In der aktuellen Forschung wird Resilienz überwiegend dichotom operationalisiert. Untersucht wird die Frage, warum manche Menschen eine spezifische Erkrankung (z. B. Depression) nicht entwickeln, obwohl sie mit identischen oder ähnlichen Stressoren konfrontiert werden, wie Personen, die an einer derartigen psychischen Folgeerkrankung leiden [14]. Das Heranziehen eines kategorialen diagnostischen Klassifikationssystems (krank vs. gesund) bei der Operationalisierung von Resilienz birgt jedoch verschiedene Probleme. Dem Umstand, dass psychische Symptome zwischen verschiedenen Störungsbildern überlappen und psychische Erkrankungen häufig komorbid auftreten, wird so nicht ausreichend Genüge getan [14]. „Gesunde“ und „kranke“ Personen sind meist nicht klar voneinander abgrenzbar und traditionelle Krankheitskategorien erschweren die Erforschung zugrunde liegender (z. B. auch neurobiologischer) (Schutz‑)Mechanismen. Auch die neurobiologischen und behavioralen Dysfunktionen (z. B. Hypervigilanz), die psychischen Störungen zugrunde liegen, werden durch die Dichotomisierung unzureichend berücksichtigt [14].
Kalisch et al. [14] schlagen daher einen transdiagnostischen Ansatz vor. Demnach sollte sich die Erforschung von Resilienz und ihrer Mechanismen nicht auf Erkrankungen, sondern auf Dysfunktionen (z. B. Anhedonie, hyperimpulsives Verhalten) fokussieren. Anstelle der Suche nach erkrankungsspezifischen Resilienzmechanismen, die lediglich vor einer bestimmten psychischen Störung schützen (z. B. Depression), sollten vielmehr dysfunktionsspezifische Mechanismen identifiziert werden, die vor der stressinduzierten Beeinträchtigung in einer Funktionsdimension (z. B. Emotionsregulation, Impulskontrolle) schützen.
Im nächsten Schritt postulieren Kalisch et al. [13, 14] eine multisystemische Resilienzforschung. Da stressbedingte Dysfunktionen i. d. R. nicht einzeln auftreten, stellt sich die Frage nach der Existenz übergeordneter (genereller) Resilienzmechanismen, die vor mehr als einer Dysfunktion schützen. Beispielsweise könnte ein Resilienzmechanismus, der nach dem Ende eines Stressors die hierdurch ausgelöste Reaktion der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden(HHN)-Achse rechtzeitig beendet, vor mehreren stressbedingten Dysfunktionen schützen, die aus einer langandauernden Aktivität der HHN-Achse und einer zu hohen Ausschüttung des Hormons Kortisol resultieren [13].
Da psychische Symptome oder Dysfunktionen nicht dichotom auftreten (z. B. jemand ist nicht entweder impulsiv oder nicht), erscheinen Schwellenwerte für die Annahme einer Dysfunktion als pathologisch eher ungeeignet [13]. Daher schlagen Kalisch et al. [13, 14] die Verwendung quantitativer (kontinuierlicher) Zielvariablen vor. Zur Messung einer psychischen Dysfunktion könnte ein Score, z. B. aus einem geeigneten Fragebogenmaß oder einem behavioralen oder (neuro)physiologischen Funktionsmaß, gebildet werden. Ist das Ziel, nicht nur dysfunktionsspezifische, sondern generelle Resilienzmechanismen zu identifizieren, böte es sich an, einen globalen Score der psychischen Dysfunktion zu bilden, indem quantitative Scores in mehreren Funktionsdimensionen (z. B. somatische Dysfunktion, depressive Symptome, Angst) summiert oder gemittelt werden. Auf diese Weise ließen sich quantitative Aussagen über die Veränderung psychischer Dysfunktionen zwischen zwei oder mehreren Zeitpunkten (z. B. Prä-Post-Test in Interventionsstudien) treffen, selbst wenn diese kein Ausmaß erreicht, in dem der Schwellenwert zwischen Gesundheit und Krankheit überschritten wird.