Schmerz ist ein wichtiges Alarmsignal unseres Körpers. Akuter Schmerz geht zumeist mit einem nachvollziehbaren somatischen Ereignis einher. Länger anhaltende oder rezidivierende Schmerzen führen zu einer erheblichen Beeinträchtigung des alltäglichen Lebens und mit zunehmender Chronifizierung zu substanziellen Verschlechterungen bezüglich des Ansprechens auf eine Therapie mit Analgetika und der Prognose [13]. Chronischer Schmerz bei Kindern und Jugendlichen bezeichnet ein Schmerzgeschehen, bei dem anhaltend oder rezidivierend heftige Schmerzen für mindestens 3 Monate Dauer bestehen [22]. Chronische Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen sind ein wachsendes Problem in der Kinder- und Jugendmedizin [40]. Je nach Lokalisation werden lokalisierte, regionale und generalisierte chronische Schmerzen unterschieden. Dabei finden sich am häufigsten Kopf- und Bauchschmerzen sowie Schmerzen in Bereichen des Bewegungsapparates (v. a. Rücken- und Extremitätenschmerz) [40].

Chronische muskuloskeletale Schmerzen gehören zu den generalisierten Schmerzsyndromen und sind bei Kindern und Jugendlichen durch medikamentöse Therapien kaum zu beeinflussen [39]. Die Patienten klagen über andauernde oder immer wiederkehrende Schmerzen, die in ihrer Lokalisation, Intensität, Qualität und Häufigkeit fluktuieren. Jugendliche Schmerzpatienten leiden unter anhaltenden stärksten Gelenk- und Muskelschmerzen, chronischen Kopf- und Bauchschmerzen, Schlafstörungen; häufig auch unter einer depressiven oder ängstlichen Gemütsverfassung. Mit zunehmender Dauer entsteht ein Gefühl der Hilflosigkeit, und es kommt zu Einschränkungen im Alltag und zu sozialem Rückzug [29, 53]. Zunehmende psychische Belastung, reduzierter Schulbesuch, verminderte Freizeitaktivitäten, Schlafprobleme und eingeschränkte Unternehmungen mit Freunden und Familie haben erhebliche Auswirkung auf das emotionale Wohlbefinden [15, 29].

Bei Erwachsenen wird dieses Beschwerdebild meist als Fibromyalgiesyndrom bezeichnet und nach den Klassifikationskriterien des American College of Rheumatology in Abgrenzung zu entzündlich rheumatischen Erkrankungen und Arthrosen definiert [12]. Für das Kindes- und Jugendalter bestehen (derzeit) keine einheitlichen und validierten Kriterien zur Definition chronischer Schmerzen in mehreren Körperregionen. Der Begriff des sog. juvenilen Fibromyalgiesyndroms (JFMS), definiert durch die Kriterien nach Yunus et al. [52], wurde inzwischen weitgehend verlassen. In der Kinderrheumatologie wurde bevorzugt die Bezeichnung „generalisiertes juveniles Schmerzverstärkungssyndrom“ (primär oder sekundär) verwendet [18]. Die aktuelle Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V./AWMF (Patientenleitlinie 041/004; [1]) definiert die Diagnose „Chronische Schmerzstörung in mehreren Körperregionen mit somatischen und psychischen Faktoren“, F45.41. Sie beinhaltet neben somatischen Faktoren schmerzaufrechterhaltende psychische Faktoren sowie mindestens 2 der nachfolgenden Symptome:

  • „Stress“ und Belastungsfaktoren beeinflussen das Schmerzerleben,

  • zunehmende Schonung aufgrund schmerzbezogener Angst,

  • Passivität und Fehlhaltungen,

  • dysfunktionale Verhaltensmuster,

  • maladaptive Kognition,

  • ausgeprägte emotionale Belastung und

  • Beeinträchtigungen der familiären, sozialen und beruflichen/schulischen Integration.

Das komplexe regionale Schmerzsyndrom („complex regional pain syndrome“, CRPS) bildet innerhalb der chronischen muskuloskeletalen Schmerzen eine besondere Entität und zählt zu den lokalisierten/regionalen Schmerzstörungen [11]. Dabei wird das CRPS Typ I ohne direkte Nervenschädigung vom CRPS Typ II mit direktem Nervenschaden unterschieden. Das klinische Bild des CRPS ist vielfältig und beinhaltet zahlreiche individuell unterschiedlich ausgeprägte Symptome. In der Diagnostik haben sich die Budapester Kriterien (Tab. 1; [20]) bewährt. Häufig finden sich beim CRPS für das auslösende Ereignis unverhältnismäßig starke Schmerzen sowie eine Allodynie.

Tab. 1 Budapester Kriterien: revidierte operationale Diagnosekriterien des CRPS („complex regional pain syndrome“) 2010 [20]

Epidemiologie und Ätiologie

Der 2003 bis 2006 erhobene Kinder- und Jugendgesundheitssurvey des Robert Koch-Instituts (KiGGS; [14]) zeigt bei 71 % der Kinder und Jugendlichen zwischen 3 und 17 Jahren eine 3‑Monats-Prävalenz von Schmerzen. Dabei hatten 47 % wiederkehrende Schmerzen, 55 % Schmerzen an mehr als 2 Lokalisationen und 27 % wiederkehrende Schmerzen an multiplen Lokalisationen [15, 41]. Chronische Schmerzen treten bei Kindern und Erwachsenen v. a. als Kopf-, Bauch-, Rücken- und muskuloskeletale Schmerzen auf. Es zeigt sich eine deutlich höhere Frequenz bei Mädchen und Frauen [27, 40]. Bei Kindern und Jugendlichen wird allgemein von einer Zunahme chronischer Schmerzstörungen ausgegangen [27, 43].

Chronische Schmerzen treten v. a. als Kopf-, Bauch-, Rücken- und muskuloskeletale Schmerzen auf

Das Zentrum für Schmerztherapie junger Menschen (ZSJM) in Garmisch-Partenkirchen mit seiner 2003 gegründeten Station zur Therapie chronischer Schmerzerkrankungen verfügt mit mehr als 3000 behandelten Patienten über die deutschlandweit größte Erfahrung in der Behandlung chronischer Schmerzsyndrome des Bewegungsapparates bei Kindern und Jugendlichen [19]. Eine Untersuchung von 513 Patienten aus dem Zeitraum von Dezember 2007 bis November 2010 zeigte ein Durchschnittsalter von 14,4 (± 3,1) Jahren und eine Dominanz des weiblichen Geschlechts (80,1 %). Die Mehrzahl der Patienten (88 %) hatte eine generalisierte und nur 12 % hatten eine regionale Schmerzstörung [24]. Das CRPS ist deutlich seltener als generalisierte Schmerzstörungen des Bewegungsapparates (Erwachsene 5,5–26/100.000/Jahr; [7]; Abb. 1). Bei Kindern liegt das mittlere Erkrankungsalter bei 11 bis 13 Jahren [11, 21, 32, 45], und es besteht eine deutliche Mädchenwendigkeit (eigene Daten zeigen einen Mädchenanteil von 84 % [24]). Während ein CRPS beim Erwachsenen meist posttraumatisch und nur in 3–15 % der Fälle spontan auftritt, entwickelt sich ein CRPS bei Kindern und Jugendlichen in einem Großteil der Fälle (ca. 80 %) infolge eines Bagatelltraumas (wie z. B. einem Supinationstrauma mit Distorsion) [32]. Kinder und Jugendliche zeigen eine Prädominanz der unteren Extremität [32, 45, 49], während beim Erwachsenen in über 60 % der Fälle die obere Extremität dominiert [33].

Während der letzten Jahre entwickelte sich auf Basis der Erkenntnisse verschiedener Disziplinen der Schmerzforschung ein biopsychosoziales Schmerzmodell, das zu einem grundlegenden Wandel im Verständnis von Schmerzen beitrug [46] und zur der Entwicklung neuer therapeutischer Ansätze [6, 13, 17] führte. Danach erklärt sich die Entstehung chronischer Schmerzen als dynamischer Interaktionsprozess aus biologischen Faktoren (z. B. einer körperlichen Grunderkrankung oder eines Bagatelltraumas), physischen Komponenten (z. B. einer erniedrigten Schmerzschwelle, vermehrter sportlicher Aktivität im Vorfeld), psychischen Faktoren (z. B. schmerzbezogene Ängste, erlernter Umgang mit Schmerzen, Stress) und soziokulturellen Rahmenbedingungen (z. B. Elternverhalten, soziale Interaktionen im Umgang mit Schmerzen). Verstärkende Faktoren bilden soziale Probleme und Ausgrenzungserlebnisse [30]. Das gehäufte intrafamiliäre Vorkommen von chronischen Schmerzstörungen (Eltern und Kindern z. B. [26]) basiert offenbar weniger auf genetischen als auf psychischen Faktoren (empathisches „Mitleiden“, Lernen am Modell).

Diagnostik

Anhaltende Schmerzen im Bereich des Bewegungsapparates können eine Vielzahl von Ursachen haben und bedürfen einer sorgfältigen differenzialdiagnostischen Abklärung [6, 13, 17]. Vorerkrankungen am muskuloskeletalen System wie eine juvenile idiopathische Arthritis (JIA) oder eine nichtbakterielle Osteitis (Tab. 2) können „bahnende“ Funktion für die Entwicklung einer chronischen Schmerzstörung haben. Entscheidend ist für alle Beteiligten

  • an eine chronische Schmerzstörung zu denken und

  • den differenzialdiagnostischen Prozess an einem Punkt auch mit der Diagnose „chronische Schmerzstörung“ zu beenden.

Viele Patienten mit chronischen Schmerzen des Bewegungsapparates erleben eine über die Maßen intensivierte Diagnostik, frustrane medikamentöse Therapieversuche und z. T. chirurgische und operative Eingriffe, welche die Problematik eher verstärken. Ein typisches Kennzeichen chronischer Schmerzsyndrome ist ein schlechtes bis gar kein Ansprechen auf medikamentöse Therapieversuche [16].

Tab. 2 Differenzialdiagnose akuter und chronischer muskuloskeletaler Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen (Auswahl, gruppiert nach Chronifizierungsgrad)

Die Differenzierung zwischen akuten und chronischen Schmerzen (Tab. 3) sollte nachvollziehbar herausgearbeitet werden, da sich nur auf dieser Basis die Diagnose für die Betroffenen nachvollziehen lässt und die betroffenen Patienten und deren Eltern meist erheblichen Widerstand gegen eine derartige Diagnose zeigen. Das Bedürfnis der Patienten und ihrer Eltern, eine medikamentös oder operativ zu behandelnde „somatische“ Ursache zu finden, ist groß. Auch ärztlicherseits erliegt man immer wieder der Versuchung, doch noch eine fassbare Ursache zu finden. Systematische Untersuchungen zur Evaluation des diagnostischen Vorgehens bei chronischen Schmerzen sind leider die Ausnahme [50]. Gerade bei Patienten mit CRPS findet sich häufig in der Vorgeschichte ein Bagatelltrauma, das im Rahmen der Abklärung als ursächlich interpretiert wird. Hinterfragt man jedoch diesen Zusammenhang kritisch, können die angegebenen Schmerzen unmöglich Folge dieses Traumas sein, weil sie in Dauer und Stärke völlig inadäquat sind.

Tab. 3 Charakteristik akuter und chronischer Schmerzen. (Nach [44])

In bis zu 60 % der Fälle finden sich psychische Beeinträchtigungen

Chronische Schmerzerkrankungen beeinträchtigen das Allgemeinbefinden der betroffenen Kinder und Jugendlichen. In bis zu 60 % der Fälle finden sich psychische Beeinträchtigungen wie Depression, Angst oder die Tendenz zur Katastrophisierung [23, 28, 47]. Werden Risikofaktoren wie soziale Probleme, elterliche Somatisierung oder Schulprobleme mit einbezogen, so finden sich in 93 % der Patienten psychische Auffälligkeiten [28]. Aufgrund der sich teilweise überschneidenden Symptomatik psychischer Erkrankungen und der chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (F45.41) sollten folgende Differenzialdiagnosen abgegrenzt werden (nach [37]):

  • Schmerzsyndrome ohne Krankheitswert, die von den Betroffenen als nicht belastend empfunden werden,

  • akute Schmerzsyndrome mit kurzer Erkrankungsdauer,

  • chronische, rein körperlich bedingte Schmerzsyndrome ohne psychische Faktoren,

  • somatoforme Schmerzstörung (primär psychischer Faktor ohne körperliche Faktoren),

  • Somatisierungsstörung (F45.0)/undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1), bei der die Schmerzen ein Symptom von vielen darstellen,

  • Depressionen (F31–F34): häufig gemeinsames Auftreten mit Schmerzen. Welche Diagnose steht im Vordergrund?,

  • Angststörungen (F40–F41), die lediglich im Zusammenhang mit den Schmerzen auftreten können und damit die Klassifikation einer chronischen Schmerzstörung im Rahmen von Angst und Vermeidung darstellen (Fear-avoidance-Modell [48]) oder auch einer zusätzlichen oder eigenständigen Diagnose bedürfen,

  • Persönlichkeitsänderung bei chronischen Schmerzsyndromen (F62.80),

  • psychische Faktoren oder Verhaltenseinflüsse bei anderenorts klassifizierten Krankheiten (F54),

  • Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43) können ebenfalls ein verstärktes Schmerzerleben bewirken.

Die abzugrenzenden Differenzialdiagnosen erfordern daher die intensive multidisziplinäre Zusammenarbeit von erfahrenen Kinderschmerztherapeuten und Kinder- und Jugendpsychiatern/-psychologen (v. a. bei Fxx-Diagnosen) und je nach führender Schmerzsymptomatik die Miteinbeziehung von Neuropädiatern, Kindergastroenterologen und Kinderrheumatologen.

Therapie

Die betroffenen Familien machen auf der Suche nach einer erfolgreichen Behandlung zumeist zahlreiche erfolglose Therapieversuche durch. Typischerweise hilft eine medikamentöse Therapie mittels Analgetika und/oder Psychopharmaka nicht oder nicht ausreichend [16] und stützt – neben möglichen unerwünschten Arzneiwirkungen (UAW) – das zumeist somatisch geprägte Erklärungsmodell der Patienten und ihrer Eltern zusätzlich.

In Deutschland wurden in den vergangenen 15 Jahren an den Schmerzzentren Datteln und Garmisch-Partenkirchen (ZSJM) multimodale Therapiekonzepte zur Therapie chronischer Schmerzen [8, 19, 25, 53] entwickelt, die inzwischen von anderen Zentren (z. B. Augsburg, Sendenhorst, Stuttgart) übernommen werden. Als internationaler Vorreiter gab der Amerikaner D.D. Sherry wesentliche Impulse bei der Therapieentwicklung [42]. Am ZSJM wurden darüber hinaus evaluierte Programme zur multimodalen Therapie des CRPS [11, 24] und ein Transitionsprogramm zur Überleitung junger Erwachsener in die Betreuung durch Schmerztherapeuten aus der Erwachsenenmedizin [10] entwickelt.

Voraussetzung für eine erfolgreiche multimodale Behandlung sind ein Verständnis der biopsychosozialen Dynamik, die der Entwicklung chronischer Schmerzen zugrunde liegt (Abb. 2), und die Akzeptanz, dass passivierende therapeutische Maßnahmen wie Medikamente, Gehstützen oder Ruhigstellung sowie weitere körperliche Untersuchungen und Therapien wenig Aussicht auf Erfolg haben. Stattdessen werden gemeinsam mit den Patienten individuelle Strategien erarbeitet, die sie eigeninitiativ und aktiv selbst durchführen können. Eltern müssen von Schuldgefühlen befreit und zur Unterstützung ihres Kindes angeleitet werden. Die multimodale Therapie chronischer Schmerzen und der assoziierten körperlichen, psychischen und sozialen Folgeerscheinungen ist ein längerer Prozess – das müssen alle Beteiligten akzeptieren lernen. Die Therapieziele beinhalten daher nicht nur eine Reduktion der Schmerzstärke, sondern v. a. das Erlernen von Bewältigungsstrategien, die den Umgang mit den Schmerzen erleichtern, Alltagseinschränkungen reduzieren und die Funktionalität verbessern [15]. Die Entwicklung multimodaler Schmerztherapien beinhaltete daher auch eigene Edukationsmodelle, die sich sowohl für die Schulung der jungen Patienten als auch der Eltern eignen (Abb. 2). Die meisten Menschen gehen von rein körperlichen Vorgängen der Schmerzverarbeitung aus. Somatische, psychologische und soziale Einflussfaktoren der Schmerzverarbeitung müssen als gleichberechtigt benannt und besprochen werden. Die Patienten sollten keinesfalls den Eindruck erhalten, psychisch krank zu sein oder sich die Schmerzen nur einzubilden. Für die Akzeptanz ist es wichtig, die Differenzierung zwischen akuten und chronischen Schmerzen (Tab. 3) herauszuarbeiten, da sich nur auf dieser Basis die Unterschiede in der Therapie nachvollziehen lassen.

Das Erlernen von Bewältigungsstrategien ist ein wichtiges Therapieelement

Abb. 1
figure 1

Chronische Schmerzsyndrome bei Kindern und Jugendlichen. Schema zur Darstellung der starken Tendenz zur Überlappung von Symptomen. Die Flächengrößen entsprechen nicht der prozentualen Häufigkeit. CRPS „complex regional pain syndrome“

Abb. 2
figure 2

Schmerzverarbeitungsmodell aus den Schulungsmodulen des ZKJM (Zentrum für Schmerztherapie junger Menschen). Biopsychosoziale Dynamik der Schmerzverarbeitung. Sowohl akute, als auch chronische Schmerzen können einen überschwelligen Reiz bilden, der für den Patienten ein Schmerzereignis darstellt, dessen Ursprung ununterscheidbar ist. Aber: Durch eine positive Beeinflussung der Schmerzverarbeitung lassen sich auch überschwellige chronische Schmerzreize wieder löschen

Die physiologischen Prozesse der Schmerzverarbeitung, d. h. die Wahrnehmung von Schmerzreizen über Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren), die Zusammenhänge der Nervenleitung und Verschaltung im Rückenmark und schließlich die zentrale Verarbeitungsfunktion des Thalamus müssen laienverständlich erklärt werden. Die Umschaltung des Schmerzreizes hat in der Verarbeitung eine wichtige Rolle, da die Weiterleitung der Schmerzimpulse an dieser Stelle von absteigenden, schmerzhemmenden Bahnen beeinflusst werden kann und zudem unterschiedliche Empfindungen miteinander konkurrieren (Berührungsreize über A‑β-Fasern, schnelle und langsame Schmerzreize über A‑δ-Fasern bzw. C‑Fasern). Diese Prozesse wurden erstmals 1965 [35] als Gate-Control-Theorie beschrieben und haben bis auf einige Modifikationen heute noch Gültigkeit. Nur die Reize, die das „neuronale Tor“ passieren, werden im Gehirn als Schmerz verarbeitet. Im Gehirn arbeitet der Thalamus als Filter und leitet relevante Informationen an unterschiedliche Bereiche zur Lokalisation, Bewertung und emotionalen Verarbeitung weiter. Aufbauend auf dem Verständnis dieser somatischen Prozesse, können nachfolgend psychologische und soziale Faktoren vermittelt und visualisiert werden, die für die Entwicklung chronischer Schmerzen von besonderer Bedeutung sind (Abb. 2).

Wichtig für alle Beteiligten ist es, die empfundenen Schmerzen als real und von einem somatisch induzierten Akutschmerz nicht zu unterscheiden zu akzeptieren. Anhaltende Schmerzen können sich zu negativen Gedanken ausweiten (z. B. „das wird nie wieder besser“) und Gefühle wie Resignation, Traurigkeit bis hin zu Depression oder Angstzuständen erzeugen. Die Betroffenen reduzieren häufig ihre körperliche Aktivität aus Angst vor Bewegung (Fear-avoidance-Modell, [48]), was bei chronischen Schmerzen meist keine Auswirkungen auf die Schmerzstärke hat und durch Fehlhaltungen und Atrophien zusätzliche Schmerzen generieren kann. Letztlich verfestigt sich im Verlauf der Chronifizierung das Schmerzgedächtnis.

Multimodale Schmerztherapie

Die multimodale und interdisziplinäre Zusammenarbeit aus Ärzten, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Psychologen, Sozialpädagogen, spezialisierten Pflegekräften und Klinikschule hat sich in der Therapie chronisch schmerzerkrankter Kinder und Jugendlicher bewährt [2, 38]. Stationäre Konzepte (Datteln [9] oder ZSJM [24, 19]) haben sich bei Kindern und Jugendlichen mit bereits deutlichen Alltagseinschränkungen für den Einstieg in die Therapie als besonders erfolgreich erwiesen (Tab. 4).

Tab. 4 Elemente multimodaler Schmerztherapie. Das Therapieprogramm des ZSJM (Zentrum für Schmerztherapie junger Menschen) als Beispiel für die multimodale Therapie bei chronischen Schmerzstörungen

Durch das Gruppensetting erleben die Patienten eine Situation, die sich therapeutisch nutzen lässt. Erstmals begegnen sie Gleichaltrigen mit ähnlichen Problemen („peer-group effect“). Gerade Jugendliche erarbeiten Lösungs- und Bewältigungsstrategien gerne in einer Gruppe. Initial ist meist eine sehr hohe Therapiedichte erforderlich, um einen Einstieg in das biopsychosoziale Krankheitsmodell chronischer Schmerzen zu finden. Das ist in einem ambulanten therapeutischen Setting zumeist nicht leistbar, zumal die Behandlungsangebote für chronisch schmerzerkrankte Kinder und Jugendliche bislang bei Weitem nicht ausreichend sind.

Ärztlicher Bereich

Sorgfältige ärztliche Abklärung unter Miteinbeziehung anamnestischer, medizinischer, und psychosozialer Faktoren sowie der bisher durchgeführten Diagnostik und Therapie ist Voraussetzung, um die Diagnose einer Schmerzstörung zu stellen. Viele chronisch schmerzerkrankte Patienten erhalten jedoch häufig zu viel und z. T. auch nicht sinnvolle und/oder invasive Diagnostik. Ärztlicherseits muss die Grenze „wir haben jetzt alle infrage kommenden somatischen Diagnosen abgeklärt“ gezogen werden. Da die Patienten häufig mit einem somatisch orientierten Krankheitsbild erscheinen, ist das Gespräch mit dem Arzt zum Vertrauensaufbau besonders zu Beginn sehr wichtig. Im Verlauf der Therapie sind die Ärzte für die Einstellung und Modifikation der medikamentösen Therapie und v. a. für eine sukzessive Reduktion der oftmals nicht hilfreichen bzw. potenziell sogar schädlichen medikamentösen Therapien zuständig.

Psychologischer und sozialpädagogischer Bereich

Die Psyche als auslösender und aufrechterhaltender Faktor bei chronischen Schmerzerkrankungen steht im Mittelpunkt von Gesprächs- und Therapieangeboten [5]. Einzel- und Gruppengespräche fokussieren auf psychische Komorbiditäten und psychische Belastungsfaktoren. Schmerzedukation ist ein wichtiges Element in Patienten- und Elterngesprächen. Die therapeutischen Ansätze zielen auf die individuell auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren wie Stressbewältigung, Schlafhygiene etc. Die erarbeiteten Strategien vermitteln dem Patienten das Gefühl, selbstwirksam tätig werden zu können. Adaptive Copingstrategien beinhalten eine aktive Alltagsgestaltung, ohne auf den Schmerz zu fokussieren [34]. Die Patienten erlernen alltagstaugliche Ablenkungsstrategien, indem sie ihre bisher negativen Gedanken erkennen, neu strukturieren und umformulieren [5], sowie die Wirkung von Aktivierung und Entspannung. Entspannungstechniken können mit einer hilfreichen imaginativen Suggestion (z. B. Schmerz verkleinern, Glücksgefühl ausdehnen) gekoppelt werden.

Die therapeutischen Ansätze zielen auf individuell auslösende und aufrechterhaltende Faktoren

Tiergestützte Angebote, kampfkunstgestützte Einheiten (Integration körperlicher und mentaler Elemente) und Methoden aus der achtsamkeitsbasierten Schmerztherapie [53] erweitern das Spektrum. Sozialpädagogen gestalten ein altersgerechtes Freizeitprogramm und unterstützen die Patienten und ihre Familien bei der Berufsorientierung sowie in sozialrechtlichen Fragen. Sie vermitteln Hilfe am Heimatort und stellen bei Bedarf Bescheinigungen aus.

Physikalische Therapie und Aktivierung

Behandlungsziele und -schwerpunkte orientieren sich an der körperlichen Untersuchung und der therapeutisch relevanten Anamnese, da die meisten Jugendlichen ihre körperlichen Aktivitäten eingeschränkt haben. Massage, Elektrotherapie (hier v. a. transkutane elektrische Nervenstimulation [TENS]) und Wärmeanwendungen wirken detonisierend, vegetativ ausgleichend und gleichzeitig schmerzlindernd [4]. TENS-Therapie und Wärmeanwendungen eignen sich auch zur häuslichen selbst gesteuerten Weitertherapie. Funktionelle Beeinträchtigungen werden mit den geeigneten physiotherapeutischen Techniken behandelt. Im Vordergrund stehen: Bewegungen, Körpergefühl und deren Effekte auf den gesamten Körper bewusst wahrzunehmen.

Das Training an Geräten bietet viele Möglichkeiten der Aktivierung. Geräte für die medizinische Trainingstherapie ermöglichen niedrige Widerstände, die in minimalen Stufen gesteigert werden können. Dadurch können die Jugendlichen sofort körperlich aktiv werden und ihre Fitness trainieren. Erfolge sind durch höhere Gewichte, gesteigerte Wiederholungen und zusätzlich eingeführte Geräte gut erfass- und damit für die Patienten unmittelbar nachvollziehbar. Dies motiviert, zu Hause, in Praxen oder Fitnessstudios weiter zu trainieren. Bewegungsaufgaben, die wenig gelenkbelastend, jedoch koordinativ anspruchsvoll sind, wie z. B. Jonglieren, vermitteln Erfolgserlebnisse und stärken das Selbstvertrauen. Die spielerische Komponente der verschiedenen körperlichen Aktivitäten ist wichtig, um die Freude an der Bewegung (wieder) zu wecken und das Thema Leistung in den Hintergrund treten zu lassen.

Pflegedienst, Leben in der Gruppe

Dem Pflegedienst kommt in der Schmerztherapie eine besondere Bedeutung zu [15], was spezielle Schulung für die pädagogische Alltagsgestaltung erfordert. Wichtige Bestandteile sind die Reintegration in eine Gruppe und das Wiedererlangen einer geregelten Alltagsstruktur mit Schulbesuch und aktiven Freizeitbeschäftigungen inklusive eines geregelten Schlafrhythmus. Dies alles ist Patienten mit chronifizierten Schmerzerkrankungen häufig verloren gegangen. Zur Vorbereitung auf den Alltag zu Hause werden die jungen Patienten dazu angehalten, über den Tag verteilt therapeutische Strategien eigenverantwortlich zu planen und durchzuführen. Erlebnispädagogische Angebote wie Ausflüge, gemeinsames Kochen oder Schwimmen stärken das Gefühl von Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit.

Schule für Kranke

Der Schulbesuch als eine wesentliche Alltagsleistung ist bei vielen chronisch schmerzerkrankten Kindern und Jugendlichen oft deutlich eingeschränkt. Im Alltagstraining ist er daher von besonders großer Bedeutung. In einer „therapeutischen“ Schulsituation lernen die Patienten, die Schule in ihren Alltag zu integrieren. Schmerztherapeutische Strategien werden vor Ort ausprobiert und können dann in der heimatnahen Schule weiter genutzt werden. Der Austausch mit der Heimatschule sowohl über relevante Unterrichtsthemen als auch Therapieelemente und erforderliche Nachteilsausgleiche ist wesentlich. Zusätzlich werden Lerncoaching und Schulprojekte zur Planung einer optimalen Lernmethodik und zur Reduktion von Schulfehlzeiten angeboten.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Erfolgreiche Therapie chronischer Schmerzen setzt eine interdisziplinäre Zusammenarbeit voraus. Jeder Patient bedarf eines individualisierten Therapiekonzeptes, das sowohl auf die Symptome als auch die Ressourcen und die aktuelle Situation des Patienten abgestimmt ist. Die verschiedenen Disziplinen sollten sich in regelmäßigen Teamsitzungen austauschen und die individuelle Therapieplanung miteinander absprechen.

Umsetzung im Alltag

Die Patienten werden im Verlauf der Therapie durchgehend angeleitet und schrittweise in die selbstständige Umsetzung des therapeutischen Programms eingewiesen. Schmerzstärke und Funktionsverlust bessern sich infolge einer Schmerztherapie nicht immer in gleichem Ausmaß [24]. Wieder zu Hause zeigt sich eine deutliche Tendenz, in alte Denk- und Verhaltensweisen zurückzufallen. Daher müssen vorsorglich Handlungsanweisungen erarbeitet werden, die Alltagsstrategien beinhalten. Angekündigte Befragungen nach 3, 6 und 12 Monaten erinnern viele Eltern und Patienten daran, den neuen Lebensstil auch langfristig umzusetzen, und ermöglichen dem Behandlungsteam eine Qualitätskontrolle. Rezidive und akute Exazerbationen sind bei Schmerzstörungen nicht selten. Dies kann eine erneute stationäre und/oder ambulante Therapie erfordern. Das sollte weder Therapeuten noch Patienten frustrieren. Dabei muss manchmal sogar ein neues, der aktuellen Lebenssituation angepasstes Therapiekonzept gefunden und eingeübt werden. Natürlich erfordert jedes Rezidiv eine sorgsame ärztliche Einschätzung, ob es sich um die Schmerzstörung oder eine andere Ursache handelt. Das kann bei Patienten, die gleichzeitig an einer chronisch rheumatischen Erkrankung mit schubweisem Verlauf (z. B. JIA) leiden, schwierig sein.

Insgesamt ist die Versorgung chronisch schmerzerkrankter Kinder und Jugendlicher in ambulanten Versorgungsstrukturen in Deutschland noch stark entwicklungsbedürftig. Daher wird mancher in stationären Therapiekonzepten erarbeitete Erfolg aufgrund mangelnder Möglichkeiten zu einer ambulanten Fortsetzung der Therapie wieder zunichte gemacht. Hier müssen dringend integrierte Konzepte entwickelt und ausgebaut werden.

Besonderheiten der Therapie des „complex regional pain syndrome“ bei Kindern und Jugendlichen

Zur Therapie des CRPS existiert lediglich eine AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V.)-S1-Leitlinie mit allgemeinen Therapieempfehlungen [3]. Im Kindes- und Jugendalter fehlen evidenzbasierte Studien, wobei positive Effekte für multimodale Therapieansätze, die physiotherapeutische und verhaltenstherapeutische Verfahren kombinieren [11, 31], und Therapieprogramme, die Aktivierung und Funktionstraining beinhalten [42], Erfolge hatten. Positive Fallberichte liegen außerdem für die Anwendung von TENS, Biofeedback und EMLA® („Eutechtic mixture of local anesthetics“) vor. Insgesamt ergeben sich für die Therapie des CRPS bei Kindern und Jugendlichen einige Besonderheiten. Das ZSJM hat mit jährlich über 50 behandelten Kindern und Jugendlichen mit einem CRPS sicherlich die bundesweit größte Erfahrung in der Therapie dieser chronischen Schmerzerkrankung. Verwendet wird in modifizierter Form das oben vorgestellte Konzept einer multimodalen Schmerztherapie.

Unserer Erfahrung nach findet sich ein entzündliches Bild mit Rötung und Überwärmung, wie es bei Erwachsenen im akuten Stadium häufig zu sehen ist, bei Kindern und Jugendlichen deutlich seltener. Insgesamt hat die medikamentöse Therapie bei Kindern und Jugendlichen mit CRPS einen geringeren Stellenwert. Im Gegensatz dazu wird unter einer multimodalen Therapie mit aktivierenden, funktionsorientierten sowie verhaltenstherapeutischen Schwerpunkten eine nachhaltige Verbesserung bezüglich Schmerz und Funktion erreicht [11, 24]. Invasive Verfahren sollten aufgrund der überwiegend guten Prognose des Erkrankungsbildes bei Kindern und Jugendlichen noch kritischer und zurückhaltender in Erwägung gezogen werden als beim Erwachsenen und sind fast immer kontraindiziert [3]. Bestehende Funktionseinschränkungen und sensorische Störungen sollten rasch abgebaut werden, damit die Patienten die betroffene Extremität wieder aktivieren und in Alltagsabläufe integrieren. Dazu werden Elemente wie spielerisches Bewegungstraining (z. B. Fuß: Fortbewegen durch Parcours, Übungen auf dem Trampolin etc.; Hand: Armbänder knüpfen, Knete etc.), sportliche Aktivitäten, aber auch Alltagstraining genutzt (s. o.). Ein weiterer wesentlicher Bestandteil der Behandlung ist ein Desensibilisierungstraining gegenüber verschiedenen Reizen. Dabei führen die Patienten regelmäßig Wechselbäder/-duschen durch, im Anschluss wird die betroffene Extremität mit einem Handtuch trocken gerubbelt, eingecremt, und zum Abschluss wird eine Igelballmassage durchgeführt. Bei Patienten mit ausgeprägter Allodynie kann dieses Verfahren erst langsam über viele Zwischenschritte (z. B. zunächst Bestreichen der Haut mit einer Feder usw.) erarbeitet werden. Bei stark chronifiziertem CRPS oder bei ausgeprägter Bewegungs-/Berührungsangst wird das Aktivierungs- und Desensibilisierungsprogramm zunächst zugunsten der Spiegeltherapie bzw. des „graded motor imagery“ [36] zurückgestellt. Bei CRPS-Patienten kommen therapeutische Elemente der Ergotherapie wie „Fühlkiste“ (Raps, Linsen, Traubenkerne), Wärmebäder (Paraffinbad) und aktive Übungsbehandlungen unter ergonomischen Gesichtspunkten (manuelle Arbeiten; Knete, Hilfsmittel) noch mehr zum Einsatz als bei generalisierten Schmerzstörungen. Wesentlich sind auch eine ergonomische Beratung für Schule oder Arbeitsplatz sowie eine Beratung bezüglich Hobbys (z. B. Haltung des Musikinstruments etc.).

Unter multimodaler Therapie wird eine Verbesserung bezüglich Schmerz und Funktion erreicht

Insgesamt kann durch die genannten Therapiemaßnahmen insbesondere zu Beginn der Erkrankung meist innerhalb von Wochen eine deutliche Besserung und auch ein vollständiges Verschwinden des CRPS erreicht werden. Bei einem Teil der Patienten kommt es zu Rezidiven, die auch an anderen Lokalisationen auftreten können. Eine sekundäre Generalisierung zur generalisierten Schmerzstörung ist möglich. Rasche Diagnostik und die Behandlung durch erfahrene Einrichtungen machen die Prognose des CRPS bei Kindern und Jugendlichen daher günstiger als beim Erwachsenen.

Fazit für die Praxis

  • Das rechtzeitige Erkennen einer chronischen Schmerzstörung ist wesentlich für die Prognose.

  • Medikamentöse Ansätze sind bei der Therapie chronischer Schmerzerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen meist nur eingeschränkt wirksam.

  • Zentraler Ansatz für das pathophysiologische Verständnis chronischer Schmerzen und ihre Therapie ist das biopsychosoziale Schmerzkonzept.

  • Der Beginn einer Schmerzbehandlung in einem stationären Setting mittels multimodaler Therapie hat sich für Kinder und Jugendliche bei chronischem Verlauf, deutlichen Alltagseinschränkungen und Komorbiditäten etabliert.

  • Eine multimodale Therapie ist bei Kindern und Jugendlichen erfolgreich. Ziele sind ein verbesserter Umgang mit dem Schmerz und das Erlernen von Strategien zu Schmerzbewältigung, -reduktion, und -management. Hierfür sind Teams erforderlich, die Ausbildung und Erfahrung in der schmerztherapeutischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen haben.

  • Dringender Bedarf besteht in der Entwicklung ambulanter, wohnortnaher Therapieangebote.