Zusammenfassung
Eine retrospektive Auswertung der im Zeitraum von 2009 bis 2018 am Institut für Rechtsmedizin Gießen durchgeführten 5400 Sektionen und Leichenschauen ergab 111 Todesfälle als Folge eines Schusswaffengebrauchs. Diese Fälle wurden hinsichtlich allgemeiner Daten, demografischer Merkmale der Verstorbenen, Schussverletzungen, Todesumstände und -orte, verwendeter Waffen, weiterführender Untersuchungen und etwaiger Täter analysiert.
Die Schusstodesfälle verteilten sich auf knapp ein Viertel Homizide, drei Viertel Suizide sowie einen Unfall. Etwa 9 von 10 Schusstoten waren männlich; nahezu drei Viertel der Schusstodesfälle betraf Menschen in der 2. Lebenshälfte. Der häufigste Todesort war sowohl bei Homiziden als auch bei Suiziden das häusliche Umfeld. Ganz überwiegend wiesen die Leichname nur eine einzige Schussverletzung auf; bei den Suiziden lagen nie mehr als 3 Schussverletzungen vor. Die maximale Anzahl von 17 Schussverletzungen fand sich bei 2 Homiziden. Kurzwaffen kamen in zwei Dritteln aller Fälle zum Einsatz, bei den Homiziden deutlich häufiger als bei den Suiziden. Aussagen zum Legalitätsstatus des Waffenbesitzes konnten in etwa zwei Drittel aller Fälle getroffen werden.
Aus dem Vergleich mit Datenerhebungen aus rechtsmedizinischen Instituten in Deutschland und anderen Ländern lassen sich teils deutliche regionale Besonderheiten ableiten.
Abstract
A retrospective evaluation of the 5400 autopsies and external post-mortem examinations of corpses conducted at the Institute of Legal Medicine Giessen between 2009 and 2018 revealed 111 deaths as a result of firearm use. These cases were analyzed in terms of general data, demographic characteristics of the deceased, gunshot wounds, circumstances and locations of death, firearms used, further investigations, and any perpetrators.
The shooting fatalities were divided into nearly one quarter homicides, three quarters suicides and one accident. Approximately 9 out of 10 shooting deaths were male, and nearly three quarters of the shooting deaths involved people in the second half of life. The most common place of death for both homicides and suicides was the home environment. In the vast majority of cases the bodies had only a single gunshot wound and in the suicides there were never more than three gunshot wounds. The maximum number of 17 gunshot wounds was found in 2 homicides. Handguns were used in two thirds of all cases and were used much more frequently in homicides than in suicides. Statements on the legal status of weapon possession could be made in about two thirds of all cases.
Comparisons with data collected by other Institutes of Legal Medicine in Germany and other countries revealed regional peculiarities.
Avoid common mistakes on your manuscript.
Einleitung
Weltweit sterben – ohne kriegsbedingte Tötungen – jährlich etwa 250.000 Menschen durch Schusswaffen. In 64 % der Fälle soll es sich dabei um Homizide, in 27 % um Suizide und in 9 % um Unfallgeschehen handeln. Mehr als die Hälfte der globalen Schusstodesfälle entfällt auf 6 Länder, in denen etwa 10 % der Weltbevölkerung leben: Brasilien, die Vereinigten Staaten von Amerika, Mexiko, Kolumbien, Venezuela und Guatemala [23]. In der Europäischen Union kommt es pro Jahr zu etwa 6700 Schusstodesfällen, die zu 75 % als Suizide, 15 % als Homizide und 10 % als unfallbedingt eingeordnet werden [34].
Zur Aufhellung der Todesumstände und der im Einzelfall folgenreichen Einordnung eines Schusstodesfalles als homizidal, suizidal oder unfallbedingt sollten rechtsmedizinische Untersuchungen erfolgen und ihre Ergebnisse in der Zusammenschau mit polizeilichen Ermittlungsergebnissen betrachtet werden [3,4,5,6, 11, 17, 24, 35]. Da Häufigkeiten und Arten von Schusstodesfällen starke regionale Unterschiede aufweisen [25, 26], kann die retrospektive Auswertung regionaler Schusstodesfälle [7, 21, 22, 28] wichtige Informationen für die rechtsmedizinische und (kriminal-)polizeiliche Arbeit liefern.
Ziel der Studie
Ziel der nachfolgend dargelegten Studie ist es, systematische Daten zu Epidemiologie und Phänomenologie von Schusstodesfällen im Einzugsgebiet des Instituts für Rechtsmedizin Gießen zu erheben, auszuwerten, mit andernorts erhobenen Daten zu vergleichen und zu einem Erkenntnisgewinn für die Fallarbeit beizutragen.
Material und Methoden
Es erfolgte eine retrospektive Analyse aller Leichenschauen und Obduktionen, die am Institut für Rechtsmedizin in Gießen in dem 10-Jahres-Zeitraum von 2009 bis 2018 durchgeführt wurden. Einschlusskriterium für die weitergehende Auswertung waren Fälle, in denen der Tod unmittelbar oder mittelbar infolge einer oder mehrerer Schussverletzungen eintrat. Über die institutseigenen Unterlagen hinaus erfolgte, soweit möglich, Akteneinsicht gemäß § 476 StPO bei den zuständigen Staatsanwaltschaften.
Ergebnisse
Allgemeine Daten
Am Institut für Rechtsmedizin Gießen wurden Unterlagen von 5400 Obduktionen und Leichenschauen aus dem oben genannten Zeitraum gesichtet, wobei Fälle aus dem Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft Kassel erst ab dem 01.01.2011 eingeschlossen werden konnten. Es ergaben sich 111 Todesfälle, bei denen eine Schussbeibringung maßgeblich für den Todeseintritt war. In 93 Fällen (84 %) erfolgte eine Obduktion, in 18 Fällen (16 %) lediglich eine rechtsmedizinische Leichenschau ohne nachfolgende Untersuchungen.
Die Verteilung auf die zuständigen Ermittlungsbehörden ergibt sich aus Tab. 1.
Todesumstände, Alter und Geschlecht der Verstorbenen
Hinsichtlich der Todesumstände wurde unterschieden nach Tötung durch fremde Hand (Homizid) oder die eigene Hand (Suizid) sowie Unfallgeschehen (Tab. 2).
In knapp einem Viertel der Fälle (27 Fälle, 24 %) lag eine Tötung durch fremde Hand vor, miteinbezogen tödliche Schussabgaben durch die Polizei und Opfer eines Homizids mit nachfolgender Selbsttötung des Täters. Eine Selbsttötung der Verstorbenen ließ sich in drei Viertel der Fälle (83 Fälle, 75 %) ermitteln, darunter auch die Täter in Homizid-Suiziden bzw. erweiterten Suiziden. Ein Fall wurde als Jagdunfall eingestuft.
Nahezu drei Viertel der Schusstodesfälle (81 Fälle, 73 %) betraf Menschen in der 2. Lebenshälfte; Männer (97 Fälle, 87 %) waren insgesamt deutlich häufiger betroffen als Frauen (14 Fälle, 13 %).
Mehr als zwei Drittel der Schusstodesfälle (77 Fälle, 69 %) ereigneten sich im häuslichen Umfeld, ein Viertel (28 Fälle, 25 %) im öffentlichen Raum und 6 am Arbeitsplatz (Tab. 3).
Schusswaffen
In 104 Fällen ließen sich die insgesamt 106 verwendeten Waffen ermitteln (Tab. 4). Bei den Homiziden wurden in 12 Fällen eine Pistole, in 7 Fällen ein Revolver und in einem Fall 2 verschiedene Kurzwaffen verwendet. In 3 Fällen erfolgten Schussabgaben aus einer Flinte und in einem Fall aus einer Büchse.
Bei den Suiziden kamen die Schüsse in 35 Fällen aus einer Pistole, in 16 Fällen aus einem Revolver und in 2 Fällen aus einer nicht näher bezeichneten Kurzwaffe. In 3 Fällen wurde ein Bolzenschussgerät benutzt, in 2 Fällen ein selbstgebauter Schussapparat. Als Langwaffen wurden in 7 Fällen eine Flinte, in 2 Fällen eine Büchse und in 11 Fällen eine nicht näher benannte Langwaffe verwendet. Zusätzlich erfolgte ein Suizid unter Nutzung sowohl einer Handfeuerwaffe (Pistole) als auch einer Langwaffe (nicht näher bezeichnet).
Der eine tödliche Unfall ereignete sich mit einer doppelläufigen Flinte.
Angaben zum Legalitätsstatus der verwendeten Waffe fanden sich in gut zwei Dritteln der Fälle (Tab. 5).
Schussverletzungen
Die Verstorbenen wiesen zwischen einer und 17 Schussverletzungen auf (Tab. 6). Suizide erfolgten zu 95 % durch die Beibringung eines einzelnen Schusses; mehr als 3 Schussverletzungen lagen nur in Fällen einer Fremdbeibringung vor.
Die Lokalisation der Einschussverletzungen am Körper der Getroffenen ergibt sich aus Tab. 7. Der „Zwischenbereich“ umfasst Einschussverletzungen, die sich in einer beide Ohren steigbügelartig verbindenden Linie fanden. Während Einschüsse bei den Tötungen durch fremde Hand alle Körperregionen betrafen, waren sie bei suizidalen Schussbeibringungen auf den Kopf (inklusive Mundboden) und die Rumpfvorderseite beschränkt. Suizidale Schüsse in den Hinterkopf oder Nacken fanden sich nicht. Die der Rückseite von Kopf/Hals zugeordneten 2 Einschüsse lagen zwar hinter den Ohren, jedoch an der Schädelseite.
Weitere Untersuchungen
Ein konventionelles Röntgen des Leichnams vor der Obduktion erfolgte in 32 Fällen (34 %), eine CT-Untersuchung in einem Fall. Forensisch-toxikologische Untersuchungen im Blut wurden etwa bei jedem Dritten obduzierten Verstorbenen (29 Fälle, 31 %) durch die Ermittlungsbehörden beauftragt.
Tathintergründe
Informationen zu den Tathintergründen bzw. Tatmotiven ließen sich den Unterlagen für 74 % der Tötungen und 46 % der Selbsttötungen entnehmen.
Den Tötungen (ohne Schussabgaben durch die Polizei) lagen u. a. private Auseinandersetzungen oder berufliche Konflikte, finanzielle Interessen oder eine akute Psychose des Täters zugrunde. Bei den Suiziden dominierten intrafamiliäre Streitigkeiten und schwere Erkrankungen.
Die Altersverteilung der bei den Homiziden ausnahmslos männlichen Schussabgebenden (die 3 Fälle polizeilichen Schusswaffengebrauchs außer Acht lassend) ergibt sich aus Tab. 8.
Diskussion
Todesumstände
Ähnliche Datenerhebungen mit jedoch länger zurückliegenden Beobachtungszeiträumen fanden bereits in anderen Regionen Deutschlands statt, so wurden aus den Jahren 2000 bis 2009 aus 21.271 Obduktionsberichten in Berlin 332 Fälle untersucht, bei denen Schussverletzungen den Tod herbeiführten [1, 7]. Im Untersuchungszeitraum 1989–2008 wurden aus 22.492 Sektionen, die am Hamburger Institut für Rechtsmedizin stattfanden, 458 Fälle von Verstorbenen durch Schussverletzungen identifiziert [28]. Die Fallzahlen aus Berlin, Hamburg und Gießen passen zu den Angaben von Karger, wonach die Untersuchung von Verletzungen durch Schusswaffen einen Anteil von ca. 2–4 % der rechtsmedizinischen Arbeit in Deutschland einnehmen [14].
Die Berliner Schusstodesfälle verteilten sich auf 260 Suizide (78,3 %), 68 Tötungsdelikte (20,5 %), einen Unfalltod (0,3 %) und 3 unklare Fälle (0,9 %) [1, 7]. In Hamburg fanden sich unter den Schusstodesfällen 218 Suizide (47 %), 220 Tötungsdelikte (48 %), 16 Unfälle (4 %) und 4 unklare Fälle (1 %) [28]. Im Vergleich mit den Gießener Daten (75 % Suizide, 24 % Tötungsdelikte, 0,9 % Unfälle) fällt auf, dass der Anteil an Tötungsdelikten in der Hamburger Studie mehr als doppelt so hoch ist wie in Berlin und doppelt so hoch ist wie in Gießen. Beschränkt man die Hamburger Daten auf die Jahre 2000–2008 (etwa der Berliner Untersuchung entsprechend), dann lagen in diesem Zeitraum 176 Schusstodesfälle vor, davon 111 Suizide (63,1 %), 60 Tötungsdelikte (34,1 %) und 5 Unfälle (2,8 %). Es zeigt sich zwar eine relative Verschiebung in Richtung der Suizide, der Anteil der Tötungsdelikte bleibt in Hamburg jedoch nach wie vor höher als in Gießen oder Berlin.
Alter und Geschlecht
Unter den Suizidenten überwog sehr deutlich das männliche Geschlecht; ausschließlich eine Frau nahm sich im Untersuchungszeitraum mit einer Schusswaffe das Leben. Diese Beobachtung deckt sich mit den Ergebnissen anderer Studien [1, 7, 28] und der Statistik, wonach Frauen in Deutschland nur selten zu einer Schusswaffe als Suizidwerkzeug greifen [31]. Bei den durch fremde Hand Getöteten lag im Gießener Kollektiv ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis der Verstorbenen vor, wohingegen die Auswertungen aus Hamburg und Berlin ein Verhältnis männlich:weiblich von etwa 2–2,5:1 angeben [1, 7, 28]. Dass insgesamt deutlich mehr Männer als Frauen durch Schusswaffengebrauch ums Leben kamen, deckt sich mit den Vergleichsdaten aus Deutschland [1, 7, 28].
Die Tatsache, dass mehr als 80 % der Suizidenten im untersuchten Kollektiv älter als 50 Jahre waren, passt zu den Ergebnissen einer schwedischen Studie [13] und dem in der Literatur beschriebenen sog. „Ungarischen Muster“, d. h., dass mit zunehmendem Lebensalter ein Anstieg der Suizidrate erfolgt und eine tendenziell härtere Suizidmethode gewählt wird [30].
Bei den Homiziden waren die Täter gleichmäßiger auf die Altersgruppen verteilt. Im Vergleich mit der Auswertung der Hamburger Schusstodesfälle von 1989 bis 2008 fällt auf, dass dort alle Schussabgebenden jünger als 70 Jahre waren [28] und in einer Studie aus Münster (Untersuchungszeitraum 1993–1999) kein Täter älter als 80 Jahre war [22]. Im Gießener Untersuchungsgut lag das Alter der bekannten Schussabgebenden in 6 Fällen über 70 und in 3 Fällen über 80 Jahren. Fünf dieser Männer suizidierten sich nach der Fremdtötung.
Schusswaffen
Im Jahr 2017 befanden sich Schätzungen zufolge in Deutschland etwa 16 Mio. legale und illegale Schusswaffen im Privatbesitz, d. h. etwa 196/1000 Einwohner [19]. Bezogen auf offiziell registrierte Schusswaffen lag die Waffendichte in Deutschland 2019 bei 64,52/1000 Einwohner und in Hessen bei 68,52 [32].
Für die Gießener Daten konnte die Rechtmäßigkeit des Waffenbesitzes in etwa zwei Drittel aller Fälle beurteilt werden, und es lagen in nahezu gleichen Teilen legale und illegale Waffen vor. Bei den Tötungen durch fremde Hand (abzüglich der Todesfälle durch polizeilichen Schusswaffengebrauch) wurden in 38 % legale und in 29 % illegale Waffen verwandt. In 33 % lagen keine Informationen zum Legalitätsstatus vor. In Münster wurde in Tötungsdelikten ein deutlich höherer Anteil (80 %) an illegalen Schusswaffen verwandt [22]. In der Berliner Studie wurde der Legalitätsstatus ausschließlich für die Selbsttötungen betrachtet, mit 23 % legalen und 43 % illegalen Waffenbesitzen bei 33 % fehlenden Angaben [1]. Bei den Gießener Fällen lagen in 33 % der Suizide ein legaler, in 36 % ein illegaler und in 31 % keine Angaben zum Legalitätsstatus vor. Eine aktuelle Studie aus Schweden benennt einen Anteil von 80 % legalen Waffenbesitzes bei suizidalen Schussbeibringungen [13].
Bei der Betrachtung aller Schusstodesfälle fanden Kurzwaffen häufiger Verwendung als Langwaffen (66 % vs. 23 %). Bei den Homiziden war die Tatwaffe sogar in 75 % eine Kurzwaffe. Andere Studien aus Deutschland zeigen ähnliche Verteilungen, mit einem Überwiegen der Kurzwaffen unabhängig von den Todesumständen und, soweit bekannt, bei den Tötungsdelikten. Erwähnenswert ist, dass in Münster sogar 77 % der Tötungsdelikte mit Kurzwaffen begangen wurden und in Berlin der Anteil der Langwaffen insgesamt nur 4,82 % betrug [7, 22, 28]. Der Blick ins europäische Ausland ergibt eine völlig andere Verteilung. In einer dänischen Studie lag der Anteil der Kurzwaffen bei Homiziden bei nur 43,8 %, und Schrotflinten und Jagdgewehre waren mit 50,5 % das häufigste Tatmittel [33]. Eine weitere skandinavische Studie ergab geschlechtsabhängige Unterschiede bei den zur Tötung verwendeten Waffen. Kurzwaffen wurden in fast 50 % der Tötungen männlicher Opfer verwendet, wohingegen bei Frauen Schrotflinten überwogen [12]. Eine Auswertung britischer Schusstodesfälle ergab eine Verwendung von Schrotflinten in 58 % der Suizide und in 55 % der Homizide [29]. Erklärungen für die regionalen Unterschiede im verwendeten Waffentyp werden in der lokalen Verfügbarkeit und der geltenden Waffengesetzgebung gesehen [1, 2].
Hinsichtlich der verwendeten Waffen sind selbstgebaute Schussvorrichtungen nicht zu vergessen, die in unserem Kollektiv bei 2 suizidalen Todesfällen verwendet wurden. Derartige Apparaturen können, auch aufgrund ihres Seltenheitswerts, eine Herausforderung bei der Rekonstruktion des Geschehensablaufs darstellen [9, 20].
Schussanzahl und -lokalisation
Bei Betrachtung der Suizide zeigt sich, dass es in 5 % zu der Abgabe von mehr als einem Schuss kam – ein Phänomen, dass in ähnlicher Größenordnung auch in anderen Studien beobachtet wurde [10, 15]. Die einzigen betroffenen Körperlokalisationen (der Kopf/Halsbereich sowie der vorderseitige Rumpf) gelten in der Literatur als häufig betroffene Regionen bei suizidalen Schussbeibringungen [15, 16, 18].
Das Vorhandensein von Einschussverletzungen an anderen Körperregionen und die höhere Schussanzahl bei den Homiziden stehen im Einklang mit den Ergebnissen anderer Studien [15, 33].
Ereignisort
Bei den Homiziden dominierte mit 66 % und vergleichbar mit der Arbeit aus Münster das häusliche Umfeld als Ereignisort. Erklärt wird dies in der Literatur mit einer häufig vorhandenen engen Täter-Opfer-Beziehung [22, 27], die im Gießener Kollektiv in 83 % der Tötungen in der Häuslichkeit bestand (u. a. Eheleute, Verwandte). In der Hamburger Studie ereigneten sich lediglich 24 % der homizidalen Schussabgaben in der Wohnung des Tatopfers, mit 65 % überwog deutlich die Öffentlichkeit als Tatort bei den Tötungsdelikten. Suizide durch Schuss fanden sowohl in der Gießener als auch in der Hamburger Studie ganz überwiegend in der eigenen Wohnung statt [28].
Todesursachenstatistik
Den offiziellen Daten der Gesundheitsberichterstattung des Bundes [8] zufolge seien zwischen 2009 und 2018 in Hessen 898 Menschen durch Schusswaffengebrauch ums Leben gekommenen: niemand infolge eines Unfalls (ICD-10: W32–W34), 823 infolge einer vorsätzlichen Selbstbeschädigung (ICD-10: X72–74), 59 infolge eines tätlichen Angriffs (ICD-10: X93–X95) und 16 unter unbestimmten Umständen (ICD-10: Y22–Y24). Hieraus ergeben sich ganz erhebliche Diskrepanzen zu der Summe der in den hessischen Instituten für Rechtsmedizin in Gießen und Frankfurt am Main [36] untersuchten Schusstodesfällen (Tab. 9).
Die sich in der letzten Zeile der Tab. 9 ergebenden negativen Abweichungen bei den Homiziden und Unfällen ließen sich durch fehlende Angaben im Leichenschauschein bzw. unklare Todesumstände zum Zeitpunkt der Leichenschau erklären. Dass allerdings bei den angenommenen Suiziden und in der Summe der Schusstodesfälle im Vergleich mit den rechtsmedizinisch untersuchten Fällen eine derart große Diskrepanz vorliegt, überrascht. Dazu beigetragen haben könnte der Umstand, dass in der vorliegenden Arbeit die durch die Staatsanwaltschaft Kassel beauftragten Untersuchungen erst ab 2011 in die Auswertung miteinbezogen wurden, und dass ein Teil der Verstorbenen in außerhessischen Instituten obduziert wurde. Allerdings würde dies keinen derart großen Unterschied erklären. Ein weiterer Erklärungsansatz wären Fälle, die bei der Leichenschau als angenommene Suizide und nichtnatürliche Todesfälle den Ermittlungsbehörden gemeldet, im Anschluss allerdings nicht rechtsmedizinisch begutachtet wurden. Hierdurch ließe sich die große Anzahl nichtuntersuchter Fälle prinzipiell erklären, jedoch wäre dies eine aus Sicht der Rechtsmedizin äußerst bedenkliche und nicht im Interesse der Rechtssicherheit liegende Erklärung.
Fazit für die Praxis
Schusstodesfälle sind im internationalen Vergleich in Deutschland und Hessen eher selten. Für jeden Einzelfall ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Ermittlungsbehörden und Rechtsmedizin zu fordern. Das Teilen von Informationen zu Befunden am Leichenfundort, der verwendeten Waffe und Munition ist notwendig, um interdisziplinär rekonstruktive Fragestellungen beantworten und die Todesumstände aufklären zu können – auch bei vermeintlich eindeutiger Spurenlage am Leichenfundort. Über eine Obduktion hinaus sind postmortale radiologische Untersuchungen in der Regel zu empfehlen; bei angenommenen Suiziden sollten forensisch-toxikologische Untersuchungen erfolgen.
Literatur
Buschmann CT, Fricke A, Tsokos M, Hartwig S (2015) Schusstodesfälle im Land Berlin von 2000 bis 2009: Retrospektive rechtsmedizinische Studie. Rechtsmedizin 25:130–138. https://doi.org/10.1007/s00194-015-0004-y
Chapman J, Milroy CM (1992) Firearm deaths in Yorkshire and Humberside. Forensic Sci Int 57:181–191. https://doi.org/10.1016/0379-0738(92)90012-L
Cohle SD, Crump J (2022) Unusual soot pattern from suicidal handgun wound. J Forensic Sci 67:802–805. https://doi.org/10.1111/1556-4029.14910
Diers V, Lessig R, Heide S (2015) Tötungsdelikt mit 11 Schussverletzungen: Einlassung des Angeklagten von Notwehr. Rechtsmedizin 25:151–154. https://doi.org/10.1007/s00194-014-1001-2
Dinges C, Penning R, Peschel O (2010) Erweiterter Suizid mittels Schusswaffe – Fallstudie eines ungewöhnlichen Sektionsbefundes – mehrere Stunden überlebte Herzzerreißung? Rechtsmedizin 20:368–369. https://doi.org/10.1007/s00194-010-0695-z
Fischer H (1969) Unfall- und Versicherungsmedizin. Verletzungen durch Schußwaffen. Munch Med Wochenschr 111:2054–2058
Fricke A (2015) Schusstodesfälle im Land Berlin von 2000–2009 – eine retrospektive Studie. Dissertation, Fachbereich Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin
Gesundheitsberichterstattung des Bundes (2023) Sterbefälle, Sterbeziffern (je 100.000 Einwohner, altersstandardisiert) (ab 1998). Gliederungsmerkmale: Jahre, Region, Alter, Geschlecht, Nationalität, ICD-10, Art der Standardisierung
Hartwig S, Tsokos M, Herre S, Oesterhelweg L (2010) Suizide durch ungewöhnliche Schusswaffen und Schussapparate: Falldarstellungen und Literaturüberblick. Rechtsmedizin 20:262–269. https://doi.org/10.1007/s00194-010-0689-x
Haw C, Sutton L, Simkin S et al (2004) Suicide by gunshot in the United Kingdom: a review of the literature. Med Sci Law 44:295–310. https://doi.org/10.1258/rsmmsl.44.4.295
Hejna P, Šafr M, Kramář R et al (2022) Reversed configuration of the muzzle imprint mark in a pistol contact entrance wound mimicking a non-suicidal act. Forensic Sci Int 335:111132. https://doi.org/10.1016/j.forsciint.2021.111132
Hougen HP, Rogde S, Poulsen K (2000) Homicide by firearms in two Scandinavian capitals. Am J Forensic Med Pathol 21:281–286. https://doi.org/10.1097/00000433-200009000-00021
Junuzovic M (2022) Firearm suicides in Sweden. J Forensic Leg Med 91:102403. https://doi.org/10.1016/j.jflm.2022.102403
Karger B (2001) Forensische Ballistik von Schussverletzungen. Rechtsmedizin 11:104–119. https://doi.org/10.1007/s001940100101
Karger B, Billeb E, Koops E, Brinkmann B (2002) Autopsy features relevant for discrimination between suicidal and homicidal gunshot injuries. Int J Legal Med 116:273–278. https://doi.org/10.1007/s00414-002-0325-8
Karger B, Brinkmann B (1997) Multiple gunshot suicides: potential for physical activity and medico-legal aspects. Int J Legal Med 110:188–192. https://doi.org/10.1007/s004140050065
Karger B, DuChesne A (1997) Who fired the gun? A casuistic contribution to the differentiation between self-inflicted and non-self-inflicted gunshot wounds. Int J Legal Med 110:33–35. https://doi.org/10.1007/BF02441024
Karlsson T (1999) Multivariate analysis (‘Forensiometrics’) – a new tool in forensic medicine. Differentiation between firearm-related homicides and suicides. Forensic Sci Int 101:131–140. https://doi.org/10.1016/S0379-0738(99)00017-1
Karp A (2018) Estimating global civilian-held firearms numbers. Small arms survey
Kern T, Buschmann C, Preuß-Wössner J (2023) Suizid mit Schießkugelschreiber – ein Beitrag zur Notwendigkeit der Krematoriumsleichenschau. Rechtsmedizin. https://doi.org/10.1007/s00194-023-00629-w
Koops E, Flüs K, Lockemann U, Püschel K (1994) Fatal gunshot injuries in Hamburg 1966–1991. Arch Kriminol 193:14–22
Leistler MJ (2006) Tötungsdelikte durch Schusswaffen aus dem Sektionsgut der Rechtsmedizin Münster 1993–1999. Dissertation, Fachbereich Medizin, Westfälische Wilhelms Universität
Naghavi M, Marczak LB, Kutz M et al (2018) Global mortality from firearms, 1990–2016. JAMA 320:792–814. https://doi.org/10.1001/jama.2018.10060
Nishantha Vadysinghe A, Sivasubramanium M, Wickramasinghe C (2022) A fatal muzzle/barrel injury by home-made firearm—an unusual mechanism. J Forensic Leg Med 91:102426. https://doi.org/10.1016/j.jflm.2022.102426
Ou Z, Ren Y, Duan D et al (2022) Global burden and trends of firearm violence in 204 countries/territories from 1990 to 2019. Front Public Health 10:966507. https://doi.org/10.3389/fpubh.2022.966507
Patel J, Leach-Kemon K, Curry G et al (2022) Firearm injury—a preventable public health issue. Lancet Public Health 7:e976–e982. https://doi.org/10.1016/S2468-2667(22)00233-X
Preuss V (2017) Tötungsdelikte aus dem Sektionsgut der Rechtsmedizin Düsseldorf 1997 bis 2006. Dissertation, Fachbereich Medizin, Heinrich Heine Universität
Rieberg M (2014) Multifaktorielle Analyse der von 1989 bis 2008im Institut für Rechtsmedizin der Universität Hamburg mittels Sektion untersuchten Schusstodesfälle. Dissertation, Fachbereich Medizin, Universität Hamburg
Rouse D, Dunn L (1992) Firearm fatalities. Forensic Sci Int 56:59–64. https://doi.org/10.1016/0379-0738(92)90147-O
Schmidtke A, Sell R, Löhr C (2008) Epidemiologie von Suizidalität im Alter. Z Gerontol Geriatr 41:3–13. https://doi.org/10.1007/s00391-008-0517-z
Statista (2012) Feuerwaffen in privatem Besitz. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/236971/umfrage/top-10-laender-private-feuerwaffen/. Zugegriffen: 10. Jan. 2023
Statista (2022) Waffendichte in Deutschland nach Bundesländern im Jahr 2019. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1211841/umfrage/waffendichte-in-deutschland-nach-bundeslaendern/. Zugegriffen: 10. Jan. 2023
Thomsen AH, Leth PM, Hougen HP, Villesen P (2021) Gunshot homicides in Denmark 1992–2016. Int J Legal Med 135:1507–1514. https://doi.org/10.1007/s00414-021-02548-5
Van Alstein M, Duquet N (2015) Firearms and violent deaths in Europe. Flemish Peace Institute, Brüssel
Verhoff MA, Karger B (2003) Atypical gunshot entrance wound and extensive backspatter. Int J Legal Med 117:229–231. https://doi.org/10.1007/s00414-003-0383-6
Wolf PM, Schof S, Lux C, Birngruber CG (2023) Schusstodesfälle am Institut für Rechtsmedizin Frankfurt am Main (2009–2018), Vortrag am 25.03.2023, 3. „Frühjahrstagung Digital“ der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin
Funding
Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Ethics declarations
Interessenkonflikt
P.M. Wolf, R.B. Dettmeyer, F. Holz und C.G. Birngruber geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Diese retrospektive Studie erfolgte nach Konsultation der zuständigen Ethikkommission und im Einklang mit nationalem Recht.
Additional information
![figure qr](http://media.springernature.com/lw685/springer-static/image/art%3A10.1007%2Fs00194-023-00652-x/MediaObjects/194_2023_652_Figqr_HTML.png?s=1)
QR-Code scannen & Beitrag online lesen
Rights and permissions
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de.
About this article
Cite this article
Wolf, P.M., Dettmeyer, R.B., Holz, F. et al. Schusstodesfälle am Institut für Rechtsmedizin Gießen (2009–2018). Rechtsmedizin 33, 458–463 (2023). https://doi.org/10.1007/s00194-023-00652-x
Accepted:
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s00194-023-00652-x