es nicht möglich, die Bedeutung der neurowissenschaftlichen Forschungsergebnisse kritisch zu reflektieren. Dies ist aber die Voraussetzung zur Beurteilung des Nutzens der Neuropsychotherapie. So verweist die Frage nach der Bedeutung der neurobiologischen Prozesse auf das Gebiet der Erkenntnistheorie. Aber auch dieser „theoretische Ansatz“ hilft nur bedingt weiter. Er bietet zwar einen wichtigen Reflexionshintergrund, muss aber gleichzeitig gegenüber der psychotherapeutischen Tätigkeit abstrakt bleiben, weil er deren Zweck nicht berücksichtigt. Stattdessen wird hier der Ansatz einer „pragmatischen Reflexion“ vorgestellt. Diese geht von einem allgemeinen Zweck der Psychotherapie aus, auf dessen Hinblick der Nutzen der Neuropsychotherapie überhaupt nur beurteilt werden kann. Nach dieser Klärung kann die pragmatische Reflexion anhand konkreter Vorstellungen zur Anwendung der Neurowissenschaften in der Psychotherapie ansatzweise demonstriert werden. Dabei zeigt sich, dass die Neuropsychotherapie für eine ganz bestimmte Argumentations- und Handlungspraxis steht, die der Psychotherapie eine sach- und zweckfremde Logik überstülpt.
Abstract
The somewhat crude question of whether we need neuropsychotherapy means more precisely whether its neuroscientific perspective can be useful for the psychotherapeutic practice. To answer this question the traditional scientific approaches do not completely suffice. The “empirical-technical approach” of quantitative psychotherapy research is of no service here as neuropsychotherapy is only its continuation. Within the framework of this methodology it is not possible to critically reflect on the relevance of neuroscientific research. Such a reflection is, however, the prerequisite for an evaluation of the benefits of neuropsychotherapy. The question about the meaning of neurobiological processes thus leads to the field of epistemology. This “theoretical approach” is nonetheless only helpful within limits. It provides an important background of reflection, however it needs to remain abstract compared to psychotherapeutic practice because it does not integrate the specific goals of such practice. What is presented here instead is an “approach of pragmatic reflection”. This reflection departs from a general purpose of psychotherapy from which the value of neuropsychotherapy can be appropriately estimated. After this clarification the approach of pragmatic reflection can be preliminarily demonstrated with concrete applications of neuroscience in psychotherapy. What is shown hereby is that neuropsychotherapy represents a very specific practice of argumention and action, which implements a logic into psychotherapy that does not fit its contents and goals.
Notes
Von Letzterem scheint zumindest Holzhey-Kunz (2002, S. 13) auszugehen: „Eine Reflexion auf die Implikationen einer Medizinalisierung und Zweckrationalisierung einerseits, der Freudschen Entdeckung [Sinn von psychischem Leid, Anm. M.R.] andererseits, erweist ihre Verknüpfung als ein Ding der Unmöglichkeit“.
In diesem Sinne handelt es sich nicht mehr bloß um eine „Objektivierung“ sondern um eine „Verobjektivierung“ oder auch „Verdinglichung“ (Honneth2005, S. 69 f.).
Im Grunde entspricht ein solches Vorgehen der Ethik des Utilitarismus. Die Entscheidungsregeln sollen auf der Grundlage von empirischen Studien so gestellt werden, dass über viele Anwendungen hinweg eine Nutzenmaximierung erfolgt. Damit handelt man sich aber auch all die Probleme des empiristischen Utilitarismus ein. Vor allem bleibt der in den vorausgesetzen Nutzenkriterien implizierte Wert unreflektiert, sind die konkreten Wirkungen weder quantifizierbar noch überhaupt kommensurabel und muss von der individuellen Situation des Patienten abstrahiert werden. Denn anders als vielleicht in der Organmedizin behandeln Psychotherapeuten einzigartige Personen und keine „Fälle“. Wollen wir wirklich gegenüber dem psychischen Leid von einzigartigen Personen nach statistisch ermittelten Wahrscheinlichkeiten vorgehen?
Tatsächlich folgt ihr technisches Denken exakt der bekannten „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer und Adorno1969), das sich zudem noch mit dem Anschein einer wissenschaftlichen „Werturteilsfreiheit“ immunisiert.
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Danksagung
Die Arbeit wurde durch ein Stipendium des Marsilius-Kolleg der Universität Heidelberg gefördert.
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Richter, M. Brauchen wir eine „Neuropsychotherapie“?. Forum Psychoanal 28, 27–49 (2012). https://doi.org/10.1007/s00451-011-0082-8
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