Hintergrund und Fragestellung

Kindesmisshandlung ist entgegen der landläufigen Meinung kein Problem bestimmter Bevölkerungsschichten oder -gruppen. Kinder aller sozialen Schichten, Altersgruppen und Herkunftsländer sind betroffen [1]. In Studien wurden die jährlichen Traumafolgekosten für Deutschland auf 11–30 Mrd. € und für die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) auf bis zu 124 Mrd. US-D pro Jahr geschätzt [2, 3]. Die Vereinten Nationen haben die „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ ins Leben gerufen, um jegliche Form von Gewalt gegen Kinder zu beenden [4]. Für das Erreichen der Ziele dieser Agenda ist es von hoher Bedeutung, das Ausmaß von Gewalt gegen Kinder zu dokumentieren und Faktoren zu ermitteln, die das Risiko von Kindesmisshandlung erhöhen [5].

In der im Jahr 2019 veröffentlichten S3-Kinderschutzleitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) werden Risikofaktoren genannt, welche die Wahrscheinlichkeit einer Kindesmisshandlung erhöhen [6]. Eindeutige Ursachen-Wirkung-Zusammenhänge lassen sich nicht finden. Es gibt jedoch eine Vielzahl von Merkmalen und Umständen, die mit einem erhöhten Misshandlungsrisiko einhergehen. Das frühzeitige Erkennen von Familien mit Hilfe- und Unterstützungsbedarf kann Schäden für Eltern und ihre Kinder verringern bzw. bestenfalls vermeiden. Bei der Einschätzung von Kindeswohlgefährdung ist neben dem Identifizieren misshandlungsbedingter Verletzungen auch die Kenntnis von Risikofaktoren für Kindesmisshandlung ein wesentlicher Aspekt. Die Risikofaktoren lassen sich dabei in kindliche, täterbezogene sowie familienstrukturelle und gesellschaftliche Faktoren unterteilen. Flaherty et al. stellten fest, dass der Verdacht auf eine Misshandlung eher in Betracht gezogen wird, wenn ÄrztInnen familiäre Risikofaktoren identifizieren [7].

Ein standardisiertes „Risikoscreening“ ist derzeit nicht in den Leitlinien verankert, da Studien hohe Raten falsch-positiver Resultate bei der Anwendung von Screening-Tools für Misshandlung, Vernachlässigung und der Hilfsbedürftigkeit von Familien ergeben haben [8,9,10,11]. Spezifität und Sensitivität eines solchen Screenings werden als gering eingeschätzt [12]. Gleichwohl kann das frühzeitige Erkennen von Kindesmisshandlung und gefährdeten Kindern durch die Kenntnis von Risikofaktoren dazu beitragen, die Mortalität und Morbidität zu senken [8]. Schlussendlich sollten Risikofaktoren als weit definierte Hinweise, jedoch nicht als individuell anwendbare kausale Faktoren für Misshandlung betrachtet werden.

In der vorliegenden Studie wurden Faktoren des familiären Umfelds in Misshandlungsfällen untersucht, um mögliche Risikofaktoren für Kindesmisshandlung zu erkennen und die Ergebnisse für die präventive Risikoerkennung heranzuziehen.

Material und Methoden

Es erfolgte eine retrospektive Auswertung von Fallakten körperlich misshandelter Kinder (n = 368) im Alter von 0 bis 14 Jahren, die im Zeitraum vom 01.01.2004 bis 31.12.2015 rechtsmedizinisch untersucht wurden. Es wurden sowohl körperliche Untersuchungen und Begutachtungen nach Aktenlage im Auftrag von Ermittlungsbehörden als auch körperliche Untersuchungen und Beurteilungen anhand von Fotomaterial oder Behandlungsunterlagen ohne Vorliegen einer Strafanzeige einbezogen.

Fälle, in denen eine körperliche Misshandlung nicht sicher von einem sexuellen Missbrauch zu trennen war, und Fälle, bei denen der Misshandlungsverdacht rechtsmedizinisch nicht sicher bestätigt werden konnte, wurden ausgeschlossen. Die Auswertung erfolgte im Vergleich zu einer Kontrollgruppe (n = 363) von Kindern im Alter von 0 bis 14 Jahren des gleichen Einzugsgebietes aus der Poliklinik einer Kinderklinik, die aus anderen medizinischen Gründen vorstellig wurden und bei denen kein Misshandlungsverdacht bestand.

Neben dem Alter und dem Geschlecht der Kinder wurden familiäre Faktoren erhoben. Ausgewertet wurden die Familienkonstellation, demografische und soziale Faktoren, die psychische Gesundheit der leiblichen Eltern, die angeschuldigten Personen und vorherige Kontakte der Familie zum Jugendamt.

Die Auswertung der Daten erfolgte mit dem Statistikprogramm „IBM® SPSS® Statistics“ (Version 23) (IBM Deutschland GmbH). Für die deskriptive Analyse wurden Häufigkeiten, Mittelwerte und Mediane ermittelt. Für alle Variablen, die sowohl in der Fall- als auch in der Kontrollgruppe erhoben wurden, erfolgte eine zusätzliche explorative statistische Analyse durch Ermittlung von Kreuztabellen, Chi-Quadrat-Test sowie ggf. Exakter-Fisher-Test und Mann-Whitney-U-Test. Ein p-Wert von 0,05 wurde als statistisch signifikant angesehen.

Ergebnisse

Alters- und Geschlechterverteilung der Kinder

In der Kontrollgruppe ergab sich ein annähernd ausgeglichenes Geschlechterverhältnis, während in der Fallgruppe signifikant mehr männliche als weibliche Kinder vorhanden waren (Fallgruppe: 60 % männlich, 40 % weiblich; Kontrollgruppe: 52 % männlich, 48 % weiblich; p = 0,05) (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Geschlechterverteilung in der Fall- und Kontrollgruppe

Die Kinder der untersuchten Kollektive wurden in Neugeborene und Säuglinge (< 1 Jahr), Kleinkinder (≥ 1 bis ≤ 3 Jahre), Kinder (≥ 4 bis ≤ 12 Jahre) und Jugendliche (≥ 13 bis ≤ 14 Jahre) eingeteilt. Die Auswertung ergab, dass jüngere Kinder signifikant häufiger in der Fallgruppe (61 % vs. 51 % Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder), ältere Kinder signifikant häufiger in der Kontrollgruppe vertreten waren (39 % vs. 49 % Kinder und Jugendliche). Kinder der Fallgruppe waren im Median ein Jahr jünger als in der Kontrollgruppe (Fallgruppe: Mdn= 2, M= 3,58; Kontrollgruppe: Mdn=3, M= 4,72; p= 0,009) (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Altersverteilung in der Fall- und Kontrollgruppe

Familienkonstellation

Die Eltern waren in der Fallgruppe statistisch signifikant jünger als in der Kontrollgruppe. Die Mütter in der Fallgruppe waren im Median 10 Jahre jünger als in der Kontrollgruppe (Fallgruppe: Mdn = 25, M = 26,53; Kontrollgruppe: Mdn = 35, M = 35,73; p < 0,0005), die Väter 8 Jahre (Fallgruppe: Mdn = 30, M = 31,31; Kontrollgruppe: Mdn = 38, M = 38,98; p < 0,0005).

Die Kinder der Kontrollgruppe lebten signifikant häufiger in einem traditionellen Familienmodell (mit beiden leiblichen Eltern in einem Haushalt) im Vergleich zu den Kindern der Fallgruppe (Fallgruppe 52 %, Kontrollgruppe 82 %, p < 0,0005). In der Fallgruppe kamen häufiger vom traditionellen Familienmodell abweichende Lebenssituationen vor, insbesondere die Konstellation leibliche Mutter mit einem neuen Partner war häufiger vertreten (Fallgruppe 19 %, Kontrollgruppe 3 %, p < 0,0005) (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Familienmodelle in der Fall- und Kontrollgruppe

Die Anzahl der Geschwister und die Position des Kindes in der Geschwisterreihe zeigten keine signifikanten Unterschiede zwischen den untersuchten Gruppen (Abb. 4 und 5). Sowohl in der Fall- als auch der Kontrollgruppe waren Einzelkinder und Familien mit zwei Kindern am häufigsten vertreten (Fallgruppe: Mdn = 1, M= 1,25; Kontrollgruppe: Mdn = 1, M= 1,14). In beiden Gruppen waren die Kinder am häufigsten die jüngsten (Fallgruppe 38 %, Kontrollgruppe 42 %) oder Einzelkinder (Fallgruppe 35 %, Kontrollgruppe 31 %), seltener die ältesten (Fallgruppe 16 %, Kontrollgruppe 18 %) oder sog. Sandwich-Kinder (Fallgruppe 10 %, Kontrollgruppe 8 %).

Abb. 4
figure 4

Anzahl der Geschwister in der Fall- und Kontrollgruppe

Abb. 5
figure 5

Stelle in der Geschwisterreihe in der Fall- und Kontrollgruppe

Demografische und soziale Faktoren sowie psychische Gesundheit der leiblichen Eltern

In den Akten fehlten häufig Informationen zu den demografischen und sozialen Faktoren sowie zur psychischen Gesundheit der Eltern. Die Erfassungsquoten waren entsprechend niedrig (2–22 %). Unter diesen Voraussetzungen ergab die Auswertung der Faktoren Drogenmissbrauch, Vorstrafen, Migrationshintergrund, psychische Gesundheit, Arbeitslosigkeit und Bildungsstatus der leiblichen Eltern keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen, wobei eine gesicherte Schlussfolgerung aufgrund der geringen Erfassungsquoten nicht abgeleitet werden kann.

Vorangegangene Kontakte zum Jugendamt

Hinsichtlich vorausgegangener Kontakte der Familien zum Jugendamt gab es signifikante Unterschiede zwischen beiden Gruppen. Während in der Kontrollgruppe nur knapp jedes zehnte Kind dem Jugendamt bekannt war, waren es in der Fallgruppe mehr als ein Drittel der Kinder (Fallgruppe 36 % vs. Kontrollgruppe 7 %, p < 0,0005). Die Angaben in der Kontrollgruppe beruhten auf den Angaben der Eltern, welche die Kinder zur Untersuchung in der Kinderklinik vorstellten. In der Fallgruppe wurden die Angaben überwiegend von MitarbeiterInnen der Jugendämter getätigt.

Angeschuldigte Personen

Bei den angeschuldigten Personen handelte es sich am häufigsten um den Vater (22 %), die Mutter (24 %) oder beide Elternteile (31 %). In den übrigen Fällen waren am häufigsten der neue Lebensgefährte der Mutter (9 %) oder die Kombination aus Mutter und neuem Lebensgefährten (7 %) die angeschuldigte(n) Person(en). Die neue Lebensgefährtin des Vaters (1 %) sowie die Kombination aus Vater und neuer Lebensgefährtin (1 %) wurden selten als angeschuldigte Person(en) erfasst. Bei den Angeschuldigten handelt es sich um die Person(en), die zum Zeitpunkt der rechtsmedizinischen Untersuchung verdächtigt wurden, die Misshandlung begangen zu haben, jedoch nicht um gerichtlich verurteilte TäterInnen.

Diskussion

Da die Exposition gegenüber Gewalt schwerwiegende Folgen für die Entwicklung von Kindern hat, sollten ÄrztInnen und Angehörige anderer Berufsgruppen mit engem Kontakt zu Kindern neben misshandlungsverdächtigen Befunden und Verhaltensweisen auch Risikofaktoren für körperliche Kindesmisshandlung kennen.

In der Fallgruppe waren Jungen signifikant häufiger vertreten als in der Kontrollgruppe (60 % vs. 53 %). Die Geschlechterverteilung in der Kontrollgruppe (52 % männlich, 48 % weiblich) ist vergleichbar mit den Werten der Allgemeinbevölkerung im Zeitraum 2004–2015 in dem Bundesland, in dem die Studie durchgeführt wurde (Lebendgeburten: 51 % männlich, 49 % weiblich) [13]. Das männliche Geschlecht konnte als kindbezogener Risikofaktoren für körperliche Misshandlung ermittelt werden. In der Literatur gibt es Unterschiede hinsichtlich der Geschlechterverteilung der Kinder in Abhängigkeit von der Art des Missbrauchs (körperlich, sexuell, Vernachlässigung). Bezogen auf eine körperliche Misshandlung wurden in einzelnen Studien keine signifikanten geschlechtsspezifischen Unterschiede festgestellt [14, 15]; in anderen Studien waren Jungen häufiger von körperlicher Misshandlung betroffen als Mädchen [16,17,18]. Thompson et al. untersuchten die Auswirkungen körperlicher Misshandlung in der Kindheit auf Gesundheitsprobleme im Erwachsenenalter unter besonderer Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen Unterschiede (Daten von 8000 Männern und 8000 Frauen, die im Rahmen der National Violence Against Women Survey befragt wurden). Die Studie ergab, dass körperliche Misshandlung in der Kindheit bei Männern häufiger vorkam als bei Frauen. Körperliche Misshandlung in der Kindheit korrelierte mit Gesundheitsproblemen im Erwachsenenalter der gesamten Stichprobe, beeinträchtigte die psychische Gesundheit und das allgemeine Gesundheitsempfinden jedoch bei Frauen stärker als bei Männern [19]. Männliche Kinder sind anscheinend häufiger von körperlicher Misshandlung betroffen, die Folgen sind jedoch sowohl für Männer als auch für Frauen nachteilig, was die Notwendigkeit der Früherkennung und Prävention in unserer Gesellschaft unterstreicht.

In der vorliegenden Studie wurde zudem ein junges Kindesalter als kindbezogener Risikofaktor für körperliche Misshandlung ermittelt. Kinder in der Fallgruppe waren im Median ein Jahr jünger als in der Kontrollgruppe. Auch ohne Berücksichtigung der Kontrollgruppe fällt auf, dass über die Hälfte der misshandelten Kinder 3 Jahre alt oder jünger waren. Die Kinder waren in 31 % der Fälle unter einem Jahr und in 30 % zwischen einem Jahr und 3 Jahren alt. Angesichts der niedrigen Säuglingssterblichkeit in Deutschland und der seit 2004 konstanten Geburtenrate kann annäherungsweise davon ausgegangen werden, dass die Zahl der Kinder in der Altersgruppe von 0 bis 15 Jahren im vorliegenden Erhebungszeitraum gleichgeblieben ist [13, 20]. Die Ergebnisse bestätigen die Annahme, dass jüngere Kinder ein höheres Risiko haben, körperliche Gewalt zu erfahren [21]. Zudem muss berücksichtigt werden, dass Kinder unter einem Jahr ein höheres Risiko haben, schwerer und im schlimmsten Fall tödlicher Misshandlung ausgesetzt zu sein [22]. Es ist allerdings zu diskutieren, ob jüngere Kinder nach einer körperlichen Misshandlung häufiger in klinische Behandlung gelangen, da die Misshandlungsfolgen tendenziell schwerwiegender sind. Zudem wäre denkbar, dass ältere Kinder die Verursacher schützen, sich schämen oder Verletzungen vor Dritten verbergen. Als Limitation der Studie muss daher ein möglicherweise altersabhängiges Hell‑/Dunkelfeld in Misshandlungsfällen angeführt werden.

In der vorliegenden Auswertung waren die Eltern in der Fallgruppe signifikant jünger als in der Kontrollgruppe. Verglichen mit der Allgemeinbevölkerung waren die Mütter in der Fallgruppe zum Zeitpunkt der rechtsmedizinischen Untersuchung durchschnittlich 5,6 Jahre jünger als Mütter aus dem Bundesland der Studie bei der Geburt ihres ersten Kindes [23]. Verschiedene Studien identifizierten ein junges Alter der Eltern (insbesondere der Mutter) als Risikofaktor in Misshandlungsfällen [15, 24, 25]. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie belegen in der Zusammenschau mit der Literatur, dass ein junges Alter der Eltern als familiärer Risikofaktor berücksichtigt werden sollte.

Die Kinder der Kontrollgruppe lebten im Vergleich zur Fallgruppe signifikant häufiger in einer traditionellen Familienform, also mit den leiblichen Eltern (82 % vs. 52 %), die Kinder der Fallgruppe hingegen signifikant häufiger in anderen Familienformen, wobei insbesondere die Konstellation der Mutter mit einem neuen Partner häufiger vorlag (19 % vs. 3 %). Die Ergebnisse weichen vom Bevölkerungsdurchschnitt ab. Im Jahr 2015 wurde im Bundesland der vorliegenden Erhebung eine Verteilung von 71,1 % Ehepaaren mit Kindern, 22,5 % alleinerziehenden Familien und 6,4 % Lebensgemeinschaften mit Kindern festgestellt [26]. Der Anteil der Kinder, die bei den leiblichen Eltern leben, liegt in der Kontrollgruppe über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Ursächlich kommt in Betracht, dass in den Mikrozensus nur Ehepaare und in die vorliegende Studie zusätzlich nichtverheiratete Paare einbezogen wurden. Auch in der Literatur findet sich mit 48,8 % ein höherer Anteil an misshandelten Kindern in anderen Familienmodellen (alleinerziehend, neue(r) PartnerIn) als dem klassischen (39 %) [24]. Stith et al. fanden eine schwache Effektstärke für Alleinerziehende und eine sehr schwache Effektstärke für die Situation, dass ein nichtleibliches Elternteil mit im Haushalt lebt, als Risikofaktoren für Kindesmisshandlung und Vernachlässigung [15]. Die Ergebnisse der durchgeführten Erhebung sprechen auch unter Berücksichtigung der Literatur für die Annahme, dass Kindesmisshandlung häufiger in den von klassischen Familienformen abweichenden Konstellationen auftritt.

Die Untersuchung der Anzahl von Geschwistern ergab keine signifikanten Unterschiede zwischen Fall- und Kontrollgruppe, jedoch zur Allgemeinbevölkerung (2015: in ca. der Hälfte der Familien Einzelkinder, in 37 % zwei und in 12 % drei oder mehr Kinder) [26]. Die Zahl von Einzelkindern ist in der Fall- und Kontrollgruppe geringer und die Zahl von Kindern mit 2 oder mehr Geschwistern höher als in der Allgemeinbevölkerung. In anderen Studien konnte die Anwesenheit mehrerer jüngerer Kinder als Risikofaktor für körperliche Misshandlung identifiziert werden [15, 25, 27].

Die Stelle des misshandelten Kindes in der Geschwisterreihe differiert zwischen Fall- und Kontrollgruppe lediglich um 0–4 % und ist nicht signifikant unterschiedlich. Kinder in der Fallgruppe sind häufiger Einzel- und Sandwich-Kinder als in der Kontrollgruppe. Die meisten Kinder in der Fall- und Kontrollgruppe sind die jüngsten in der Geschwisterreihe, was sich mit dem häufig jungen Alter der Kinder in der Fall- und Kontrollgruppe deckt. Ein Zusammenhang zwischen der Anzahl von Geschwistern bzw. der Stelle in der Geschwisterreihe und dem Risiko einer Misshandlung kann anhand der vorliegenden Ergebnisse nicht sicher bestätigt werden, es ergeben sich jedoch zumindest im Vergleich mit der Allgemeinbevölkerung Hinweise für ein erhöhtes Risiko bei mehreren Kindern in der Familie.

Die Auswertung ergab ferner in 36 % der Fälle, dass die Familie schon vor der Misshandlung beim Jugendamt bekannt war oder Hilfe durch Institutionen der Jugendhilfe erhielt. Daten über die Anzahl der insgesamt beim Jugendamt bekannten Familien wurden nicht gefunden. Als Anhaltspunkt konnte aus den Daten des Statistischen Bundesamtes ermittelt werden, dass im Jahr 2016 im Bundesland der Erhebung insgesamt 7106 Verfahren anhängig waren, wobei in 1690 Fällen eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung vorlag [28]. Bei 745.410 Einwohnern unter 20 Jahren im Bundesland der vorliegenden Studie im Jahr 2016 (errechnet nach [29]) ergibt sich eine Quote von knapp 1 %. Die Häufigkeit der Bekanntheit der Familie beim Jugendamt in der Fallgruppe liegt somit signifikant über derjenigen in der Allgemeinbevölkerung und der Kontrollgruppe. Auch Stith et al. und Kindler berichten in ihren Studien über das Angebundensein der Familie an Hilfeträger als Risikofaktor für Misshandlung [15, 30]. Kinder, bei denen bereits andere Gefährdungsaspekte vorliegen oder die gar eine wiederholte Misshandlung erleben, benötigen den vorliegenden Ergebnissen zufolge besonderen Schutz. Bereits erfolgte Kontakte der Familie zum Jugendamt haben einen hohen Stellenwert und sollten in Verdachtsfällen in die Gefährdungsbeurteilung einbezogen werden.

Die vorliegende Studie ergab bei niedrigen Erfassungsquoten keine signifikanten Unterschiede in Bezug auf demografische und soziale Faktoren und die psychische Gesundheit der Eltern, wobei eine gesicherte Schlussfolgerung aufgrund der geringen Erfassungsquoten nicht abgeleitet werden kann.

Die Auswertung der angeschuldigten Personen zeigt, dass der stereotypen Annahme einer vermeintlich klassischen Geschlechterverteilung von männlichen Beschuldigten und der heute durchaus noch herrschenden Meinung, dass Eltern als Verursacher einer Misshandlung ihrer eigenen Kinder nicht in Betracht kommen können, obwohl die Bedeutung des sozialen Nahraums bekannt ist, entgegenzuwirken ist.

Zusammenfassend wurden ein junges Alter der Eltern und vom klassischen Familienmodell abweichende Familienkonstellationen als signifikante familiäre Risikofaktoren für Kindesmisshandlung identifiziert. Nicht selten waren die Familien bereits an Hilfeträger angebunden, was darüber hinaus als Indikator für Kindesmisshandlung angesehen werden kann und gleichzeitig die Notwendigkeit wirksamer Präventionsprogramme unterstreicht. Die identifizierten Risikofaktoren bzw. Indikatoren können bereits vor der Geburt und in den ersten Lebenstagen eines Kindes eruiert werden. Um eine Gefährdung zu erkennen und die Schädigung eines Kindes zu verhindern, sollten Risikofaktoren für Kindesmisshandlung berücksichtigt und den Familien nach sorgfältiger individueller Abwägung wirksame präventive Unterstützungsmaßnahmen, wie auch in dem im Jahr 2021 beschlossenen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz vorgesehen [31], angeboten werden. Darüber hinaus könnte die aktuell in Diskussion stehende und teils bereits umgesetzte Änderung des Heilberufsgesetzes den interkollegialen Austausch unter ÄrztInnen bei dem Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung ermöglichen, was zusätzliche Handlungssicherheit bei der Diagnosestellung und Bewertung der Gefährdungslage bieten kann [32].

Fazit für die Praxis

Im Rahmen der routinemäßigen Patientenversorgung sollten ÄrztInnen bei der Beurteilung von auf Misshandlung suspekten Verletzungen auch Risikofaktoren für Kindesmisshandlung einbeziehen. Um gefährdete Kinder und Misshandlungsfälle frühzeitig zu erkennen und die Familien in Präventionsprogramme einzubinden, ist die Sensibilisierung der Ärzteschaft für die Thematik, beispielsweise in U‑Untersuchungen, ein wesentlicher Ansatz. Obwohl allgemeine Screeningverfahren und obligatorische Untersuchungen derzeit nicht empfohlen werden, ist ein gutes Verständnis familiärer Risikofaktoren in Fällen von körperlicher Kindesmisshandlung wichtig, um die Entwicklung von Präventions- und Interventionsstrategien einschließlich der Früherkennung zu verbessern.