Der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie (WBP) hat 2018 im Psychotherapeutenjournal (Heft 4, S. 353–359) sein Gutachten zur humanistischen Psychotherapie (HPT) vom 11.12.2017 im Speziellen und seine Aufgaben im Allgemeinen erläutert.

Die Fragen, die sich im Zusammenhang mit den Erläuterungen des WBP über seine Aufgaben stellen, sind alt. Sie wurden vor 18 Jahren schon einmal gestellt und haben an Aktualität nichts eingebüßt (Eckert 2001).

Die aktuellen Ausführungen zur „Politik“ des WBP können also als Wiedervorlage eines Beitrags zu der Frage an den WBP gesehen werden, welchen wissenschaftlichen und welchen gesundheits- und versorgungspolitischen Weg er – weiterhin – gehen will.

2001: Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie: Quo vadis?

Der nachfolgende gekürzte Wiederabdruck wird kursiv gesetzt.

[Die Hälfte] der auf zunächst fünf Jahre angelegten Amtszeit dieses WBP ist um. Zeit also für eine Zwischenbilanz und einen Blick in die Zukunft.

Die Kritik an der Arbeit des Beirats und dem ihn legitimierenden Psychotherapeutengesetz (PsychThG) hat schon sehr früh eingesetzt. Ulfried Geuter z. B. schrieb 1999 unter dem Titel „Die Psychotherapie und die Politik“ kritische Anmerkungen zum Psychotherapeutengesetz und seine Umsetzung hier an dieser Stelle. Haben sich seine düsteren Prognosen, die er u. a. unter den Überschriften „Politik statt Wissenschaft“, „Berufsverbot für Kollegen“ oder „Monokultur der Schulen“ stellte, bestätigt, oder ist es zu einer Entwicklung gekommen, von der die Psychotherapie als Fach und damit auch ihre Patienten profitieren?

Der Gesetzgeber verband mit dem Psychotherapeutengesetz zwei wichtige Anliegen: Zum einen sollte gewährleistet werden, dass sich psychologische und ärztliche Psychotherapie nicht divergierend entwickeln. Dieses Anliegen fand seinen sichtbaren Ausdruck im § 11 PsychThG, der den WBP vorsieht und seine paritätische Besetzung mit Psychologen und Ärzten. Zum anderen sollte das PsychThG gewährleisten, dass Patienten, die einen Psychotherapeuten aufsuchen, dort auch eine Behandlung erhalten, die „wissenschaftlich anerkannt“ ist, d.h., es sollten keine unüberprüften, wirkungslosen oder gar schädlichen Methoden zur Anwendung kommen.

Messen wir die Arbeitsergebnisse des WBP an diesen beiden Intentionen, dann muss m.E. leider festgestellt werden, dass davon kaum etwas eingelöst worden ist.

Wir überspringen die Ausführungen unter der Überschrift „1. Ärztliche und psychologische Psychotherapie: zwei Welten mit unterschiedlichen Rechten“ (…) und fahren fort mit:

2. Es gibt [ im Jahr 2001 ] in Deutschland keine „wissenschaftlich anerkannten“, dafür aber jede Menge juristisch anerkannte psychotherapeutische Verfahren.

Der WBP ist nach zweieinhalbjähriger Arbeit zu dem Ergebnis gekommen, dass es in Deutschland derzeit kein Psychotherapieverfahren gibt, das seinen Kriterien von Wissenschaftlichkeit in einem Umfang genügt, dass darin Psychologische Psychotherapeuten gemäß PsychThG ausgebildet werden können.

Die Ausbildung von Psychologischen Psychotherapeuten in Deutschland erfolgt nur noch in Verfahren, die der WBP von einer Prüfung ausgenommen hat. Dabei ist allen Fachleuten bekannt, dass sich darunter auch psychoanalytische (z.B. Psychoanalyse nach Jung und Adler; vgl. Grawe et al. 1994; Psychoanalyse nach G. Ammon) bzw. „multimodale“ verhaltenstherapeutische (Kombinationen von verschiedenen Techniken) Verfahren befinden, deren Wirksamkeit überhaupt noch nie einer empirischen Überprüfung unterzogen worden ist.

Der WBP stellt dazu fest, dass die Verhaltenstherapie und die sogenannten psychoanalytisch begründeten Verfahren unter einer anderen Rechtssystematik anerkannt worden und daher im Sinne einer „Besitzstandswahrung“ juristisch legitimiert seien.

Fazit: Der bisher einzige Weg eines Psychotherapiefahrens in Deutschland, als „wissenschaftlich anerkannt“ (nach § 1, Abs. 3 PsychThG) zu werden, ist der einer juristischen Legitimation.

Manche mag dieses Ergebnis, dass zweieinhalb Jahre nach Inkrafttreten des PsychThG nur in den sog. Richtlinienverfahren ausgebildet werden darf, überraschen. Andere jedoch dann nicht, wenn sie die Politik der Richtlinienverbände verfolgt haben. So forderten noch im März 1998 die Vertreter der Richtlinienverbände, „dass allen Psychotherapeuten, die nicht in ihren Verfahren ausgebildet wurden, die Approbation verweigert werde. Eine Politik des Berufsverbots gegenüber den eigenen Kollegen“ (Geuter 1999 , S 324).

Zwei andere prominente Vertreter der Richtlinienverfahren veröffentlichten 1999 „Thesen zur Psychotherapie in Deutschland“ (Senf und Broda 1999 ) und kommen zu der Auffassung: „Keine Schaffung weiterer Grundverfahren“ (S. 4) und meinen damit, dass die psychoanalytisch begründeten Verfahren und die Verhaltenstherapien als „Grundverfahren“ ausreichen und andere Verfahren, wie die Gesprächspsychotherapie oder die systemische Therapie, die seit Jahrzehnten in der Krankenversorgung, Forschung und Lehre maßgeblich vertreten sind, von der Krankenversorgung auszuschließen sind.

Bleibt an dieser Stelle als Zwischenbilanz festzuhalten: Das bisherige Ergebnis der Arbeit des WBP entspricht exakt den berufspolitischen Vorstellungen der Verbände der sog. Richtlinienverfahren und den Zielvorgaben von wissenschaftlichen Vertretern dieser Verfahren, jedoch nicht den Intentionen des Gesetzgebers.

3. Alternative Auffassungen.

Natürlich werden diese Ergebnisse der bisherigen Arbeit des WBP von vielen kritisiert, nicht nur von Außenstehenden, sondern auch von Mitgliedern des WBP.

Es gab große öffentliche Symposien von Fach- und Berufsverbänden, u.a. von der AGPT (in Köln), DPTV (Köln), GwG (in Berlin), Stellungnahmen von einzelnen Wissenschaftlern (z.B. Kriz 2000; Legewie 2000), aber auch von Vereinigungen von Wissenschaftlern, z.B. der Neuen Gesellschaft für Psychologie, sowie zwei umfangreiche Rechtsgutachten (Redeker 1999; Franke 1999), in denen die Umsetzung des Psychotherapeutengesetzes sehr kritisch und in rechtlicher Hinsicht mehr als fraglich kommentiert wurde. Auf die rechtlichen Einwände kann hier aus Platzgründen nicht weiter eingegangen werden.

Stellvertretend für die vielen kritischen Einwände und inhaltlichen Vorschläge zur Verbesserung der Lage der Psychotherapie in der Krankenversorgung sollen die wesentlichen Gedanken referiert werden, die Peter Fürstenau in einem Vortrag niedergelegt hat, den er auf Einladung des WBP auf einer internen Expertentagung gehalten hat.

Kritik.

Fürstenau ( 2001 ) erhebt Einwände gegen den „Versuch der Globalsteuerung von Psychotherapie durch Lizenzierung von Verfahren“.

Er weist darauf hin, dass der WBP der empirischen Forschung bei der Vergabe der Lizenzen ein Gewicht eingeräumt habe, die der psychotherapeutischen Wirklichkeit nicht gerecht werde: „Psychotherapie ist nicht empirische Forschung, sondern eine gesellschaftlich ausgeformte professionelle Praxis“ (S. 2). Buchholz (1999) spreche zu Recht von Psychotherapie als „professioneller Praxis mit Wissenschaft zur Seite“ (S. 2). „Die Vorstellung, daß es möglichst eine, zur Not mehrere geprüfte Theorien gebe, die es in praktischen Situationen einfach korrekt anzuwenden gelte, ist ein Modell des 19. Jahrhunderts, das schon im 19. Jahrhundert selbst relativiert wurde“ (S. 2f.). Nach weiteren Belegen dieser Auffassung kommt Fürstenau zu dem Schluss, dass sich der Beirat mit seiner bisherigen Arbeit „in eine Sackgasse hineinmanövriert habe“ (S. 4). Er begründet diese Einschätzung ausführlich, um dann auf die „hidden agenda“ zu verweisen: „Eine der ältesten bis heute ungeniert ohne überzeugende Begründung praktizierten ständischen Strategien ist, im vermeintlichen Interesse von Klienten die Konkurrenz weiterer Anbieter der betreffenden beruflichen Leistungen möglichst vom Markt auszuschließen“ (S. 6).

Er weist auf eine in diesem Zusammenhang in der Wirtschaft erprobte Methode hin: Man erweitert seine Marktanteile durch Fusion. Im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen im Bereich Psychotherapie meint er jedoch, warnen zu müssen: „Im Zuge einer Reflexion der zugrunde liegenden ständischen Berufsinteressen könnte sich z.B. die heilige Allianz von Psychoanalytikern und Verhaltenstherapeuten, die erst während der Kämpfe um das Psychotherapeutengesetz entstand, als eine unheilige herausstellen“ (S. 6). In diesem Zusammenhang wurde auf einer der o.g. Podiumsdiskussionen das Bild geprägt: Durch seine Zusammensetzung sei die Situation des WBP vergleichbar der von Mercedes und Volkswagen, wenn diese beiden Autohersteller darüber entscheiden könnten, ob man die Autos von Opel, Ford oder anderer Hersteller eigentlich noch brauche.

In einem weiteren Kritikpunkt stellt Fürstenau heraus, dass die neueren Ergebnisse der empirischen Psychotherapieforschung, der Neurowissenschaften, der Psychologie und Soziologie ein anderes umfassenderes Modell des „seelischen Funktionierens und der therapeutischen Beeinflussung“ nahelegen als die herkömmlichen schulengebundenen Modelle und verweist auf den Ansatz von Grawe ( 1999 ). Er schließt seine Kritik mit dem Hinweis auf die Grenzen des Erkenntnisgewinns durch empirische Forschung.

Lösungsvorschläge.

Fürstenau plädiert vor dem Hintergrund seiner Kritik für eine „Psychotherapie mit Wissenschaft zur Seite“ und vor dem Hintergrund der klinischen Erfahrung für eine Methodenvielfalt: „Ein größeres Methodenangebot erhöht damit die Chance, dass jeder Patient den für ihn bestgeeigneten Therapeuten findet“ (S. 8).

Die „Globalsteuerung des Psychotherapiefeldes durch Lizenzierung, Anerkennung bestimmter Grundorientierungen, Methoden oder Techniken kann ersetzt werden durch ein Verfahren, das die Qualität der konkreten psychotherapeutischen Leistung fördert und sicherstellt, was die Möglichkeit von Kommunikation (Verständigung, aber auch Legitimation) über die konkrete psychotherapeutische Situation, ihre Rahmenbedingungen und das Verhalten der beteiligten Akteure impliziert. Die Legitimation unterschiedlicher psychotherapeutischer Umgangsweisen (Methoden, Techniken) erweist sich dann primär daran, wie weit sie unter ihren Regularien und Maximen des Vorgehens die Qualität der konkreten psychotherapeutischen Leistung jeweils einzuschätzen und zu kommunizieren ermöglicht. Dies wäre ein relevantes Zulassungskriterium“ (S. 8).

Er konkretisiert diese Zielsetzung folgendermaßen: „Erst auf dem Hintergrund zielbezogener Absprachen und Vereinbarungen sind jedoch professionelle therapeutische Prozesse qualitätsmäßig überhaupt einschätzbar, diskutierbar und gesellschaftlich, wirtschaftlich, juristisch, insbesondere sozialrechtlich legitimierbar. Innerhalb des angesprochenen umfassenden Modells kommt daher Verfahren der Qualitätssicherung die zentrale Steuerungsfunktion zu. Ohne diesen Modellbezug drohen Verfahren der Qualitätssicherung allerdings zu einem Rechtfertigungsalibi zu verkommen“ (S. 9).

Soweit die Ausführungen von Fürstenau.

Grawe kam mit seinem Beitrag auf derselben Veranstaltung zu einem vergleichbaren Schluss wie Fürstenau: Statt wie bisher in Analogie zur Zulassung von Medikamenten, sollten nicht mehr Psychotherapieschulen bzw. -schulrichtungen zugelassen werden, sondern Ausbildungsprogramme auf Bundesebene zertifiziert und auf Landesebene Ausbildungsinstitutionen zur Durchführung zertifizierter Ausbildungsprogramme lizenziert werden. Gleichzeitig werden die Psychotherapierichtlinien und das Gutachterverfahren durch Tätigkeit von Qualitätssicherungsstellen ersetzt.

Fürstenau schloss seine Ausführungen mit dem prophetischen Hinweis an die Mitglieder des WBP: „Allerdings mutet Ihnen dieser Vorschlag zu, die diskreten ständischen Berufsinteressen innerhalb Ihres Kreises offenzulegen und in ihrer Auswirkung auf die intendierten fachlichen Entscheidungen zu reflektieren und damit zu relativieren“ (S. 10).

2019: Wiedervorlage

Dem Beitrag aus 2001wurde ein Zitat aus dem vom Bundesministerium für Gesundheit in Auftrag gegeben Forschungsgutachten zu Fragen eines Psychotherapeutengesetzes vorangestellt:

Angesichts des gegenwärtigen Entwicklungsstandes aber wäre es ein Anachronismus und fachwissenschaftlich nicht zu rechtfertigen, wenn man den Beruf des Psychotherapeuten in verschiedene, nach Therapieschulen getrennte Sparten einteilen würde und dieses womöglich auch noch gesetzlich festschriebe. (Forschungsgutachten im Auftrag des BMG zu Fragen eines Psychotherapeutengesetzes, Meyer et al. 1991, S. 98)

Der im Forschungsgutachten von Meyer et al. (1991) noch gefürchtete „fachwissenschaftlich nicht zu rechtfertigende Anachronismus“ wurde bekanntlich 1999 in Form des Psychotherapeutengesetzes (PsychThG) Wirklichkeit, und zugleich wurde mit dem Gesetz (§ 11) eine Institution ins Leben gerufen, der WBP, der diesen Anachronismus verwalten bzw. gestalten helfen soll.

Vieles spricht dafür, dass der beklagte Anachronismus vom WBP seit 20 Jahren erfolgreich verwaltet wird.

So kommt Strauß (2019) bei seiner Bestandsaufnahme der Psychotherapieforschung zu dem Resümee:

Wenn man die erwähnten Ergebnisse zusammenfasst, könnte man zu der Schlussfolgerung kommen, dass die herkömmliche Wirksamkeitsforschung

zumindest in der jahrzehntelang praktizierten Form von Pferderennen (welches Therapieverfahren ist besser als alle anderen? Anmerk. des Verf.) nunmehr ausgedient hat (…). (Strauß 2019)

Die Pferderennen wurden bisher nicht eingestellt; vielmehr verwendete der WBP viel Energie und Zeit darauf, ein „Methodenpapier“ (Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie 2010) zu entwickeln, in dem geregelt wird, welche Pferde – in diesem Fall Studien – überhaupt ins Rennen geschickt werden dürfen. Bei der derzeit gültigen Fassung des Methodenpapiers handelt es sich um die 8. Revision der 2. Fassung.

Der Hinweis von Fürstenau, dass die schulengebundenen Modelle des „seelischen Funktionierens und der therapeutischen Beeinflussung“ sich gegenseitig widersprechen bzw. zu kurz greifen, findet keinen sichtbaren Niederschlag in der Arbeit des WBP.

Das wird in der Arbeit des WBP auch darin deutlich, dass er weiterhin mit hohem Arbeitsaufwand die Wirksamkeit von psychotherapeutischen Verfahren und Methoden prüft, obwohl inzwischen empirische Belege vorliegen, dass der Anteil der therapeutisch erzielten Veränderungen, der sich auf die jeweils angewandte psychotherapeutische Methode oder Technik zurückführen lässt, weniger als 10 % beträgt (Wampold 2001; Norcross und Lambert 2011).

Raketenkonstrukteure würden angesichts eines Aggregats, das nur etwa 10 % zum Raketenschub beizutragen in der Lage ist, ihre Bemühungen auf andere Faktoren richten, die eine Beschleunigung und ein Abheben ermöglichen.

Alternativen zu diesem offenkundigen theoretischen Holzweg haben bisher u. a. Orlinsky und Howard (1987, „Allgemeines Modell der Psychotherapie“), Grawe (1998, Psychologische Psychotherapie), Wampold (2001) und Wampold et al. (2018, „kontextuelles Metamodell“) und Kriz (2017, „Personzentrierte Systemtheorie“) entwickelt. Die Resonanz blieb (bisher) übersichtlich.

Eine Ausnahme könnte dem „kontextuellen Metamodell“ gelingen. Wampolds Buch (2001) hat eine zweite Auflage erfahren und ist nun in deutscher Übersetzung erschienen (Wampold et al. 2018). Auf die Relevanz dieses Ansatzes weist Strauß (2019, S. 5 f.) mit Nachdruck hin.

Sollte sich der WBP diesem Ansatz zuwenden, hätte er allerdings eine kognitive Dissonanz zu überwinden: Entsprechen doch drei der sechs wichtigsten kontextuellen Faktoren (Strauß 2019, Tab. S. 6) exakt den drei der sechs „notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Persönlichkeitsveränderungen durch Psychotherapie“, wie sie von Rogers (1957) empirisch identifiziert und geprüft worden sind.

Der WBP hatte die Gesprächspsychotherapie 2002 begutachtet und als wissenschaftlich anzuerkennendes Psychotherapieverfahren eingestuft. Die Dissonanz ist durch eine erneute Begutachtung der Gesprächspsychotherapie 2017 entstanden. Unter Verwendung gegenüber 2002 geänderter Prüfkriterien wurden zwar 18 Wirksamkeitsstudien anerkannt, aber zur Anerkennung des Verfahrens insgesamt fehle im Bereiche Angststörungen eine (!) Studie. Das hindert den WBP aber nicht daran, zu dem Schluss zu kommen:

Die Gesprächspsychotherapie „kann (…) somit auch nicht als Verfahren für die vertiefte Ausbildung entsprechend § 1 Abs. 1 der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Psychologische Psychotherapeuten empfohlen werden.“ (Wissenschaftlicher Beirat 2017, S. 32)

Somit hätten wir auf der einen Seite die vielfach empirisch bestätigte Therapietheorie von Rogers und auf der anderen Seite ein darauf basierendes Therapieverfahren, die Gesprächspsychotherapie, deren evidenzbasierte Wirksamkeit international anerkannt ist (z. B. Elliott et al. 2013), in der aber nach Meinung des WBP in Deutschland nicht mehr ausgebildet werden sollte, weil nach den seit 2010 gültigen Kriterien eine Studie fehlt. Gesprächspsychotherapie kommt in Deutschland seit fast 50 Jahren in allen Bereichen klinischer Versorgung psychisch Kranker zur Anwendung. Der WBP vertritt jedoch den Standpunkt, dass eine fehlende Studie mehr Gewicht hat als jahrzehntelange nachgewiesene Praxisbewährung, und empfiehlt, die Ausbildung in Gesprächspsychotherapie im Rahmen des PsychThG einzustellen. Der WBP bleibt allerdings bei seiner Schlussfolgerung den empirischen Nachweis schuldig, dass das Fehlen einer Studie zu einer Ausbildung führt, die für Patienten schädlich ist.

Das Vorgehen und die Schlussfolgerungen des WBP weisen eine Reihe von Ungereimtheiten auf:

  1. 1.

    15 Jahre nach der ersten positiven Beurteilung der Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie (GPT) durch den WBP begutachtet dieser 2017 die Gesprächspsychotherapie ohne den im § 11 des PsychThG vorgesehenen Prüfauftrag einer zuständigen Behörde erneut.

  2. 2.

    Die Begutachtung findet im Rahmen eines Antrags der Arbeitsgemeinschaft Humanistische Psychotherapie (AGHPT) statt, der ausdrücklich keine separate Beurteilung der den humanistischen Psychotherapie zugeordneten Verfahren vorsieht, also auch keine separate Beurteilung der GPT.

  3. 3.

    Die Begutachtung der humanistischen Psychotherapie (HPT) hätte abgebrochen werden müssen, als der WBP zu dem Schluss gekommen war, dass er diese nicht – wie beantragt – als ein Psychotherapieverfahren anerkennen könne (WBP 2010, S. 16). Der Antragsteller hätte darüber in Kenntnis gesetzt werden müssen. Der Antragsteller wurde nicht informiert und die der humanistischen Psychotherapie zugeordneten Verfahren bzw. Methoden wurden einzeln begutachtet, so auch die Gesprächspsychotherapie.

  4. 4.

    Der WBP führt zwei Gründe für eine erneute Begutachtung der GPT an:

    Erstens sei die positive Beurteilung der GPT 2002 „mit nur einer Stimme Mehrheit“ erfolgt, und zweitens sei das Prüfverfahren „zwischenzeitlich präzisiert“ (Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie 2018, S. 358) worden.

    Dazu ist festzustellen:

    1. 1.

      Es widerspricht demokratischen Spielregeln, eine Entscheidung aufzuheben, nur weil sie auf einem knappen Mehrheitsvotum beruht.

    2. 2.

      Die angewendeten „präzisierten“ Prüfkriterien stammen aus dem Jahr 2010 (sog. Methodenpapier, Version 2.8, Fußnote, a. a. O., S. 358). Der WBP begutachtete die Verhaltenstherapie 2003, die psychodynamische Therapie 2004, die interpersonale Therapie 2006, EMDR 2006, die Hypnotherapie 2006 und die Neuropsychotherapie 2008, d. h., bei all diesen Prüfungen wurden nicht die „präzisierten“ Prüfkriterien aus 2010 angewendet. Warum also jetzt und ausschließlich bei der Gesprächspsychotherapie?

  5. 5.

    Das Prüfverfahren des WBP ist im Hinblick auf die personelle Zusammensetzung des Beirats nicht fair. Er ist zur Zeit der wiederholten Begutachtung der Gesprächspsychotherapie nicht repräsentativ zusammengesetzt. Darauf weist Schweitzer (2018, S. 360–361) hin: Kein einziges Beiratsmitglied hatte zum Zeitpunkt der Prüfung der humanistischen Therapie seinen aktuellen Forschungs- und Praxisschwerpunkt in einer humanistischen Methode.

In seinen „Erläuterungen zum Gutachten zur Humanistischen Psychotherapie“ führt der WBP zugleich aus:

Der WBP hat sich schon in der Vergangenheit und wird sich auch in der Zukunft kontinuierlich für eine strukturelle Psychotherapieforschung in Deutschland einsetzen, die es gerade auch innovativen und nicht hinreichend belegten psychotherapeutischen Ansätzen ermöglichen soll, die erforderliche Evidenzbasierung zu erlangen. (a. a. O., S. 359)

Um diesem selbstverordneten Anspruch nachzukommen, wäre eine angemessene Reaktion des WBP auf das Prüfergebnis z. B. folgender Vorschlag gewesen.

Der WBP hat festgestellt, dass dem Verfahren Gesprächspsychotherapie zur „wissenschaftlichen Anerkennung“ nach den neuen Kriterien des WBP nur eine Studie fehlt. Wir setzen daher die Prüfung für weitere drei Jahre aus und unterstützen mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln die Durchführung der fehlenden Studie.

Vor diesem Hintergrund haben sich die Fachverbände für Gesprächspsychotherapie an den damals amtierenden Vorsitzenden des WBP gewendet und v a. um eine Beantwortung der Frage gebeten, warum die Gesprächspsychotherapie zum jetzigen Zeitpunkt erneut beurteilt worden ist. Da eine Antwort ausblieb, wurde die Frage öffentlich gestellt, in einem offenen Brief vom 18.04.2018 an den WBP, an die Bundesärzte- und Bundespsychotherapeutenkammer sowie in einem Leserbrief an das Deutsche Ärzteblatt:

Die Verbände haben in ihrem offenen Brief den ‚begründeten Verdacht‘ geäußert, ‚dass diese Prüfung im Interesse des G‑BA vorgenommen worden ist‘. Hintergrund für diesen Verdacht ist eine am Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg anhängige Klage gegen den G‑BA, demzufolge eine verfassungsrechtliche Widersprüchlichkeit vorliegt, wenn ein vom WBP wissenschaftlich anerkanntes Psychotherapieverfahren, hier die Gesprächspsychotherapie, vom G‑BA sozialrechtlich nicht anerkannt wird. (Deutsches Ärzteblatt2018)

Die Anhörung zu der Klage gegen den G‑BA hat inzwischen stattgefunden. Der Vorsitzende Richter am LSG wies die Klägerin und ihren Rechtsvertreter gleich zu Beginn der Anhörung auf die im Vergleich zum Zeitpunkt der Klageerhebung veränderte Rechtslage hin: Das erneute Gutachten des WBP würde der angestrebten Klage „den Boden unter den Füßen wegziehen“.

Eindeutiger kann die berufspolitische Wirkung der erneuten Begutachtung nicht beschrieben werden. Die Klägerin hat die Klage wegen Aussichtslosigkeit zurückgezogen.

Aus meiner Sicht hat sich damit der schon 2001 geäußerte Verdacht erhärtet: Der WBP verfolgt in Bezug auf die Gesprächspsychotherapie berufspolitische Interessen unter dem Mantel der Wissenschaft.

Quo vadis Wissenschaftlicher Beirat?