Hintergrund und Fragestellung

Während der jüngere Patient mit Low-risk-Prostatakarzinom (PCa) keiner sofortigen invasiven Behandlung bedarf und sich mit der aktiven Überwachung (Active Surveillance, AS) die Option auf Kuration offen halten muss, richtet sich im Alter die Behandlung nicht nur nach Tumoreigenschaften und Stadium, sondern v. a. nach dem Wunsch des Patienten und seiner Belastbarkeit. Letztere ist gegeben durch Komorbiditäten und die funktionellen Parameter. Kommt eine sofortige oder verzögerte invasive Behandlung aus unterschiedlichen individuellen Gründen nicht mehr in Frage, bieten sich die palliativen Verfahren langfristige Beobachtung (Watchful Waiting, WW) und Hormonentzugstherapie (HT) an. Anhand der in der HAROW-Studie [1] erhobenen Verlaufsdaten zu AS, WW und HT prüfen wir, wie diese Therapiemodalitäten bei Patienten ≥70 Jahre im Versorgungsalltag („real life data“) eingesetzt werden. Insbesondere soll geprüft werden, ob sie ihrer Definition entsprechend unterschieden werden und wie Urologen/innen bei älteren Patienten mit ihnen umgehen. Weiterhin, welche Ergebnisse hierdurch zu erzielen sind, und ob sich Empfehlungen daraus herleiten lassen.

Einleitung

Die Ansicht, ein PCa müsse unter allen Umständen und sofort radikal behandelt werden, ist weit verbreitet. Alter, Komorbiditäten, Tumorkriterien und Prostataspezifisches Antigen(PSA)-Verläufe verlangen aber eine individualisierte Behandlung.

Die Früherkennung mittels PSA-Test führt nicht nur zu einer Abnahme fortgeschrittener Stadien, sondern auch zu einer hohen Zahl von „PSA-Kranken“, deren Tumor – würde er nicht diagnostiziert – zu Lebzeiten nie in Erscheinung träte [2]. Fast drei Viertel dieser Karzinome befinden sich zum Zeitpunkt der Diagnose im Stadium cT1 (31 %) bis cT2 (43 %), N0, M0. Bei einem mittleren Erkrankungsalter von 72 Jahren und dem langen Verlauf ist die Prognose mit einem tumorspezifischen 10-Jahres-Überleben von >90 % so gut wie bei wenigen anderen Tumorentitäten.

Die PCa-Sterblichkeitsrate ist seit mehr als 20 Jahren in Deutschland leicht rückläufig. Vom Höchststand 1994/95 mit >30/100.000 fiel sie bis 2014 auf 19,7; für 2018 werden 19,4 prognostiziert; nur 3,1 % aller Todesfälle sind auf ein PCa zurückzuführen [2, 3]. Die gleiche Entwicklung wird in den USA beobachtet. Dort sinkt die Mortalität seit 1999, die Indzidenz nimmt ebenfalls signifikant ab: sie fiel von 2008 bis 2014 um 7,6 %, die PCa-Mortalität um 2,2 % [4].

Behandlungsindikation

Der sich über viele Jahre erstreckende Verlauf der Erkrankung und deren geringes Lebenszeitrisiko relativieren die sofortigen invasiven Interventionen wie radikale Prostatektomie (RP) und Radiotherapie (RT). Männer mit Low-risk-PCa und einer hohen Lebenserwartung gewinnen die Chance, sich durch die weit weniger belastende AS eine unnötige invasive Therapie und deren Folgen zu ersparen, ohne bei evtl. eintretender Progression auf eine kurative Behandlung zu verzichten [5]. Entscheidend sind – neben der individuellen Präferenz – die Belastbarkeit und die Lebenserwartung. Älteren Männern kann bei entsprechenden Voraussetzungen WW empfohlen werden, bei aggressiven Tumoren eine HT.

Langfristige Beobachtung

Langfristige Beobachtung (WW) ist eine palliative, symptomorientierte Option bei eingeschränkter Lebenserwartung; behandelt wird erst bei krankheitsbedingter Symptomatik. Vorgaben zu PSA-Kontrollen oder Rebiopsien im Rahmen der Verlaufsbeobachtung sind für WW-Patienten per definitionem nicht vorgesehen.

Zwei randomisierte Studien (SPCG‑4 und PIVOT) haben WW gegenüber RP geprüft. In der SPCG-4-Studie unterschied sich die tumorspezifische Mortalität nach 18 Jahren nicht signifikant. Die RP war nur bei Patienten <65 Jahren geringfügig überlegen (tumorspezifische Mortalität 6,8 % vs. 11 %), obwohl intermediate und High-risk-Tumoren einbezogen waren [6]. Auch in der PIVOT-Studie unterschied sich nach einer medianen Beobachtungszeit von 10 Jahren die tumorspezifische Mortalität nach RP und WW nur gering (5,8 vs. 8,4 %; [7]). Die Ergebnisse der Studie sind aufgrund einiger Mängel statistisch nur unzureichend abgesichert. Beide Studien haben den Evidenzlevel 1b und finden einen Vorteil der RP gegenüber WW nur für die Altersgruppe ≤65 Jahre [6] bzw. bei Intermediate-risk-Tumoren [7].

Hormontherapie

Im Gegensatz zu WW erfreut sich die primäre HT größerer Akzeptanz, weil hier aktiv therapiert werden kann. Der Patient fühlt sich versorgt, wenn er gleichzeitig mit der Diagnose ein Antiandrogen, einen LHRH-Agonisten oder Antagonisten erhält. Die primäre HT sollte jedoch den Patienten mit aggressiven Tumoren, d. h. solchen mit einer PSA-Verdopplungszeit (PSA-DT) <12 Monaten und einem PSA-Wert >50 ng/ml vorbehalten bleiben [8]. Nach den 15-Jahres-Ergebnissen einer Kohorte mit T1- und T2-Tumoren und zusätzlichen Erkrankungen bietet die HT nach 15-jähriger Beobachtung keinen Überlebensvorteil, ist aber mit behandlungsbedingten Nebenwirkungen wie Osteoporose, verminderter Libido und metabolischem Syndrom verbunden. Dem verlängerten progressionsfreien Überleben steht eine uneinheitliche Datenlage bezüglich des Gesamtüberlebens gegenüber [9,10,11].

Aktive Überwachung

Während das WW-Konzept in kontrollierten randomisierten Studien (RCT) überprüft war [6, 7], wurde AS als eine relativ neue Strategie Anfang der 1990er-Jahre in Kohortenstudien entwickelt. Eine Zeitlang wurden beide Namen zunächst synonym verwendet, dann trennte Parker 2004 Begriffe und Vorgehensweisen. Während für WW das Monitoring als unwichtig erachtet wurde („PSA-testing unimportant, no repeat biopsies“), war für AS die Erkennung der Progression äußerst wichtig, da sie die Intervention veranlasst [12]. Die guten Ergebnisse der AS gehen auf die definierten Eingangskriterien und v. a. auf die konsequenten Kontrollen zurück [13]. AS ist inzwischen eine durch 3 Metanalysen abgesicherte Strategie [14,15,16].

Die Akzeptanz von Palliation und aktiver Überwachung

Vor allem die von Klotz et al. erzielten Ergebnisse haben dazu geführt, dass AS in den USA neben RP und RT seit Jahren als Standard gilt [17, 18]. So erhalten 42 % der Patienten mit organbegrenztem PCa eine AS (oder WW; [18]). Auch in Schweden [5] und Australien [19] ist diese Strategie weit verbreitet – hier werden 74 % bzw. 25 % der Patienten mit neu diagnotiziertem Low-risk-PCa aktiv überwacht. Eine prospektiv randomisierte Studie (ProtecT) belegt, dass sich das krebsspezifische Überleben gegenüber einer sofortigen invasiven Therapie nicht unterscheidet [20]. Auch in Deutschland hat AS ihren Platz in der Leitlinie gefunden und wird zunehmend akzeptiert [8].

Dagegen wird WW oft als tatenloses Warten auf den Tod verstanden. Für Low-risk-Tumoren kann WW bei dem zu erwartendem langsamen Verlauf unter bestimmten Umständen durchaus die angemessene Strategie sein. In Sorge um die möglichen Folgen einer Progression zögert man oft, den Patienten darüber zu informieren, obwohl sich symptomorientierte wirksame Maßnahmen jederzeit anschließen können. Es lohnt sich, für ältere Patienten AS und WW bzw. HT gemeinsam zu betrachten, zumal ein fließender Übergang möglich ist. Das bietet sich besonders für Männer mit Low‑/Intermediate-risk-PCa an, die zunächst AS gewählt haben und später aus Alters- oder anderen Gründen eine mögliche radikale Therapie nicht mehr in Betracht ziehen würden. Es ist zu erwarten, dass etwa die Hälfte der für AS geeigneten Patienten eine Altersstufe erreicht, die sie für WW qualifiziert [21].

Patienten und Methode

Grundlage der vorliegenden Arbeit sind die Daten der 2008 begonnenen und 5 Jahre später beendeten HAROW-Studie (HT, AS, RT, OP [RP], WW), deren Ziel es u. a. war, auf die damals unbekannte Therapieform der AS aufmerksam zu machen, aber auch auf die palliativen Optionen (WW, HT) hinzuweisen. Eingeschlossen wurden neu diagnostizierte, organbegrenzte PCa (≤cT2c) ohne Metastasierung. Feste Therapievorgaben wurden nicht gemacht. Die Therapieentscheidung lag bei den jeweiligen Ärzten/innen bzw. den Patienten. Für AS gab es lediglich Empfehlungen (PSA ≤10 ng/ml, Gleason-Score ≤6, PSA-Dichte ≤0,2 ng/ml2 und ≤2 positive Biopsien). Weitere Empfehlungen wurden nicht gegeben, da es sich bei WW und HT um etablierte palliative Optionen für Patienten mit einer Lebenserwartung <10 Jahren handelte, auf die in früheren Leitlinien eingegangen worden war [22]. Auch die Entscheidung, ob und welche bildgebenden Verfahren eingesetzt wurden, oblag alleine den Studienärzten. Dies war bei der Konzeption der Studie eine bewusste Entscheidung, um die „Real-life-Studienbedingungen“ nicht zu verzerren, da die Studienärzte nicht von Ihrem normalen klinischen Vorgehen abweichen sollten.

HAROW ist also eine prospektive nichtinterventionelle Beobachtungsstudie (NIS) aus dem Bereich der Versorgungsforschung. Die Daten zur Rekrutierung, der Diagnostik (digital-rektale Untersuchung = DRU, PSA, Biopsie) einschließlich des Charlson Comorbidity Index (CCI; [23]) und des Verlaufs der Gesamtkohorte für den Studienzeitraum 2008–2013 mit einer mittleren Beobachtungszeit (mFU) von 28,4 Monaten sind veröffentlicht [1]. Nach Beendigung der Studie wurden einzelne Therapiegruppen gesondert nachbeobachtet, wobei sich diese Nachbeobachtungen auf die wichtigsten Angaben beschränkten: Überleben, Metastasierung und Therapiewechsel (TW). Bei einem TW wurden die gewählte neue Behandlung und der weitere Verlauf erfragt. Eine vollständige Dokumentation aller Angaben konnte durch die gesonderten Nachbefragungen bei 66,2 % der AS-, 67,8 % der WW- und 76,9 % der HT-Patienten (p = 0,072) nach unterschiedlichem mFU von 6,3 Jahren (AS), 7,0 Jahren (WW) und 7,5 Jahren (HT) erreicht werden. In dieser Arbeit werden jeweils die Subgruppen der ≥70-jährigen Patienten dargestellt.

Statistik

Die Bewertung wurde mit Version 22 der Statistiksoftware IBM SPSS® durchgeführt. Metrische Variablen wurden mittels univariater Varianzanalyse und dem Kruskal-Wallis-Test bewertet, kategorische Variablen wurden mit dem χ2-Test oder dem Fisher-Exakt-Test bewertet. Die Analyse des metastasenfreien und Gesamtüberlebens sowie der Zeit bis zu einem TW erfolgte mit der Kaplan-Meier-Methode und dem Log-Rank-Test. Die Berechnungen basieren auf dem Signifikanzniveau von 5 %.

Ergebnisse

Von den in die HAROW-Studie eingeschlossenen 3169 Patienten konnten 2957 ausgewertet werden. Von diesen waren 1165 (39,4 %) 70 Jahre oder älter. In der Gruppe ≥70 Jahre hatten sich 457 Betroffene (39,2 %) für ein nichtinvasives Vorgehen entschieden: 210 (46,0 %) für AS, 87 (18,0 %) für WW und 160 (35,0 %) für HT (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Patientenselektion innerhalb der HAROW-Studie

Basisdaten

Die ≥70-jährigen AS-Patienten waren im Median 73,2 Jahre und im Vergleich zu WW- (76,0 Jahre) und HT-Patienten (76,9 Jahre) signifikant jünger (p ≤ 0,001). Sie hatten im Median niedrigere PSA-Werte: 5,5 vs. 5,9 vs. 9,5 ng/ml (p ≤ 0,001) und eine niedrigere PSA-Dichte: 0,14 vs. 0,16 vs. 0,28 ng/ml2 (p ≤ 0,001). Der Anteil von Tumoren mit Gleason 6 bzw. niedrigem Risiko nach der D’Amico-Klassifikation war in der AS-Gruppe signifikant höher (92,3 %/80 %) als bei WW (50,6 %/31 %) und HT (46,3 %/19,4 %; p ≤ 0,001). Die initiale Biopsie ergab eine geringere Anzahl von ≥3 positiven Stanzzylindern: 5,2 % vs. 25,4 % vs. 59,3 % (p ≤ 0,001). Der Unterschied hinsichtlich des CCI = 0 war zwischen den drei Gruppen nicht signifikant: 65,2 % vs. 59,8 % vs. 54,7 % (p = 0,82; Tab. 1).

Tab. 1 Patienten- und Tumorcharakteristika zu Studienbeginn für Patienten ≥70 Jahren unter aktiver Überwachung, langfristiger Beobachtung und Hormonentzugstherapie

PSA und Biopsie während des Verlaufs

Die Daten hierzu wurden nur innerhalb der Rekrutierungszeit der HAROW-Studie (mFU 28,4 Monate) erhoben. Die Häufigkeit der PSA-Bestimmungen betrug in dieser Zeit durchschnittlich 6,1 (AS), 5,2 (WW, p = 0,09) bzw. 3,9 (HT, p < 0,001). Vier oder mehr PSA-Bestimmungen während der Beobachtungszeit erhielten 68,1 % (AS), 59,7 % (WW) sowie 52,5 % (HT; Abb. 2a).

Abb. 2
figure 2

a Anzahl der PSA-Bestimmungen (%) und b Anzahl der Rebiopsien (%) während der Verlaufskontrollen innerhalb der HAROW-Studie 2008–2013 (mittlere Beobachtungszeit 28,4 Monate)

Zu einer Rebiopsie gelangten 37,6 % der AS-, 11,4 % der WW- und 7,0 % der HT-Patienten (Abb. 2b). Nach Ende der HAROW-Studie wurden die jährlichen PSA-Bestimmungen sowie die Rebiopsien nicht mehr dokumentiert.

Therapiewechsel

Die TW im zeitlichen Verlauf der unterschiedlichen Nachbeobachtungszeiten (s. oben) sind in Abb. 3 dargestellt. Nahezu die Hälfte der AS-Patienten (47,1 %; n = 99) änderte die primär eingeleitete Behandlung, bei WW waren es 17,2 % (n = 15), unter HT wechselten die wenigsten Patienten (13,1 %; n = 21).

Abb. 3
figure 3

Kumulierte Darstellung der Therapiewechsel unter aktiver Überwachung (Active Surveillance, AS), langfristiger Beobachtung (Watchful Waiting, WW) und Hormonentzugstherapie (HT)

Von den 99 AS-Patienten mit TW ließen sich 55 Patienten (55,6 %) kurativ versorgen (RP = 27 oder RT = 28), 31 wechselten zu WW und 13 zu HT. Somit wurden nach der AS-Phase insgesamt 44,4 % der Patienten in eine Palliation überführt. Die Mehrheit der WW-Wechsler erhielt eine palliative HT (n = 11), 3 Patienten eine RT und ein Patient ließ sich operieren. Von den HT-Patienten wurden 7 bestrahlt, 7 wechselten zu WW, 6 erhielten eine Chemotherapie und ein Patient wurde mit hochintensivem fokussierten Ultraschall (HIFU) behandelt.

Metastasen und Gesamtüberleben

Während der Nachbeobachtung entwickelten unter AS 2, unter WW 4 und unter HT 11 Patienten Metastasen, was einem kumulierten metastasenfreien Verlauf von 99,0 %, 95,4 % und 93,1 % entsprach. Hier zeigten sich signifikante Unterschiede zwischen AS und WW (p = 0,019) sowie AS und HT (p < 0,001; Abb. 4a). Verstorben waren 12 AS-, 8 WW-, und 29 HT-Patienten. Somit betrug das kumulierte Gesamtüberleben 94,3 % für AS, 90,8 % für WW und 81,9 % für HT. Hier unterschieden sich nur die AS- und die HT-Gruppe signifikant (p < 0,001; Abb. 4b).

Abb. 4
figure 4

a Kumulierte Metastasenfreiheit und b kumuliertes Gesamtüberleben für Patienten unter aktiver Überwachung (Active Surveillance, AS), langfristiger Beobachtung (Watchful Waiting, WW) und Hormonentzugstherapie (HT)

Diskussion

Im klinischen Sprachgebrauch werden die Begriffe „aktive Überwachung“ und „langfristige Beobachtung“ bzw. im angloamerikanischen Sprachgebrauch „Active Surveillance“ und „Watchful Waiting“ oft synonym verwendet. Häufig werden sie auch mit Begriffen wie „expectant management“, „conservative management“ oder einfach „observation“ umschrieben, welche allerdings keinen Aufschluss darüber geben, ob es sich um einen kurativen oder palliativen Ansatz handelt. Auffällig ist in den Studien SPCG‑4 und PIVOT [6, 7], dass der jeweilige WW-Arm nicht eine rein palliative, also symptomorientierte Therapie (Obstruktion der Harnwege, Blutung, Schmerzen und Frakturen) vorsah, sondern eine Form der Beobachtung, die als „kontrolliertes WW“ – besser als „kontrolliertes Zuwarten“ – bezeichnet werden kann, ohne aber so genannt zu werden. Das wird deutlich an den häufigen Kontrolluntersuchungen und den Wechseln zu kurativ intendierten Therapien. In der HAROW-Studie bestand sogar in der höheren Altersgruppe durchaus die Neigung von Arzt und Patient, den Verlauf unter WW durch häufige PSA-Messungen oder gar Kontrollbiopsien zu verfolgen, so dass auch wir eher von einem „kontrollierten Zuwarten“ sprechen müssen, auch wenn kurative Interventionen selten waren (Abb. 2).

Wir haben die Daten der ≥70-jährigen WW- und HT-Patienten denen von AS gegenübergestellt. Das führt wegen der geringeren Selektion – anders als in klinisch kontrollierten Studien (RCT) – zu einem versorgungsnahen Abbild. Dabei zeigt sich die richtige Zuordnung zu den beiden palliativen Optionen, weil der Wechsel zur Kuration eine Ausnahme blieb. Unter Berücksichtigung der geringen Metastasierung und des guten Gesamtüberlebens sollten WW und HT vermittelbare Angebote sein, zumal sie die oft ohnehin eingeschränkte Funktionalität der Patienten nicht mindern. Eine kurative Intervention kann sogar wegen der altersbedingten Komorbidität kontraindiziert sein, so dass in solchen Fällen auch AS nicht zu empfehlen ist. Leider werden ältere Patienten über die Möglichkeiten einer Palliation nur ungenügend informiert [24]. Das könnte der Grund dafür sein, dass 210 ältere Patienten in den AS-Arm rekrutiert wurden. Die günstigen Tumorkriterien lassen einen langen Verlauf erwarten, der eher in das WW führt als zur RP oder RT. So ist es zu erklären, dass von 99 AS-Patienten mit einer Therapieänderung 31 zu WW wechselten. Diese Patienten machen bei der primären Zuordnung die ärztliche Zurückhaltung gegenüber einer Palliation deutlich, indem sie zunächst für eine aufgeschobene kurative Maßnahme vorgesehen wurden.

Die HAROW-Basisdaten der ≥70-Jährigen zeigen die unterschiedliche Zuordnung zur kurativen AS und den palliativen Verfahren WW und HT (Tab. 1). Die zur Zeit der Studie geltenden Empfehlungen für einen AS-Einschluss wurden weitgehend respektiert: >90 % hatten einen Gleason-Score ≤6, einen PSA-Wert ≤10 ng/ml und ≤2 positive Biopsien.

Wer wechselt die Therapie?

Auch in der von uns untersuchten höheren Altersgruppe hat jeder zweite Patient AS verlassen, was den Angaben bei normaler Altersverteilung entspricht [15]. Größer ist die „Therapietreue“ bei den primär palliativen Strategien WW und HT. Nur etwa jeder 6. ändert nach 7 Jahren die ursprünglich gewählte Behandlung, wobei die meisten in der Palliation verbleiben. In der richtigen Konsequenz gilt: „einmal palliativ, immer palliativ“.

Von den AS-Wechslern ≥70 wählten 44,4 % eine kurative und 55,6 % eine palliative Therapie. Dies zeigt, dass die Annahme, AS führe zur Kuration insbesondere für ältere Patienten, nicht gilt. Alter, eintretende Morbidität und die Ablehnung einer kurativen Intervention können ein palliatives Angebot nahelegen. Das bedeutet, dass im Alter auch WW und evtl. HT Bestandteil der AS sind. Für einen Patienten, der initial AS gewählt hat, und aufgrund zunehmenden Lebensalters oder neu auftretender Komorbiditäten bei verkürzter Lebenserwartung nicht mehr für eine kurative Therapie in Frage kommt, ist der Übergang zu WW naheliegend. Van Hemelrijk et al. schätzen anhand einer Analyse der nationalen schwedischen Gesundheitsvorsorgeregister, dass 48 % der Männer mit einem „Very-low-risk-PCa“, die mit AS beginnen, im Laufe der Zeit zu WW wechseln. Den Zeitpunkt des Übergangs geben die Autoren im Median mit 8 Jahren an. 26,5 % der WW-Patienten benötigten eine HT, die übrigen starben an anderen Ursachen [21]. WW ist aus verschiedenen Gründen eine unverzichtbare Strategie, weil Ältere und Alte im Verlauf der Erkrankung nicht mit diagnostischen Maßnahmen belastet werden sollen, da diese häufig ohne therapeutische Konsequenz bleiben.

Kontrolluntersuchungen

Unter AS sind PSA-Messungen und Rebiopsien unverzichtbar, um den optimalen Zeitpunkt der heilenden Intervention nicht zu verpassen [25]. Hingegen können unter WW PSA-Kontrollen weitgehend unterbleiben, es sei denn, der Tumor ist schlecht differenziert oder es bestehen klinische Zeichen einer Progression. Rebiopsien sind überflüssig. Trotzdem unterschied sich im HAROW-Follow-up die Häufigkeit der PSA-Bestimmungen zwischen AS und WW nicht, sogar Biopsien wurden durchgeführt. Daraus ist zu schließen, dass unter WW psychisch belastende Kontrollen zu häufig sind, während sie in der AS-Gruppe seltener als empfohlen durchgeführt werden. Das entspricht auch der Beobachtung von Loeb et al., nach der <13 % der AS-Patienten eine Biopsie innerhalb von 2 Jahren erhalten hatten [26]. Innerhalb von 5 Jahren erfüllten nur 11,1 % die Nachsorgekriterien der Sunnybrook/PRIAS-Kohorten [13, 27] bzw. 5,0 % die des Johns Hopkins-Programms [28]. Dass in der HAROW-Studie sogar ältere WW-Patienten eine Rebiopsie erhielten, weist auf die fehlende Abgrenzung gegenüber AS hin.

Thomsen et al. konnten in einer Übersichtsarbeit zeigen, dass etwa die Hälfte der AS-Patienten nach 10 Jahren progredient werden [15]; für viele empfiehlt sich dann die Überleitung in ein WW, weil sie aufgrund ihrer funktionalen Einschränkungen einer invasiven Therapie nicht mehr gewachsen sind. Ohnehin konnten RCT keine bzw. geringe Unterschied im tumorspezifischen Überleben zwischen RP und WW nachweisen [6, 7]. Durch die auch von uns beobachtete geringe Metastasierungsrate wird WW für Ältere zu einem Behandlungsangebot, an das bei der initalen Beratung gedacht werden sollte. Wilt et al. ermutigen Ärzte und Leitliniengruppen dazu, Männer >65 Jahre und solche mit Low-risk-Tumoren lediglich zu beobachten, weil durch eine Intervention Schäden besonders im Alter zunehmen, die Mortalität dadurch aber nicht abnimmt [7].

In der HAROW-Studie zeigen sich in der HT-Gruppe ungünstigere Einschlusskriterien mit höheren PSA-Werten und höherer PSA-Dichte; häufiger als bei AS oder WW waren ≥3 Biopsien positiv (Tab. 1). Diese Daten mögen der Anlass gewesen sein, medikamentös in Form einer HT vorzugehen. Trotzdem sind die Ergebnisse dieser Gruppe am schlechtesten (6,9 % Metastasen, Gesamtüberleben mit 81,9 % am niedrigsten). Dabei ist zu berücksichtigen, dass hier mit 54,7 % die wenigsten Patienten einen CCI von 0 hatten. Die Leitlinie stellt eine Verlängerung des progressionsfreien Überlebens durch die sofortige hormonablative Therapie in Aussicht: „Für Patienten mit einem lokal begrenzten Prostatakarzinom, die eine kurative Therapie oder eine abwartende Haltung ablehnen, ist eine hormonablative Therapie nach ausführlicher Aufklärung eine Option“ [8], weist aber auf die uneinheitliche Datenlage beim Gesamtüberleben hin. Bleibt der Tumor unbehandelt, entspricht das weder der Erwartungshaltung des Patienten noch der Fürsorgeneigung des Arztes. Nach einem systematischen Review lassen sich die progressionsbedingten Komplikationen durch die frühe Androgensuppression vermeiden und das 10-Jahres-Überleben mit geringer Signifikanz verbessern [29]. Das gilt jedoch nur für die lokal fortgeschrittenen Tumoren, nicht für die in HAROW untersuchten organbegrenzten Tumoren. Die EORTC-Studie 30891 hat gezeigt, dass die frühe Hormonbehandlung Patienten mit aggressivem Tumor vorbehalten sein sollte, da sich die Zeit bis zum Erreichen der Kastrationsresistenz zwischen sofortigem und verzögertem Hormoneinsatz nicht signifikant unterscheidet [10].

Welche Strategie für welchen Patienten?

Zur Beurteilung der Therapiefähigkeit ist eine sorgfältige Einschätzung der vorhandenen körperlichen und mentalen Ressourcen unabdingbar. Diese zeigt, ob der Patient eher für eine AS oder ein WW geeignet ist, da nicht das chronologische Alter, sondern die Lebenserwartung entscheidend ist [30]. Die Einschätzung des biologischen Alters mittels Karnofsky-Index, ECOG- (Eastern Cooperative Oncology Group‑) Performance-Status oder CCI liefert zwar prognostische Aussagen über die Lebenserwartung, korreliert aber nur gering mit funktionellem Status und Belastbarkeit. Hilfreich ist in dieser Situation ein geriatrisches Assessment. Die „International Society of Geriatric Oncology“ (SIOG) empfiehlt hier ein dreistufiges Vorgehen, beginnend mit dem G8-Screening [31] und dem Mini-COG® [32]. Nur wenn der Patient für eine kurativ intendierte Therapie in Frage kommt, ist AS indiziert. Anderenfalls ist eine palliative Therapie angezeigt [33].

Kosten

Wenn auch in Deutschland – anders als in den USA – ökonomische Erwägungen bei der Entscheidung im Umgang mit Low-risk-PCa nur selten eine Rolle spielen, so konnten wir am Beispiel der HAROW-Studie auf die erheblichen nach Behandlungsart stark variierenden Folgekosten hinweisen und zeigen, dass die direkten Kosten und die Gesamtkosten aus der Perspektive der Gesellschaft wie auch der Krankenkassen unter WW und HT am niedrigsten sind [34]. In den USA entstehen Medicare bei nicht invasiver Behandlung der 70-Jährigen von der Diagnose bis zur Versorgung der morbiditätsbedingten Folgen einer Behandlung nur 13 % der sonst üblichen Kosten. Zu bedenken ist dabei, dass fast die Hälfte der ausgewerteten Daten von Patienten mit Gleason-6-Tumoren entsprach [35].

Limitationen

Die HAROW-Studie ist die einzige deutsche Versorgungsforschungsstudie zum PCa mit einem Vergleich kurativer und palliativer Behandlungen. Das gilt naturgemäß auch für Patienten >70 Jahren Die Aussagen werden limitiert durch die für weiterführende Schlussfolgerungen begrenzten Beobachtungszeiten von maximal 7,5 Jahren sowie die begrenzte Datenqualität, die ein grundsätzliches Problem der Versorgungsforschung im Vergleich zu RCT ist. Eine weitere Limitation sind die relativ hohen „Drop-out-Raten“, die v. a. durch die fehlenden Aussagen zum tumorspezifischen Überleben entstehen. Auf Nachfragen über die Vertrauensstelle (VS Ltg.) Gemeinsames Krebsregister der Länder Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und der Freistaaten Sachsen und Thüringen (GKR) wurde uns mitgeteilt, dass nicht die Voraussetzungen bestünden, um eine Auskunft von dieser Einrichtung über die verstorbenen Patienten zu erhalten.

Fazit für die Praxis

  • Patienten ≥70 Jahre mit einem organbegrenzten Prostatakarzinom (PCa) sollte auch eine nichtinvasive Behandlung angeboten werden.

  • Die Zuordnung zu den kurativen und palliativen Strategien sollte anhand der Patienten- und Tumorcharakteristika definitionsgemäß vorgenommen werden.

  • Von Seiten älterer Patienten ist ein geriatrisches Assessment hilfreich, wenn zwischen kurativer oder palliativer Option entschieden werden soll.

  • Im Versorgungalltag ist hinsichtlich der Auswahlkriterien und einer verzögerten Therapieoption zwischen AS (Active Surveillance) und WW (Watchful Waiting) zu unterscheiden.

  • Häufige PSA-Messungen (prostataspezifisches Antigen) oder gar Biopsien sind während der Palliation nicht notwendig.

  • AS-Patienten sollten bei sich entwickelnder Komorbidität und Einschränkung der Funktionalität nach WW oder Hormonentzugstherapie (HT) wechseln.

  • Eine palliative HT sollte für ältere Patienten mit einem organbegrenzten PCa eher eine Ausnahme bleiben.