„Wer ohne Fehler ist, werfe den ersten Stein“, könnte man in Abwandlung des bekannten Ausspruchs aus dem Johannesevangelium rufen, wenn es um die Begutachtung und damit natürlich um die Fehlerbe- und Fehlerverarbeitung in der Medizin geht. Der Behandlungsfehler(‑vorwurf) gehört heute mehr oder weniger zum medizinischen Alltag [1]. 10.000 Gutachten der Landesärztekammerkommissionen und Schlichtungsstellen und 15.000 MDK-Gutachten sprechen eine deutliche Sprache. Und wenn alle diese Gutachten nur von „fehlerfreien“ Kollegen erstellt werden dürften, würde kaum ein Verfahren zu Ende gebracht werden.

Die Begutachtung im Kindesalter macht da keinen Unterschied. Auch vor der Volljährigkeit werden die Schlichtungsstellen der Ärztekammern um ihre juristisch fundierten und gutachterlich basierten Empfehlungen gebeten, die Amts- und Landgerichte mit Behandlungsfehlervorwürfen beschäftigt und die medizinischen Dienste der Krankenkassen geben ihre Einschätzung ab. Somit ist die Begutachtung auch im Kindesalter ein Spiegel des Komplikationsspektrums und des Fehlermanagements und betrifft national und international in besonderer Weise die Frakturversorgung [3, 6, 11, 12].

Das besondere im Kindesalter ist: Der Anteil der bestätigten Behandlungsfehlervorwürfe ist deutlich höher als bei Erwachsenen. Gerade in der Kindertraumatologie werden in fast zwei Dritteln der Überprüfungen von Behandlungsabläufen fehlerhafte Entscheidungen und Vorgehensweisen festgestellt, doppelt so viele wie im Durchschnitt aller Verfahren [18]. Die Dynamik des Skeletts im Kindesalter bedingt dabei immer die Notwendigkeit, über den Tag hinaus das Wachstum als vierte Dimension einzubeziehen. Daraus folgt, dass selten nur die Erstbehandlung im Fokus steht, sondern es geht auch um mittelfristige und Langzeitkontrollen resp. -ergebnisse und die Fragen, was und wann kontrolliert wurde, und ob die Fehlentwicklung zum rechten Zeitpunkt erkannt und adäquat darauf reagiert wurde. Dabei ist der Langzeitschaden oft ein anderer als beim Erwachsenen, und das Wachstum kann ihn reduzieren oder vergrößern.

Dabei erscheint von großer Wichtigkeit, dass die juristischen Implikationen nicht zu einer therapeutischen Lähmung führen. Es darf keinen vorauseilenden „Gehorsam“ geben, der aus falsch verstandenem Sicherheitsbedürfnis heraus unnötige MRT, CT oder Röntgenkontrollen veranlasst und dabei Kosten und Strahlenschutz außer Acht lässt, wie Tancredi und Barondess schon 1978 in Science ausgeführt hatten [17]. Dagegen ist es in jedem Erfahrungsstatus unerlässlich, sich für eine diagnostische Maßnahme eine klare Fragestellung gegeben zu haben und die Bilder auch selbst zu bewerten. Der Radiologe allein ohne Kenntnis des klinischen Befundes kann hier nur Hilfestellung geben.

Beginnend mit den diagnostischen Überlegungen und der Bewertung der initialen Bildgebung zieht sich eine Forderung durch den Behandlungsverlauf, der dem Gutachter oft hilfreich ist: die Forderung nach der Dokumentation. Die schriftliche Fixation der eigenen Bewertung der Röntgendiagnostik, die Niederschrift der Indikation, die nachvollziehbare Darstellung des operativen Vorgehens im Operationsbericht, und auch die erläuternden Bemerkungen auf stationären Kurvenblättern, in Ambulanzkarten oder einer elektronischen Patientenakte sind gutachterlich von größter Bedeutung, um das Vorgehen zu verstehen und einschätzen zu können. Viele vermeintlich unberechtigte Vorwürfe können mangels Dokumentation nicht entkräftet werden. Und: Die Dokumentationspflichtverletzung steht auf Platz 2 der TOP-7-Fehler vor dem Befunderhebungs- und Diagnosefehler [8].

Ein sicher wichtiger Aspekt ist auch die Kommunikation. Defizite in der Kommunikation mit den Patienten führen immer wieder zu Beschwerden und lösen ggf. auch Klagen aus [13].

Kadifrakturen sind Frakturen im Kindesalter, deren Fehlbehandlung nach dem Inaugurator dieses Begriffes berechtigtermaßen zu Regressforderungen führt [10]. Das Spektrum der Begutachtung im kindertraumatologischen Alltag umfasst die unter diesem Begriff zusammengefassten Verletzungen, beschränkt sich aber nicht darauf. An der oberen Extremität stehen die Achse, die Funktion und das Remodeling im Vordergrund [15]. Der distale Unterarm macht 29,7 % der Klagen aus, obwohl das hohe Korrekturpotenzial auch bei inadäquater Behandlung meist zu einem guten Ergebnis führt. Am Ellenbogen (34,5 % der Klagen) führen oft Varus- oder Valgusfehler zu Protest, zudem gibt die besondere Durchblutungskonstellation an Radiushals und -kopf dieser Struktur eine besondere Risikoposition. An der unteren Extremität (22,1 %) liegt dagegen ein Hauptfokus auf der Länge wegen der möglichen Beinlängendifferenz und den daraus entstehenden Folgen für Gelenke und Wirbelsäule. Auch die Belastungserfordernisse der unteren Extremität stellen eine bestimmte Herausforderung dar. Grundsätzlich steht dabei die Röntgendiagnostik mit 29,3 % im Fokus, die konservative Therapie mit 27,6 %, die operative Therapie mit 22,4 % und der vermeintlich fehlerhafte Verlauf mit 11 % [18].

Das Rehamanagement der Unfallkassen hat zu einem frühzeitigeren Erkennen komplikationsträchtiger Verläufe geführt [2, 7], das müsste auch im nicht-BGlichen Bereich mehr in den Mittelpunkt rücken. Das frühere „es verwächst sich“ stimmt nicht immer, nicht in jedem Umfang und nicht zu jedem Alterszeitpunkt. Wenn es trotz aller Bemühungen zu einer bleibenden Beeinträchtigung kommt, gibt es wenig Orientierung zur Einschätzung der MdE. Vor allem werden oft der weitere Verlauf und die Veränderung über die Zeit (Besserung wie Verschlechterung) unzureichend angesprochen [9].

Besondere Verletzungen treffen den pubertierenden Jugendlichen in seiner hormonellen Umstellungsphase. Die typischen apophysären Frakturen sollen immer wieder in unfallbedingte und anlagebedingte unterschieden werden, was nicht mehr richtig ist [4]. Eine ähnliche Problematik besteht bei der Patellaluxation, wo angelegte und erworbene Probleme interferieren und vom Gutachter auseinandergehalten und bewertet werden müssen [16].

Für die Begutachtung im Erwachsenenalter gibt es durchaus einschlägige Bücher zur Orientierung [5, 14]. Für das Kindesalter ist der Markt hier bis auf einzelne Kapitel in den allgemeinen Nachschlagewerken leer. Die Sektion Kindertraumatologie (SKT) der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, das gutachterliche Know-how aus ihrem Kreis zusammenzutragen und die wichtigsten Aspekte in diesem Heft zu publizieren. Wir danken den Herausgebern und dem Verlag für die Möglichkeit dazu. Vielleicht ist dieses Heft die Ouvertüre zu einer intensiveren Beschäftigung mit der „Begutachtung im Kindesalter“.