Zusammenfassung
Es wird der Todesfall eines 74-jährigen Mannes berichtet, bei dem nach Auffindung in der Wohnung bei der ärztlichen Leichenschau eine gastrointestinale Blutung als Todesursache dokumentiert wurde. Die Krematoriumsleichenschau ergab jedoch eine suspekte Verletzung am Kopf. Die gerichtliche Sektion ergab einen mittels eines selbstgebauten Schussapparates suizidal beigebrachten todesursächlichen Kopfsteckschuss. Der Fall betont einmal mehr die Notwendigkeit einer suffizienten ärztlichen Leichenschau.
Abstract
The death of a 74-year-old man is reported, in whom a gastrointestinal bleeding was documented during the external examination of the corpse as the cause of death after he was found in his flat; however, the second post-mortem examination prior to cremation showed a suspicious head injury. The subsequent forensic autopsy revealed a fatal gunshot to the head, which had been inflicted suicidally by a self-constructed shooting device. The case once again emphasizes the necessity for a sufficient post-mortem external examination of the corpse.
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Einleitung
Fehlleistungen bei der ärztlichen Leichenschau sind hinlänglich bekannt [9]. Neben dem teilweise freien Konfabulieren mutmaßlich innerer, also natürlicher Todesursachen bei unversehrt erscheinendem Leichnam kommt es immer wieder zum Übersehen offenkundiger äußerer Befunde. Als Korrektiv kommt der Krematoriumsleichenschau eine besondere Bedeutung zu. Berichtet wird ein eklatanter Fall einer ärztlichen Fehldiagnose bei der ersten Leichenschau, der bei der Krematoriumsleichenschau bzw. der gerichtlichen Obduktion offenkundig wurde.
Falldarstellung
Der beginnend fäulnisveränderte Leichnam eines 74-jährigen Mannes wurde in dessen Wohnung aufgefunden. Der Rettungsdienst wurde aufgrund sicherer Todeszeichen nicht alarmiert. Dem leichenschauenden Arzt (Praktischer Arzt, langjähriger „Polizeiarzt“, d. h. polizeilicher Vertragsarzt speziell für Blutentnahmen, Gewahrsamsfähigkeiten, Leichenschauen etc. pp.) bot sich offenbar das Bild eines natürlichen Todes: Um den Kopf des Leichnams befand sich eine größere Blutlache, Verletzungen waren nach Einschätzung des Leichenschauers jedoch nicht erkennbar. Es wurde eine „gastrointestinale Blutung“ als Todesursache im Leichenschauschein dokumentiert. Da Angehörige nicht ermittelt werden konnten, wurde eine ordnungsbehördliche Bestattung beauftragt. Der Leichnam sollte kremiert werden.
Bei der Krematoriumsleichenschau fiel eine unregelmäßig berandete und schwärzlich vertrocknete Verletzung der rechten Schläfe auf. Die Kremation wurde ausgesetzt und die gerichtliche Obduktion angeordnet, welche 12 Tage nach Auffinden stattfand. Nach Inspektion des Kopfes und Präparation der Kopfschwarte bestand kein Zweifel, dass es sich um einen Einschuss handelte (Abb. 1a, b), sodass die Polizei verständigt wurde. Die Wohnung des Verstorbenen wurde nun versiegelt.
Die gerichtliche Obduktion ergab einen aufgesetzten Kopfsteckschuss mit Einschuss in der rechten Schläfe, umgebender flächig-schwärzlicher Verfärbung, Schmauchhöhlenbildung und außenseitiger Beschmauchung des Schädelknochens sowie Schussbrüche des Schädels. Der Schusskanal war im fäulnisbedingt breiig-zerfließlichen Hirngewebe nicht mehr sicher rekonstruierbar. Es zeigten sich jedoch ein Beinahe-Ausschuss am linken Hinterkopf mit Aussprengung einer kleinen Scherbe von der inneren Knochentafel sowie zur Ein- bzw. Beinahe-Ausschussverletzung korrespondierende Zerreißungen der Hirnhäute. Etwa 5 cm vom Beinahe-Ausschuss entfernt konnte im Hirngewebe ein deformiertes Bleivollgeschoss (Gewicht 2,4 g) geborgen werden (Abb. 2). Bei Fäulnis ließen sich Rückschleuderspuren an den Händen nicht sicher abgrenzen. Weiter fanden sich altersentsprechende Erkrankungen des Herzkreislauf- und Atmungssystems. Eine gastrointestinale Blutung fand sich nicht. Chemisch-toxikologische Untersuchungen erbrachten therapeutische Spiegel der rezeptierten Medikamente Tramal und Novalgin.
Nachdem weder der Polizei noch dem leichenschauenden Arzt am Fundort eine Schusswaffe aufgefallen war, konnten nun auf dem Schreibtisch in der Wohnung zwei selbstgefertigte Schussapparate aufgefunden werden (Abb. 3a, b), wovon einer eine nichtabgefeuerte, handelsübliche Patrone des Kalibers .22lfB und der andere eine gleichartige Patronenhülse enthielt. Mitarbeiter des Ordnungsamtes hatten im Zuge der Fiskalerbschaft die vor der Krematoriumsleichenschau unversiegelte Wohnung bereits teilweise beräumt und mit beiden Schussapparaten hantiert, ohne diese als solche zu erkennen. Es ließ sich retrospektiv nicht rekonstruieren, wo der/die Schießkugelschreiber ursprünglich gelegen hatten bzw. ob der Mann nach Schusserhalt noch kurz handlungsfähig gewesen und den verwendeten Schießkugelschreiber weggelegt haben könnte, bevor er zusammenbrach. Der Todesfall wurde als Suizid eingeordnet und das Todesermittlungsverfahren eingestellt.
Schussversuch
Beide Schussapparate wurden einem Schussversuch unterzogen (Abb. 4a; Tab. 1; Video: https://youtu.be/dF2c9oB7Cbo). Hierzu wurden beide Schussapparate mit 2 unterschiedlichen Munitionstypen des Kalibers 22lfb (HV = High Velocity, Hochgeschwindigkeitsmunition/handelsübliche RWS-Munition [„Rheinisch-Westfälische Sprengstofffabriken“]) in einen Schraubstock gespannt und auf eine Zielscheibe abgefeuert. Bei der HV-Munition handelte es sich um Asservate des Landeskriminalamtes Schleswig-Holstein mit z. T. unbekanntem Produktionsdatum bzw. unbekannter Liegedauer. Mündungsgeschwindigkeit und -energie variierten je nach Munition stark. Die Mündungsenergie verdoppelte sich bei HV-Munition; die mittlere Geschwindigkeit nahm ca. um 30 % im Vergleich zu RWS-Munition zu und erreichte damit annährend Werte einer Sportpistole. Die Standardabweichung der Mündungsenergie betrug bei Schussapparat 1 mit HV-Munition 34 J (RWS-Munition: 4,2 J). Bei Schussapparat 2 betrug die Standardabweichung der Mündungsenergie bei HV-Munition 7,2 J. Beide Schussapparate wiesen gezogene Läufe auf, was zu einer auffallend stabilen Geschossflugbahn und einer hohen Präzision ohne größere Streuung führte. Der Aufbau erwies sich als ausgesprochen funktionstauglich mit erheblichem Verletzungspotenzial (Tab. 2). Funktionsweise und Aufbau unterschieden sich wenig von herkömmlichen Handfeuerwaffen.
Diskussion
Schusstodesfälle zeigen eine breite Varianz, und jeder Schusstodesfall erfordert eine akribische Aufarbeitung. Die Zahl der Schusswaffensuizide in Deutschland beträgt etwa 550/Jahr [3]. Suizide mit selbstgebauten Schussapparaten sind selten, und selbstgebaute Schussapparate sind nicht immer als solche erkennbar [5]. Es handelt sich regelmäßig um Schussapparate, die Kugelschreibern ähneln, hierbei jedoch eine große Varianz zeigen [8]. Schießkugelschreiber sind seit den 1940er-Jahren bekannt [4]. Die hier untersuchten Schussapparate wiesen eine ausgesprochen hohe Durchschlagskraft auf. Im Vergleich zu herkömmlichen Handfeuerwaffen können Schießkugelschreiber – zumindest mit HV-Munition – ähnliche Energiewerte wie Kleinkaliber-Sportpistolen erreichen und weisen entsprechend ein ähnliches Verletzungspotenzial auf.
Die Schussapparate dürften im vorliegenden Fall für Schreibgeräte oder Werkzeuge gehalten worden sein. Nur dieser Umstand kann hier zur partiellen Exkulpation des ärztlichen Leichenschauers herangezogen werden. Auch dem rechtsmedizinisch Unerfahrenen hätte die Verletzung an der rechten Schläfe auffallen müssen. Retrospektiv muss es sich – wenn überhaupt – um eine nur grob orientierende Inaugenscheinnahme des Auffindeortes denn um eine ordentliche ärztliche Leichenschau gehandelt haben.
Ansätze und Forderungen zur Qualifikation ärztlicher Kollegen nichtrechtsmedizinischer Fachrichtungen zur Durchführung einer Leichenschau verpuffen vor dem Hintergrund einer wie hier offenbar nicht erfolgten (auch räumlichen) näheren Beschäftigung mit dem Leichnam: Wenn eine Leistung nicht erbracht wird, sind Maßnahmen zur Qualitätssteigerung dieser Leistung sinnlos. Inwieweit durch Etablierung spezieller „Leichenschauärzte“ oder mit Blick auf die 2021 erfolgte Neuregelung der Leichenschau in der Gebührenordnung für Ärzte diesem Dilemma Abhilfe geschaffen werden kann, bleibt abzuwarten. Bei knapp 1.000.000 Toten/Jahr in Deutschland [7] wird ein in der Leichenschau kundiger Arzt nicht in jedem Todesfall vor Ort sein können – jeder approbierte Arzt in Deutschland muss die Todesfeststellung und die Leichenschau adäquat beherrschen. Über die Notwendigkeit der Krematoriumsleichenschau als Korrektiv einer häufig insuffizienten ärztlichen Leichenschau besteht kein Zweifel [6]. Hochrechnungen aus den Daten solcher Leichenschauen deuten u. a. auf eine hohe Zahl unentdeckter Tötungsdelikte hin [2]. Gleiches dürfte für Suizide gelten.
Fazit
Der Fall unterstreicht die Bedeutung einer suffizienten ärztlichen Leichenschau. Wäre der Tote einer Erdbestattung zugeführt worden, wäre nicht nur der Suizid unentdeckt geblieben – auch der zweite, nicht abgefeuerte Schussapparat hätte bei Manipulation zu schweren, ggf. sogar tödlichen Verletzungen Unbeteiligter führen können.
Literatur
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Hartwig S, Tsokos M, Herre S et al (2010) Suizide durch ungewöhnliche Schusswaffen und Schussapparate – Falldarstellungen und Literaturüberblick. Rechtsmedizin 20:262–269
Püschel K, Tsokos M (2000) Krematoriums-Leichenschau, Research in Legal Medicine Bd. 22. Schmidt-Römhild, Lübeck
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Yilmaz R, Birincioğlu I, Uner HB et al (2007) Pen guns in Turkey. J Forensic Sci 2007(52):116–118
Zack F, Kaden A, Riepenhausen S et al (2017) Fehler bei der Ausstellung der Todesbescheinigung – Analyse von 10.000 Sterbefällen aus Mecklenburg. Rechtsmedizin 27:516–527
Danksagung
Wir bedanken uns bei Gunnar Wegner, Landespolizei Schleswig-Holstein/Bezirkskriminalinspektion Kiel, und Arne Hellwig, Landeskriminalamt Schleswig-Holstein, für die Unterstützung bei der Durchführung des Schussversuchs.
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Alle beschriebenen Untersuchungen am Menschen oder am menschlichen Gewebe wurden im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Die Untersuchungen erfolgten unter Einhaltung der Vorgaben der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer.
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Kern, T., Buschmann, C. & Preuß-Wössner, J. Suizid mit Schießkugelschreiber – ein Beitrag zur Notwendigkeit der Krematoriumsleichenschau. Rechtsmedizin 33, 432–435 (2023). https://doi.org/10.1007/s00194-023-00629-w
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