Anamnese
Geschichte
Bei dem Patienten handelte es sich um einen 29-jährigen Sozialarbeiter, der seit knapp 1,5 Jahren an persistierenden diffusen beidseitigen Beinbeschwerden litt. Im September 2017 begab er sich auf eine 8‑stündige Bergtour mit Auf- und Abstieg. Danach absolvierte er am gleichen Abend ein Langhanteltraining und führte tiefe Kniebeugen aus. Plötzlich verspürte er einen „zerrenden Schmerz“, den er als „beidseitige Explosion im hinteren Oberschenkel“ beschrieb, als würde „warmes Wasser die Beine hinunterfließen“. Trotz einer 3‑wöchigen Ruhephase blieben seine Beschwerden in beiden Beinen bestehen.
Schulmedizinische Diagnostik
Um die Ursache seiner Beschwerden zu verstehen und Linderung zu erfahren, suchte der Patient seinen Hausarzt auf und wurde für 18 Sitzungen zur Physiotherapie überwiesen. Medizinische Trainingstherapie, Nervenmobilisation und manuelle Triggerpunkttherapie hatten keinen Einfluss auf seine Beschwerden. Einzig „dry needling“ sowie klassische Massage der ischiokruralen und Wadenmuskulatur führten zu einer kurzzeitigen Schmerzabnahme (2–3 Tage), brachten jedoch keine anhaltende Linderung.
Verunsichert durch das Ausbleiben einer Besserung, begab sich der Patient erneut in ärztliche Behandlung. In den folgenden Monaten wurde ein großes Blutbild inkl. Borrelioseabklärung durchgeführt, der Neurostatus (Elektroneurographie N. ischiadicus, N. suralis, N. tibialis, N. peroneus superficialis, N. peroneus profundus) erhoben und die sudomotorische sympathische Reizantwort überprüft.
Des Weiteren wurden eine Ganzkörper-Muskel-Magnetresonanztomographie und eine Muskelbiopsie des M. biceps femoris durchgeführt. Zudem wurden Nahrungsmittelunverträglichkeiten (Zöliakie, Fruktoseintoleranz, Laktoseintoleranz) geprüft, eine Darmspiegelung vorgenommen und eine Abklärung bezüglich mitochondrialer Dysfunktion durchgeführt.
Sämtliche Untersuchungen blieben ohne Befund und es konnte keine den Beschwerden zugrunde liegende Erkrankung ausgemacht werden. So wurde dem Patienten die unspezifische schulmedizinische Diagnose „muskuläre Dysbalance“ gestellt.
Symptomverhalten
Als Hauptproblem nannte der Patient beidseitige intermittierende, diffuse, massive, großflächige Schmerzen an den hinteren Oberschenkeln zwischen der Gesäßfalte und der Kniekehle (Abb. 2). Zudem beschrieb er ziehende, brennende und krampfartige Schmerzen in beiden Waden, die sich teilweise kribbelnd, taub, glasig und zerbrechlich anfühlten (Abb. 2).
Die Wadenbeschwerden wurden sporadisch begleitet von einem Kälte- und Schweißgefühl an den Füßen. Eine klare Unterscheidung der beiden Schmerzgebiete (Abb. 2) war für den Patienten schwierig, da die Beschwerden meist zusammen auftraten.
Einschränkungen im Alltag verspürte er beim Sitzen (>30 min). Des Weiteren klagte der Patient über Probleme bei körperlicher Betätigung wie beim kürzlichen Wandern mit dem Großvater (>1 h), langsamem Joggen (>1 km), „Stop-and-go-Belastungen“ und Snowboarden (Tab. 2).
Tab. 2 Die wichtigsten Parameter aus der Anamnese in Anlehnung an die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) Linderung verschafften ihm Dehnung der Oberschenkel- und Wadenmuskulatur, Ruhe, eine weiche Sitzunterlage, Reduktion der provozierenden Aktivitäten sowie Verzicht auf Sport.
Im Tagesverlauf beschrieb der Patient morgens ein Schweregefühl der Beine, als wären diese übersäuert. Das Schweregefühl nahm im Verlauf des Tages ab. Die Beinschmerzen jedoch unterlagen keinem 24 h-Rhythmus und waren tagsüber positions- bzw. haltungsabhängig. In der Nacht war der Patient beschwerdefrei.
Als Ziel nannte er Schmerzfreiheit im Alltag und beim Sport.
Zum Erfassen der Einschränkungen im täglichen Leben wurde die Patient-Specific Functional Scale (PSFS) eingesetzt ([12]; Tab. 2). Die PSFS wurde aufgrund ihrer Reliabilität, Validität und Responsivität (Empfindlichkeit für Veränderung) ausgewählt [12]. Dabei wurde der Patient aufgefordert, seine vorhandenen Einschränkungen bei von ihm ausgewählten Aktivitäten auf einer Skala von 0 bis 10 zu quantifizieren (0 = maximale Einschränkung, 10 = keine Einschränkung).
Infolge der unspezifischen medizinischen Diagnose und der Tatsache, dass seine Beschwerden nur bei ausgewählten Aktivitäten auftraten, wurde kein diagnosespezifischer Fragebogen eingesetzt.
Spezielle Fragen
Der Patient erfreute sich eines guten Allgemeinzustands, Nebendiagnosen waren ihm nicht bekannt, und er gab anamnestisch weder Rückenschmerzen noch Störungen von Miktion, Defäkation, Sensorik oder Motorik an. Husten, Niesen und Pressen waren schmerzfrei möglich. Anamnestisch konnten weder „red flags“ ausgemacht noch Kontraindikationen für eine Behandlung erkannt werden.
Zum Zeitpunkt der Anamnese nahm der Patient keine Medikamente ein. Durch eine frühere, vorübergehende Einnahme von entzündungshemmenden Medikamenten (nichtsteroidale Antirheumatika) konnten seine Beschwerden nicht beeinflusst werden. Im Gespräch erwähnte der Patient, dass er vor 5 Jahren an einer generalisierten Angststörung litt, die mit Escitalopram erfolgreich behandelt werden konnte.
Die Beinbeschwerden des Patienten waren nicht stressabhängig. Um den Einfluss von katastrophisierenden Gedanken und Angstvermeidungsverhalten auf die Beschwerden evaluieren zu können, wurden dem Patienten die Pain Catastrophizing Scale (PCS) und der Fear Avoidance Beliefs Questionnaire (FABQ), zwei valide und reliable Fragebogen, zur Beantwortung vorgelegt und anschließend ausgewertet [13, 14].
In der PCS erreichte der Patient 7 von 52 möglichen Punkten. Das war ein tiefer Wert und konnte als klinisch nicht relevant interpretiert werden [15]. Beim FABQ wurden insgesamt 23 von 96 Punkten angegeben. In beiden Subskalen waren die erreichten Werte deutlich tiefer als die in der Literatur vorgeschlagenen Cut-off-Werte [14, 16]. Zudem konnten im Gespräch keine weiteren „yellow flags“ ausgemacht werden. Dies wies darauf hin, dass der Einfluss von psychosozialen Faktoren auf die Beschwerden des Patienten klein war.
Körperliche Untersuchung
Neurologie
Zum Zeitpunkt der Erstuntersuchung war der Patient beschwerdefrei. Da er in der Anamnese von Taubheitsgefühlen in den Beinen berichtet hatte, wurde zu Beginn der Untersuchung eine neurologische Testung (Sensorik, Motorik, Reflexe) der unteren Extremität durchgeführt – ohne Befund.
Funktionelle Demonstration
Im Rahmen der funktionellen Demonstration wurde der Patient aufgefordert, Sprünge, Ausfallschritte und einbeinige Kniebeugen auszuführen. Es konnten weder Beschwerden provoziert noch Defizite erkannt werden.
Fersen- und Zehengang waren problemlos möglich, wobei der Fersengang die Schmerzen in den Waden reproduzierte (Tab. 2). Der Finger-Boden-Abstand war null und verursachte keine Beschwerden; die neurodynamische Provokation über Nackenflexion war negativ.
Aktive und passive Untersuchung
Die aktive und passive Untersuchung sowie Provokationstests von Lendenwirbelsäule, Iliosakral‑, Hüft- und Kniegelenken waren unauffällig. Die passive Untersuchung der Brustwirbelsäule in Bauchlage löste weder Beschwerden aus noch ließen sich vergleichbare Zeichen finden.
Durch aktive und passive Dorsalextension des Fußes in Knieextension konnten die Schmerzen in den Waden ausgelöst werden (Abb. 4; Tab. 3).
Tab. 3 Die wichtigsten Parameter aus der körperlichen Untersuchung. Die Intensität der reproduzierten Schmerzen war zum Zeitpunkt der Befundaufnahme seitengleich Neurodynamik
Die Palpation des N. ischiadicus und dessen Ausläufer waren beidseits ohne Befund. Aufgrund der dorsalen Beinschmerzen wurde auf beiden Seiten eine neurodynamische Untersuchung des N. ischiadicus vorgenommen (Abb. 3).
Im Slump- und im Straight-Leg-Raise(SLR)-Test zeigte sich kein Seitenunterschied. Die neurodynamische Differenzierung war negativ und die Beschwerden des Patienten konnten nicht reproduziert werden.
Auch SLR-Betonungen des N. tibialis (Dorsalextension, Eversion), N. peroneus (Plantarflexion, Inversion) und N. suralis (Dorsalextension, Inversion) waren unauffällig.
Palpation
Durch lokale Palpation der ischiokruralen und tiefen Gesäßmuskulatur konnten keine bekannten Schmerzen reproduziert werden. Eine mögliche „Referred-pain-Problematik“ ließ sich dadurch nicht bestätigen.
Die Palpation des lateralen M.gastrocnemius-Kopfs reproduzierte auf beiden Seiten die bekannten Schmerzen des Patienten (Tab. 3).
Die Beschwerden des Patienten konnten sowohl an den dorsalen Oberschenkeln als auch in den Waden durch „pinching“ (Kneifen; [9]) des subkutanen Bindegewebes reproduziert werden (Abb. 4; Tab. 3).