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Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft (DOG), Retinologische Gesellschaft e. V. (RG), Berufsverband der Augenärzte Deutschlands e. V. (BVA) et al (2023) Stellungnahme zur augenärztlichen Untersuchung bei Verdacht auf ein Schütteltrauma-Syndrom (STS). Ophthalmologie 120:1233–1237. https://doi.org/10.1007/s00347-023-01921-6.
Die Stellungnahme von DOG, RG und BVA zum STS [1, 36] ist gleichermaßen gut wie wichtig, stellt doch die Kindesmisshandlung (KM) ganz allgemein ein fortwährendes, mit sehr hoher Dunkelziffer behaftetes Problem dar [2]. Der ophthalmopathologisch orientierte Leserbriefschreiber, der es im Labor leider mehrfach mit einer tödlich verlaufenden KM zu tun bekam, erlaubt sich einige ergänzende, zum Teil auch über das STS hinausgehende Bemerkungen, welche der Stellungnahme keinen Abbruch tun.
Etwa 40 % der misshandelten Kinder weisen eine Augenbeteiligung auf [3]. Es wurde geschätzt, dass etwa 4–6 % aller misshandelten Kinder wegen einer periokulären oder okulären Manifestation primär dem Augenarzt – gemeint immer auch Augenärztin – vorgestellt werden [4,5,6]. Damit fällt dem Augenarzt unter Umständen als Erstem die Verantwortung zu, ein nicht selten letal verlaufendes und mit hoher „Rezidivgefahr“ von (mindestens) 30–50 % assoziiertes „Leiden“ [2, 3, 7] zu erkennen und notwendige, unter Umständen lebenserhaltende Schritte einzuleiten.
Wie korrekterweise geschrieben wird, wird heute in der englischsprachigen Literatur der Begriff des „abusive head trauma“/AHT gegenüber dem STS bzw. „shaken baby syndrome“/SBS favorisiert, um über das Schütteltrauma hinausgehende Gewalteinwirkungen mit zu erfassen [8]. Das „reine“ STS mit Netzhautblutungen spielt bei der Misshandlung insbesondere von Kindern im 1. Lebensjahr eine ganz wesentliche, wenn nicht gar dominante Rolle, ist aber insgesamt nur ein kleinerer Ausschnitt aus dem gesamten KM-Komplex [2, 9]. Mitunter kommt es auch bei geschüttelten Kindern zu stumpfen Kopftraumata oder anderen Verletzungen, also zu einer Überlagerung mehrerer Schädigungsmechanismen, die von der prägnanten, auf das STS fokussierenden Stellungnahme nicht erfasst werden konnten. Insofern möge ein kleiner Exkurs gestattet sein.
Gelegentlich sind kutane Hämatome am Rumpf durch die „schüttelnden Hände“ festzustellen. Ansonsten zeigt das STS üblicherweise keinerlei äußerlich erkennbaren Symptome am Kopf und den Augen [10, 11]. Die ophthalmologischen Manifestationen der KM im Allgemeinen sind sehr vielgestaltig [11, 12]. Lidhämatome, Hyposphagmata [13], stumpfe Verletzungen der Augen mit Iridodialyse und Linsenluxation bis hin zur Bulbusruptur [14] können grundsätzlich vorkommen und sprechen gegen ein „reines“ STS ebenso wie das Münchhausen-Syndrom by proxy (MSbP), bei dem eine „normale Erkrankung“ beim Kind z. B. durch beigebrachte Intoxikation oder Verätzung von Erwachsenen vorgetäuscht wird [9, 15]. Verletzungen durch spitze Gegenstände im Rahmen der KM sind selten [9].
Bis zum Jahr 2000 ging man davon aus, dass Netzhautblutungen bei Kleinkindern (Abb. 1) nahezu beweisend für ein stattgefundenes Schütteltrauma sind [4, 11, 16]. Aussagen wie „Retinal hemorrhages in young children have almost become diagnostic of child abuse“ [16] und ähnliche waren keine Seltenheit. Nicht zuletzt nach der provokanten Frage des britischen Pathologen Brian Clark „Retinal hemorrhages: Evidence of abuse or abuse of evidence“ [17] wurden die Blutungen zunehmend kritisch hinterfragt und in ihrer Beweiskraft für ein STS relativiert. Heute weiß man, dass auch beabsichtigte oder unbeabsichtigte Stürze eines Säuglings aus geringer Höhe grundsätzlich zu einem subduralen Hämatom und über dieses zu retinalen Hämorrhagien führen können [16]. Richtigerweise führt die Stellungnahme daher aus, dass Netzhautblutungen allein nicht beweisend für eine Misshandlung sind und immer im Zusammenhang mit anderen okulären und nichtokulären Symptomen, also in der interdisziplinären Gesamtschau zu beurteilen sind. Fehlende Netzhautblutungen schließen ein STS, wie mitgeteilt, nicht aus. Einseitigkeit der Blutungen ist durchaus mit einem STS vereinbar [11, 18, 19], wobei die Netzhautblutungen in der Regel auf der gleichen Seite liegen wie die assoziierte intrakranielle Blutung [11, 19]. Für die Unilateralität der Blutungen gibt es eine nicht bewiesene, aber plausible biomechanische Erklärung [19, 20].
Retinale Blutungen im Kindesalter können zahlreiche Ursachen haben und erfordern deshalb differenzialdiagnostische Überlegungen in verschiedene Richtungen [1, 21, 22]. In den ersten Lebenswochen sind v. a. geburtsbedingte Netzhautblutungen in Erwägung zu ziehen. Deren Häufigkeit wurde mit ca. 20–50 % nach Spontangeburt, 70 % nach (heute kaum noch praktizierter) Zangengeburt, aber nur ca. 1 % nach Sectio caesarea angegeben [6, 21, 23, 24]. Eine Sectio in der Anamnese schließt geburtsbedingte Blutungen nicht aus, macht sie aber sehr unwahrscheinlich. Daher sollte bei Verdacht auf STS in den ersten Lebenswochen immer der Geburtsvorgang berücksichtigt werden. Geburtsbedingte Blutungen resorbieren sich in der Regel schneller als STS-induzierte.
In einem Strafprozess versuchen Verteidiger regelmäßig – und das ist ihre Aufgabe – die Schuld der/des Beklagten zu verneinen oder zu relativieren. Es wird heute davon ausgegangen – und das ist plausibel – dass ein STS mit Netzhautblutungen eine „erhebliche Gewalteinwirkung“ erfordert [25, 26]. Wie stark genau diese Gewalteinwirkung gewesen sein muss, um die nachgewiesenen Veränderungen hervorzurufen, ist in Ermangelung von (naturgemäß nicht durchführbaren) Studien oder hinreichend erprobter Dummys aber kaum „gerichtsfest“ zu sagen. „The precise level of force required to cause retinal hemorrhages remains uncertain“ [25] und „The requirement for severe shaking forces is no more than a favored but unproven hypothesis“ [17]. Der Gerichtsmediziner John Plunkett formulierte ähnlich: „We should admit that we do not know the force required to cause the injury“. Und er schloss seinen Beitrag: „We must not forget that our only responsibility is to bear witness within the limits of science“ [27]. Das vor allem ist der eigentliche „juristische Knackpunkt“. Mit der Behauptung, er habe das Kind zwar geschüttelt, das aber nicht sehr stark und ohne zu wissen, dass dadurch Schäden entstehen können, kommt ein Beschuldigter vor Gericht unter Umständen davon oder bekommt zumindest deutlich mildernde Umstände zugebilligt.
Neben den retinalen Blutungen gilt die in der Stellungnahme erwähnte, kraterartige Faltenbildung der Netzhaut am hinteren Pol (Abb. 1) als charakteristisch für das STS [5, 11, 12, 28,29,30,31]. Sie ist aber ebenfalls nicht beweisend, denn sie kommt z. B. auch im Rahmen des Terson-Syndroms vor. Ihre Häufigkeit beim STS wurde mit 6–50 % angegeben [5, 11, 28,29,30]. Pathogenetisch spielt Glaskörperzug die wesentliche Rolle [30]. Wegen der Bursa macularis ist die Elevation der Netzhaut in der Regel zirkulär. Innerhalb des Kraters ist die innere Grenzmembran (ILM) meist separiert. Die so entstandene Höhle ist eingeblutet, sodass eine „hämorrhagische Retinoschisis“ entsteht [11, 30, 31].
Nach der Corona-Pandemie sollte nicht unerwähnt bleiben, dass sozioökonomische Krisen die Frequenz der KM (und damit auch des STS) aus verschiedenen Gründen erhöhen können [32].
Die Übergänge von „strenger Erziehung“ zur Misshandlung sind fließend. Noch 2002 gaben 17 % befragter Eltern an, dass eine „Tracht Prügel“ „vertretbar“ sei [9]. Die erste Beschreibung einer KM soll auf Ambroise Tardieu und das Jahr 1860 zurückgehen (zitiert nach [8]). Über das Vorkommen von retinalen Blutungen bei KM soll J. Aikman 1928 berichtet haben (zitiert nach [22]). Das Thema KM begann aber erst nach dem 2. Weltkrieg breiteren Eingang in die Gesellschaften und die wissenschaftliche Literatur zu finden. Im Jahr 1961 wurde der (heute weniger gebräuchliche) Begriff „battered child syndrome“ (BCS) geprägt [33] und 1 Jahr später publiziert [34], 1964 folgte die erste neuere Beschreibung einer ophthalmologischen Manifestation der KM in Form einer Katarakt und einer Ablatio retinae [35]. Heute nimmt die KM im wissenschaftlichen Schrifttum einen breiten Raum ein. Die Publikationen in den verschiedensten Journalen sind Legion und kaum noch zu überblicken. Einige Fragen insbesondere zur Pathogenese der Netzhautblutungen [22, 31] sind noch immer nicht hinreichend beantwortet.
Abschließend bleibt, an den Frankfurter Neuropädiater Gert Jacobi (1933–2011) und seinen jahrzehntelangen Kampf gegen die KM zu erinnern [2, 7, 9]. Seine intensiven Erfahrungen legte Jacobi 2008 als Herausgeber und Autor in einem umfassenden, zum Teil schockierenden, nichtsdestotrotz auch heute noch unbedingt lesenswerten und jedem KM-Interessierten zu empfehlenden Buch nieder [2].
Literatur
DOG, RG, BVA (2023) Stellungnahme zur augenärztlichen Untersuchung bei Verdacht auf ein Schütteltrauma-Syndrom (STS). Klin Monbl Augenheilkd 240:1421–1426 (Gleichlautend in Ophthalmologie 2023; 120: 1233–1237)
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Dieser Leserbrief erscheint auch in der Zeitschrift Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde, Georg Thieme Verlag, Stuttgart.
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Rohrbach, J.M. Immer noch Raum für Disput: zum STS und AHT („abusive head trauma“). Ophthalmologie 121, 328–330 (2024). https://doi.org/10.1007/s00347-024-01999-6
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