Zusammenfassung
Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat die Vertreibung und Ermordung deutschsprachiger Neurologinnen und Neurologen während der Zeit des Nationalsozialismus (NS) untersuchen lassen. Als Einführung zu den nachfolgenden Hintergrundaufsätzen und Biografien in dieser Ausgabe von Der Nervenarzt fasst der vorliegende Aufsatz zum einen Ergebnisse und Perspektiven der medizinhistorischen Forschung zum Thema „Verfolgung“ zusammen. Zum anderen zeigt er, wie sich das aktuelle Erinnerungsprojekt der DGN in den Kontext einer fächerübergreifenden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus einfügt. Für die DGN ist dabei von besonderer Bedeutung, dass sie als Nachfolgerin der 1935 aufgelösten Gesellschaft Deutscher Nervenärzte (GDN) gegründet wurde. Insbesondere die GDN war zu Beginn der NS-Zeit die fachpolitische Heimat zahlreicher jüdischer und von den Machthabern als „jüdisch“ etikettierter Fachärztinnen und Fachärzte, die aus Deutschland und (nach dem „Anschluss“ 1938) aus Österreich vertrieben, in Konzentrationslager verschleppt oder in den Suizid getrieben wurden. Vor diesem Hintergrund werfen „Verfolgung“, „Vertreibung“ und „Vernichtung“ nicht nur Fragen der Kollegialität, des Anstands und der Moral auf. Der Umgang mit dieser Ära betrifft auch die aktuelle Außendarstellung der neurologischen Fachgesellschaft und konstituiert einen wichtigen Teil ihrer Erinnerungskultur sowie Geschichtspolitik.
Abstract
The German Neurological Society (DGN) has commissioned historical research related to the expulsion and murder of German-speaking neurologists during the National Socialism era (NS). Intended as an introduction to the following background essays and biographies in this special issue of Der Nervenarzt, this article summarizes the results and perspectives of medical historical research addressing the persecution of German physicians. Additionally, it shows how the current project of the DGN fits into the context of an interdisciplinary culture of commemoration by a confrontation with National Socialism. Of particular importance for the DGN is that it was founded as the successor to the Society of German Neurologists (GDN), which was dissolved in 1935. In the early stages of the NS era, the GDN was the professional home of numerous Jewish specialists and those labeled “Jewish” by NS law, who were expelled from Germany and (after the “Anschluss” of 1938) from Austria, deported to concentration camps or driven to suicide. With this in mind, “persecution”, “expulsion”, and “extermination” raise not only questions of collegiality, decency, and morality. Investigating and remembering this era also affects today’s public image of the neurological specialist society and constitutes an important part of its culture of remembrance and its history politics.
Literatur
Arolsen Archives International Center on Nazi Persecution. https://arolsen-archives.org/suchen-erkunden/. Zugegriffen: 5. Jan. 2022
Bundesarchiv (1986) Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945. https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/. Zugegriffen: 26. Jan. 2022
Beddies T, Doetz S, Knopke C (Hrsg) (2014) Jüdische Ärztinnen und Ärzte im Nationalsozialismus. Entrechtung, Vertreibung, Ermordung. Europäisch-jüdische Studien Beiträge, Bd. 12. De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston
Charité Universitätsmedizin Berlin (2019) Neue Gedenktafel für die von den Nationalsozialisten ermordeten oder in den Suizid getriebenen jüdischen Dermatologinnen und Dermatologen aus Deutschland in der Klinik für Dermatologie der Charité enthüllt. https://gedenkort.charite.de/orte/dermatologie/gedenktafel/. Zugegriffen: 4. Jan. 2022
Czech H, Weindling P (Hrsg) (2017) Österreichische Ärzte und Ärztinnen im Nationalsozialismus. Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Wien (Jahrbuch 2017)
Damskis LL (2009) Zerrissene Biografien. Jüdische Ärzte zwischen nationalsozialistischer Verfolgung, Emigration und Wiedergutmachung. Allitera, München
Deutsche Gesellschaft für Pathologie (2017) Pathologie und Pathologen im Nationalsozialismus – Projekte zur Aufarbeitung der Geschichte von DGP, DGNN und BDP. https://www.pathologie-dgp.de/die-dgp/aktuelles/meldung/pathologie-und-pathologen-im-nationalsozialismus-projekte-zur-aufarbeitung-der-geschichte-von-dgp/. Zugegriffen: 4. Jan. 2022
Eisenberg U, Collmann H, Dubinski D (2017) Verraten – Vertrieben – Vergessen. Werk und Schicksal nach 1933 verfolgter deutscher Hirnchirurgen. Hentrich & Hentrich, Berlin
Eppinger S (2001) Das Schicksal der jüdischen Dermatologen Deutschlands in der Zeit des Nationalsozialismus. Mabuse, Frankfurt a. M.
Fangerau H (2011) Urologie im Nationalsozialismus – eine medizinische Fachgesellschaft zwischen Professionalisierung und Vertreibung. In: Krischel M, Moll F, Bellmann J et al (Hrsg) Urologen im Nationalsozialismus. Zwischen Anpassung und Vertreibung. Hentrich & Hentrich, Berlin, S 13–21
Fangerau H (2022) „Wer war ein Nazi“? Vom Umgang medizinischer Fachgesellschaften mit „Medizintätern“. In: Rauh P, Voggenreiter M, Ude-Koeller S, al (Hrsg) Medizintäter – Ärzte und Ärztinnen im Spiegel der NS-Täterforschung. Böhlau, Köln, S 485–508
Fangerau H, Krischel M (2011) Der Wert des Lebens und das Schweigen der Opfer: Zum Umgang mit den Opfern nationalsozialistischer Verfolgung in der Medizinhistoriographie. In: Westermann S, Kühl R, Ohnhäuser T (Hrsg) NS-„Euthanasie“ und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung – Gedenkformen – Betroffenenperspektiven. Lit-Verlag, Bielefeld, S 19–28
Forsbach R, Hofer H‑G (2018) Internisten in Diktatur und junger Demokratie. Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin 1933–1970. MWV, Berlin
Frei N, Brunner J, Goschler C (Hrsg) (2009) Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel. Wallstein, Göttingen
Grond M, Thiekötter T (2016) Neurologie und Neurologen in der NS-Zeit. Nervenarzt 87:1–53
Grond M, Thiekötter T (2020) Neurologen und Neurowissenschaftler in der NS-Zeit. Nervenarzt 91:1–145
Grüttner M, Kinas S (2007) Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933–1945. Vierteljahresh Zeitgesch 55:123–186
Hockerts HG (2013) Wiedergutmachung in Deutschland 1945–1990. Ein Überblick. Polit Zeitgesch 63(25–26):17–22
Holdorff B (2016) Emigrated neuroscientists from Berlin to North America. J Hist Neurosci 25:227–252. https://doi.org/10.1080/0964704X.2015.1121695
Institut Terezinské initiativy Opferdatenbank. https://www.holocaust.cz/de/main-3/. Zugegriffen: 5. Jan. 2022
Internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem https://www.yadvashem.org/de/collections.html. Zugegriffen: 26. Jan. 2022
Jütte R (2011) Die Vertreibung jüdischer und staatsfeindlicher Ärzte. In: Jütte R, Eckart WU, Schmuhl H‑W, Süß W (Hrsg) Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Wallstein, Göttingen, S 83–93
Karenberg A, Martin M, Fangerau H (2022) Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung deutschsprachiger Neurologinnen und Neurologen während der NS-Zeit: Versuch einer Bewertung. Nervenarzt. https://doi.org/10.1007/s00115-022-01328-9
Kinas S (2018) Akademischer Exodus. Die Vertreibung von Hochschullehrern aus den Universitäten Berlin, Frankfurt am Main, Greifswald und Halle 1933–1945. Synchron, Heidelberg
Krischel M, Schmidt M, Groß D (Hrsg) (2016) Medizinische Fachgesellschaften im Nationalsozialismus. Perspektiven vergleichender Institutionengeschichte. LIT, Berlin
Krischel M (2020) zm-Serie Täter und Verfolgte im „Dritten Reich“. Wie gehen wir mit diesem Wissen um? Zahnärztl Mitt 110(23–24):2323–2325
Krischel M, Moll F, Bellmann J et al (2011) Urologen im Nationalsozialismus. Biografien und Materialien. Hentrich & Hentrich, Berlin
Kröner H‑P (1988) Die Emigration deutschsprachiger Mediziner 1933–1945. Versuch einer Bestandserhebung. Exilforschung 6:83–97
Kümmel WF (1985) Die Ausschaltung rassisch und politisch mißliebiger Ärzte. In: Kudlien F (Hrsg) Ärzte im Nationalsozialismus. Kiepenheuer & Witsch, Köln, S 56–81
Martin M, Fangerau H, Karenberg A (2016) German neurology and the “Third Reich”. Eur Neurol 76:234–243. https://doi.org/10.1159/000450851
Martin M, Karenberg A, Fangerau H (2022) Legalisierte Entrechtung: Zur juristischen Konstruktion von Entlassung und Vertreibung im Nationalsozialismus. Nervenarzt. https://doi.org/10.1007/s00115-022-01308-z
Moll F, Krischel M, Rathert P et al (2011) Urologie und Nationalsozialismus: Paul Rosenstein 1875–1964 – zerrissene Biographie eines jüdischen Urologen. Urologe 50:1143–1153. https://doi.org/10.1007/s00120-011-2639-y
Reiter-Zatloukal (2015) „Alles nur für das deutsche Volk!“ Die „Säuberung“ der österreichischen Ärzteschaft unter der NS-Herrschaft. Beitr Rechtsgesch Österr 1:112–150
Reiter-Zatloukal https://rechtsgeschichte.univie.ac.at/team/ilse-reiter-zatloukal/publikationen/in-vorbereitung/. Zugegriffen: 10. Jan. 2022 (In Vorbereitung)
Schleiermacher S (2014) Entschädigung von Verfolgten des Nationalsozialismus. In: Beddies T, Doetz S, Knopke C (Hrsg) Jüdische Ärztinnen und Ärzte im Nationalsozialismus. Entrechtung, Vertreibung, Ermordung, Bd. 12. De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston, S 290–318
Schmuhl H-W (2016) Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Nationalsozialismus. Springer, Berlin, Heidelberg
Schwoch R (Hrsg) (2009) Berliner jüdische Kassenärzte und ihr Schicksal im Nationalsozialismus. Ein Gedenkbuch. Hentrich & Hentrich, Berlin
Seidler E (2000) Kinderärzte 1933–1945. Entrechtet, geflohen, ermordet. Bouvier, Bonn
Stahnisch FW (2010) German–speaking émigré–neuroscientists in North America after 1933: critical reflections on emigration-induced scientific change. Österr Z Geschichtswiss 21:36–68
Stahnisch FW (2016) “Learning soft skills the hard way”: historiographical considerations on the cultural adjustment process of German speaking émigré neuroscientists in Canada, 1933 to 1963. J Hist Neurosci 25:299–319. https://doi.org/10.1080/0964704X.2015.1121697
Stahnisch FW, Russell GA (2016) New perspectives on forced migration in the history of twentieth-century neuroscience. J Hist Neurosci 25:219–226. https://doi.org/10.1080/0964704X.2015.1121694
Stahnisch FW, Russell GA (Hrsg) (2017) Forced migration in the history of 20th century neuroscience and psychiatry—new perspectives. Routledge, London
United States Holocaust Memorial Museum Database https://www.ushmm.org/online/hsv/person_advance_search.php. Zugegriffen: 26. Jan. 2022
von Villiez A (2009) Mit aller Kraft verdrängt. Entrechtung und Verfolgung „nicht arischer“ Ärzte in Hamburg 1933 bis 1945. Dölling und Galitz, Hamburg
Voswinckel P (2004) Damnatio memoriae. Kanonisierung, Willkür und Fälschung in der ärztlichen Biographik. In: Bayer K, Sparing F, Woelk W (Hrsg) Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus und in der frühen Nachkriegszeit. Steiner, Stuttgart, S 249–270
Voswinckel P (2020) 1937–2012. Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie im Spiegel ihrer Ehrenmitglieder. – „Verweigerte Ehre“. Dokumentation zu Hans Hirschfeld, 3. Aufl. Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie, Berlin
Zeidman L, Kondziella D (2012) Neuroscience in nazi Europe part III: victims of the Third Reich. Can J Neurol Sci 39:729–746. https://doi.org/10.1017/S0317167100015559
Zeidman LA, Ziller MG, Shevell MI (2015) “With a smile through tears”: the uprooted career of the man behind Gerstmann syndrome. J Hist Neurosci 24:148–172. https://doi.org/10.1080/0964704X.2014.950089
Zeidman LA, Ziller MG, Shevell MI (2016a) Ilya Mark Scheinker: controversial neuroscientist and refugee from National Socialist Europe. Can J Neurol Sci 2016:334–344. https://doi.org/10.1017/cjn.2015.359
Zeidman LA, von Villiez A, Stellmann J‑P et al (2016b) “History had taken such a large piece out of my life”—neuroscientist refugees from Hamburg during National Socialism. J Hist Neurosci 25:275–298. https://doi.org/10.1080/0964704X.2015.1121696
Zuckmayer C (1966) Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft. S. Fischer, Frankfurt am Main
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Ethics declarations
Interessenkonflikt
H. Fangerau, M. Martin und A. Karenberg geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
The supplement containing this article is not sponsored by industry.
Additional information
Michael Martin ist nach Ende der gemeinsamen Arbeit am Manuskript verstorben.
QR-Code scannen & Beitrag online lesen
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Fangerau, H., Martin, M. & Karenberg, A. Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Neurologinnen und Neurologen in der NS-Zeit – Für ein aktives Erinnern. Nervenarzt 93 (Suppl 1), 3–8 (2022). https://doi.org/10.1007/s00115-022-01310-5
Accepted:
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s00115-022-01310-5
Schlüsselwörter
- Jüdische Ärzte
- Zwangsemigration
- Holocaust
- Medizin im Nationalsozialismus
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie