Historisch wurden Epilepsien v. a. als Veränderungen an Ionenkanälen und Neurotransmittern verstanden. Dementsprechend werden aktuell noch überwiegend „Antikonvulsiva“ (d. h. gegen die Anfälle wirkende Medikamente) eingesetzt, die als Ionenkanalblocker oder durch eine Interaktion an γ‑Aminobuttersäure(GABA)- bzw. Glutamatrezeptoren wirken. Diese Medikamente sind, streng genommen, keine „Antiepileptika“, d. h., sie beeinflussen nicht spezifisch die pathophysiologischen Vorgänge, die die individuelle Epilepsie auslösen. Durch die Kenntnis der zugrunde liegenden genetischen Defekte mit Präzisierung der molekularen Mechanismen öffnet sich die Möglichkeit, konkrete Therapiekonzepte zu erstellen. Darauf zielt der Begriff „molekulare Pädiatrie“ ab.

Hintergrund

Eine große Zahl von Epilepsien ist ätiologisch ungeklärt und wurde bislang als „kryptogen“ eingeordnet oder als „idiopathisch“ klassifiziert, wenn ein genetischer Hintergrund vermutet wurde. Neue genetische Diagnostikmöglichkeiten wie die Hochdurchsatzsequenzierung, „next-generation sequencing“ (NGS) oder „whole exome sequencing“ (WES), führten seit Anfang dieses Jahrtausends zu einem rasanten Anstieg neu gefundener Epilepsiegene (Abb. 1). Aktuell sind ca. 30–40 % der Epilepsien mit einer Genmutation assoziiert [1], wobei die diagnostische Ausbeute des NGS bei den epileptischen Enzephalopathien mit frühem Beginn der epileptischen Anfälle höher ist als bei den sich später manifestierenden Epilepsien [2] und 80 % der in Epilepsie-Panels gefundenen Genveränderungen in den 13 häufigsten Genen lokalisiert sind (Infobox 1; [3]).

Abb. 1
figure 1

Einführung von Antikonvulsiva im Vergleich zu neu entdeckten „Epilepsiegenen“. (Modifiziert nach Syrbe [43] und Bast [44])

Infobox 1. Die 13 häufigsten gefundenen Gene für monogenetische Epilepsien. (Lindy et al. [3])

  • SCN1A

  • KCNQ2

  • CDKL5

  • SCN2A

  • PCDH19

  • STXBP1

  • PRRT2

  • SLC2A1

  • MECP2

  • SCN8A

  • UBE3A

  • TSC2

  • GABRG2

Lange wurde in dieser Altersgruppe der Begriff der sog. epileptischen Enzephalopathie verwendet, unter der Vorstellung, dass die Epilepsie und die epileptische Aktivität im EEG zu einer Enzephalopathie führen. Dies wird allerdings zunehmend infrage gestellt.

Die DEE umschreibt Entwicklungsauffälligkeiten + epileptische Enzephalopathie mit gemeinsamer Ätiologie

Bei vielen Epilepsien ist es schwierig, den Einfluss der Epilepsie und den der Grunderkrankung auf die epileptische Enzephalopathie zu unterscheiden [4]. Daher wurde der Begriff der „developmental epileptic encephalopathy (DEE)“ eingeführt. Damit ist das Nebeneinander von Entwicklungsauffälligkeiten und epileptischer Enzephalopathie, basierend auf einer gemeinsamen Ätiologie, gemeint. Beispielsweise hat sich in der multinationalen europäischen EPISTOP-Studie, die den prophylaktischen Einsatz von Vigabatrin zur Vorbeugung eines West-Syndroms bei 94 Kindern mit tuberöser Sklerose (TS) untersuchte, gezeigt, dass sich das kognitive Outcome in der Studiengruppe trotz frühzeitigem Therapiebeginn nach 2 Jahren nicht signifikant zur Kontrollgruppe unterschied [5]. Da die TS eine systemische Erkrankung infolge einer genetisch bedingten Störung des mTOR-Mechanismus ist, stellt die auch zur Epilepsiebehandlung zugelassene Therapie mit dem mTOR-Inhibitor Everolimus ein gutes Modell für eine „personalisierte“ Therapie im Sinne der „molekularen Pädiatrie“ dar. Die Therapie ist gegen die Anfälle und zur Reduktion von Tuberomen bei TS wirksam, zeigte jedoch in Studien bislang noch keine Verbesserung der Kognition [6]. Auch ist sie teuer und nicht ohne Nebenwirkungen; unklar sind außerdem die Folgen einer Langzeittherapie bis ins Erwachsenenalter. Eine „Heilung“ des zugrunde liegenden Gendefekts kann durch diese Therapie nicht erzielt werden.

Network for Therapy of Rare Epilepsies

Trotz des in den letzten 20 Jahren immens gewachsenen Grundlagenverständnisses für Epilepsien ist weder der Prozentsatz der anfallsfreien Patienten noch der gezielten, also personalisierten Therapien bei den insgesamt sehr vielen neuen, assoziierten Genen signifikant angestiegen. Insbesondere für den behandelnden Neuropädiater ergibt sich oft die Herausforderung, Eltern umfassend über die Bedeutung eines neu gefundenen Gens bezüglich der Prognose und Therapie zu beraten, weil es oft auch in der Literatur an Therapieempfehlungen mangelte. Der Kliniker und auch die Eltern selbst suchen daher auch international den Erfahrungsaustausch. Dies war der Grundgedanke des vom Autor GK 2005 initiierten Network for Therapy of Rare Epilepsies (NETRE). Das NETRE ist rasch gewachsen, mit aktuell 319 Gruppen unterschiedlicher seltener Epilepsien (Abb. 123 und 4).

Abb. 2
figure 2

Herkunftsländer der am Network for Therapy of Rare Epilepsies teilnehmenden Kollegen, eingezeichnet auf einer Weltkarte. (Aus von Stülpnagel et al. [7], mit freundl. Genehmigung,© von Stülpnagel, van Baalen, Borggraefe, Eschermann, Hartlieb, Kiwull, Pringsheim, Wolff, Kudernatsch, Wiegand, Striano, Kluger and NETRE Consortium, CC BY 4.0, Creative Commons – Attribution 4.0 International – CC BY 4.0)

Abb. 3
figure 3

Zunahme der verschiedenen Gruppen des Network for Therapy of Rare Epilepsies (NETRE) über die Zeit (für 2021 nur die ersten 4 Monate). (Aus von Stülpnagel [7], mit freundl. Genehmigung,© von Stülpnagel, van Baalen, Borggraefe, Eschermann, Hartlieb, Kiwull, Pringsheim, Wolff, Kudernatsch, Wiegand, Striano, Kluger and NETRE Consortium, CC BY 4.0, Creative Commons – Attribution 4.0 International – CC BY 4.0)

Abb. 4
figure 4

Aktuell aktive Gruppen im Network for Therapy of Rare Epilepsies (NETRE; www.netre.de)

Über 45 Arbeiten wurden bislang aus NETRE in PubMed publiziert

Das NETRE ist in Gruppen mit je einem Koordinator gegliedert. Ausgangspunkt für jede Gruppe ist jeweils ein Patient mit einer seltenen Epilepsieursache. Erfahrungen aus der Gruppe werden jeweils an die Koordinatoren (oder www.netre.de; Abb. 4) gemeldet, die diese pseudonymisiert zusammentragen. Vierteljährlich wird ein Newsletter per E‑Mail versendet, mit einer Auflistung neuer Gruppen, besonderen Erfahrungen oder geplanten Studienprojekten. Das NETRE ist unabhängig von finanziellen Zuwendungen oder Sponsoren. Über 45 Arbeiten wurden bislang aus NETRE in PubMed publiziert [7].

Gerade Eltern sind immer wieder dankbar, wenn sie über NETRE internationalen ärztlichen Rat bekommen und sich dadurch nicht „allein“ fühlen, mit einer „ganz seltenen“ Krankheitsursache bei ihrem Kind, „die ihr Arzt noch nie gesehen hat“. Diese positiven Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Eltern sind die Grundlage für das Projekt „Patient based phenotyping and evaluation of therapy for Rare Epilepsies“ (PATRE). Hierbei handelt es sich um eine internetbasierte Plattform (www.patre.info), die Daten zum Phänotyp und zur Therapie von seltenen molekulargenetisch gesicherten Epilepsien erhebt. In enger Zusammenarbeit mit Patienten, Eltern und Selbsthilfegruppen werden Umfragen erarbeitet und durchgeführt. Für den Austausch zwischen Eltern, Wissenschaftlern und Ärzten wurde ein geschützter interaktiver Bereich auf der Plattform eingerichtet; die Datenerhebung erfolgt mithilfe des „Research-electronic-data-capture“(REDCap)-Systems [8, 9]. So können spezifische Eigenschaften und therapeutisches Ansprechen von seltenen molekulargenetisch gesicherten Epilepsien durch Elternangaben erkannt und validiert werden.

Einen Überblick über die Erfahrungen der letzten 15 Jahre innerhalb von NETRE gibt eine aktuelle Arbeit [7]. Einige Beispiele werden im Folgenden aufgeführt. Im Jahr 2005 wurden die Daten von 3 Patienten mit über Monate therapierefraktärem Status epilepticus nach einer unspezifischen Infektion in Vogtareuth zusammengetragen [10]. Zusammen mit van Baalen et al. [11] wurde das „febrile infection-related epilepsy syndrome“ (FIRES) erstbeschrieben. Dieses seltene Epilepsiesyndrom tritt mit einer Inzidenz von 1 in 1.000.000 Kindern auf und läuft in folgenden 3 Phasen ab: Auf eine zunächst einfache fieberhafte Infektion bei zuvor gesunden Kindern folgen nach ein paar Tagen gehäuft Anfälle oder ein refraktärer Status epilepticus, häufig ohne Fieber, die/der in eine chronische Phase übergehen/übergeht, mit einer therapierefraktären Epilepsie und neuropsychologischer Beeinträchtigung. Über NETRE konnten initial 22 Kinder mit FIRES beschrieben werden [11]. Trotz intensiver weiterer Untersuchungen wie Analysen auf antineurale Antikörper, auf die Gene SCN1A, PCDH19 und POLG sowie weiterer Epilepsiekandidatengene und einer zusätzlichen HLA-Sequenzierung, konnte bislang die Ätiologie von FIRES nicht geklärt werden [12,13,14].

Im Rahmen der NETRE-Kooperation und des PATRE Projekts werden Charakteristika neuer Epilepsiegene herausgearbeitet

Über NETRE wurden retrospektiv Daten für weitere Epilepsiegene zum Therapieansprechen gesammelt und ausgewertet. Lotte et al. untersuchten den Effekt von Antikonvulsiva bei 58 Patienten mit PCDH19-Mutationen. Genmutationen von PCDH19 („protocadherin 19“) führen auch zu epileptischen Anfällen im Patientenalter von 6 bis 36 Monaten, die ähnlich wie beim Dravet-Syndrom von Fieber getriggert werden können, sowie zu intellektuellen Beeinträchtigungen und werden nur bei Mädchen gefunden. In ihrer Studie waren die effektivsten Medikamente Brom (Br) und Clobazam (CLB), sowohl nach 3 als auch nach 12 Monaten. Natriumkanalblocker lösten seltener als beim Dravet-Patienten eine Verschlechterung der Epilepsie aus und waren bei einigen Patienten sogar wirksam [15]. Mutationen des Gens CDKL5 („cyclin-dependent-kinase-like 5“) werden aufgrund ihrer Lage auf dem Chromosom Xp22.13 auch überwiegend bei Mädchen gefunden, einige wenige Fälle sind bei Jungen beschrieben, dann mit einem schwereren Verlauf. Da die Kinder auch Handstereotypien sowie eine muskuläre Hypotonie und eine psychomotorische Entwicklungsstörung aufweisen, wird das klinische Bild häufig als CDKL5-Variante des Rett-Syndroms bezeichnet. Im Unterschied zu diesen Patienten beginnt die Epilepsie jedoch bereits in den ersten 6 Lebensmonaten, und die Entwicklung der betroffenen Kinder ist von Anfang an auffällig [16]. Eine wichtige Beobachtung war, dass viele Patienten nur ein vorübergehendes Therapieansprechen zeigten [17].

Auch für die weitere Ergänzung des Phänotyps kann das Netzwerk hilfreich sein. Ein Beispiel ist das FOXG1-Syndrom. Die Kinder weisen neben einer schweren Entwicklungsstörung eine Mikrozephalie (angeboren oder sekundär) sowie dyskinetische Bewegungsstörungen und Stereotypien, keine Sprachentwicklung, Ernährungs- und Schlafprobleme sowie zusätzlich eine früh beginnende therapieschwierige Epilepsie auf [18]. Bei der genauen Durchsicht der kraniellen MRT-Bilder von insgesamt 34 Patienten mit FOXG1-Mutationen fiel folgende charakteristische Trias auf: Anomalien des Corpus callosum (82 %), ein vereinfachtes Gyrierungsmuster (56 %) sowie eine verdickte Fornix (74 %) [18].

Eines der am meisten untersuchten Gene innerhalb von NETRE ist SYNGAP1 („synaptic Ras GTPase activating protein 1“). Dieses Gen kodiert ein Regulatorprotein der postsynaptischen α‑Amino-3-hydroxy-5-methyl-4-isooxazol-propionat(AMPA)-Rezeptoren-Dichte, das eine wichtige Rolle in der neuronalen Plastizität spielt. Bei Patienten mit nichtsyndromaler Intelligenzminderung, Autismus und bei Patienten mit epileptischer Enzephalopathie mit generalisierten Anfällen wurden De-novo-Mutationen gefunden. Erstmals wurde bei dieser Genmutation die EEG-Normalisierung durch Augenöffnung beschrieben [19]. Im Jahr 2021 wurde SYNGAP1-DEE als fotosensible Epilepsie beschrieben [20]. Das gute Therapieansprechen auf Valproinsäure und die Fotosensibilität wurden erneut in einer größeren Kohorte mit 17 neuen Patienten mit SYNGAP1-Mutationen gezeigt [21]. Eine Epilepsie, zumeist mit myoklonisch-astatischen Anfällen oder Augenlidmyoklonien, hatten 16 der 17 Patienten. Interessanterweise gab es häufige Anfallstrigger (7 der 17 Patienten), bei einem Patienten ausgelöst durch Kauen [21]. Im Verlauf konnte bei 8 Patienten mit SYNGAP1-Mutationen herausgearbeitet werden, dass eine orale Stimulation als Trigger und Kauanfälle pathognomonisch für die SYNGAP1-Mutation sind [22]. Vlaskamp et al. berichteten parallel ebenfalls von Essanfällen bei den betroffenen Patienten [23]. Da SYNGAP1 den Ras-Raf-MEK-ERK-Signalweg negativ reguliert, wird angenommen, dass ein SYNGAP1-LOF zu weniger SYNGAP1-Protein und letztendlich zu einer Zunahme der exzitatorischen Synapsenübertragung führt und damit die Epileptogenizität von SYNGAP1-Mutationen erklären könnte [24]. In einem molekular-pädiatrischen Ansatz verabreichten die Autoren 2015 im Rahmen eines individuellen Heilversuchs dem Indexpatienten das Statin Rosuvastatin , da dieses neben seiner cholesterinsenkenden Wirkung durch die Hemmung von Zwischenprodukten des Mevalonatwegs den Ras-Raf-MEK-ERK-Signalweg herunterreguliert. Aufgrund der ersten positiven Erfahrungen über mittlerweile 30 Monate bei diesem Patienten wurde eine Erweiterung des individuellen Heilversuchs auf insgesamt 10 Patienten initiiert, die aktuell noch läuft.

Monogenetische Epilepsien und personalisierte Therapieansätze

Im Folgenden werden exemplarisch einige monogenetische Epilepsien und ihre personalisierten Therapieansätze dargestellt (Tab. 1).

Tab. 1 Beispiele für personalisierte Therapieansätze bei monogenetischen Epilepsien. (Modifiziert nach Syrbe [43])

Dravet-Syndrom

Das Dravet-Syndrom wird durch eine Mutation des SCN1A-Gens, das eine Untereinheit des spannungsabhängigen Natriumkanals kodiert, verursacht. Die zuvor unauffällig entwickelten Säuglinge zeigen im Alter zwischen 6 und 12 Monaten zu Beginn oft einen Hemi-Grand-Mal-Status. Im weiteren Verlauf kommt es zu therapieschwierigen epileptischen Anfällen, einer kognitiven Verschlechterung und einer Ataxie. Ferner treten Verhaltensprobleme auf. Empirisch bestand der personalisierte Therapieansatz in der Vermeidung von Natriumkanalblockern, da diese, bedingt durch die Hemmung der restlichen noch funktionierenden Natriumkanäle, zu einer Anfallsverschlechterung und schlechteren kognitiven Entwicklung führen können [25]. Die Anfallssituation kann des Weiteren durch die Antiepileptika Brom oder eine Kombinationstherapie aus Stiripentol, Clobazam und Valproinsäure bei den meisten Patienten verbessert werden. Anfallsfreiheit wird allerdings eher selten erreicht [26, 27].

Erste klinische Studien testen die Heraufregulierung von SCN1A-RNA und Natriumkanalexpression

Erste vielversprechende Therapieerfolge mit Cannabidiol oder Fenfluramin wurden in Studien zum Dravet-Syndrom berichtet [28, 29]. Auch im Hinblick auf Gentherapie bei SCN1A-Mutation gibt es erste Therapieansätze. So wird mithilfe der „targeted augmentation of nuclear gene output“ (TANGO) und der „Antisense-oligonucleotide“-Technik die SCN1A-RNA heraufreguliert und damit im Verlauf auch die Expression des Natriumkanals [30]. Hierzu werden bereits erste klinische Studien (Phase I/II) bei Patienten mit einem Dravet-Syndrom durchgeführt.

KCNQ2

Als ein Gen für benigne familiäre Neugeborenenanfälle, die im Gegensatz zu den benignen familiären infantilen Anfällen bereits in der ersten Lebenswoche beginnen, wurde 1998 KCNQ2 beschrieben. Dieses Gen kodiert einen spannungsabhängigen Kaliumkanal [31]. Im weiteren Verlauf zeigte sich, dass am anderen Ende des Spektrums auch Kinder mit einer epileptischen Enzephalopathie De-novo-KCNQ2-Mutationen aufweisen können, bei denen empirisch der Einsatz von Natriumkanalblockern erfolgt [32, 33]. Die Antagonisierung des genetischen Defekts als personalisierte Therapie verfolgt der Einsatz des Kaliumkanalöffners Retigabin, das aufgrund von Nebenwirkungen wieder vom Markt genommen wurde [34]. Die KCNQ2-bedingten benignen familiären Neugeborenenanfälle am anderen Ende des Spektrums sind gut zu behandeln, und bei ihrer sicheren klinischen Diagnose ist ein rasches Absetzen der antikonvulsiven Therapie möglich [35].

SCN2A

Ein weiterer Vertreter im Zusammenhang mit früh beginnenden epileptischen Enzephalopathien ist das Gen SCN2A, das die spannungsabhängige Untereinheit 2 des Natriumkanals kodiert. Phänotypisch zeigen die Patienten ein DEE, einschließlich der Syndrome wie West-Syndrom, Epilepsie im Kleinkindalter mit wechselnden fokalen Anfällen und Ohtahara-Syndrom, sowie Autismus oder mentale Beeinträchtigung ohne Anfälle. Wolf et al. stellten in einer Untersuchung mit 201 Patienten fest, dass bei einer Manifestation der Epilepsie in den ersten 3 Lebensmonaten häufig eine Gain-of-function(GoF)-Mutation des SCN2A-Gens vorlag, bei der der Einsatz von Natriumkanalblockern zu einer deutlichen Anfallsverbesserung führte. Dagegen liegt bei einem Epilepsiebeginn nach dem 3. Lebensmonat häufig eine Loss-of-function(LoF)-Mutation vor, und in diesem Fall führen Natriumkanalblocker zur Anfallsverschlechterung [36].

KCNA2

Elektrophysiologische Untersuchungen der KCNA2-Mutationen von 23 Patienten mit epileptischer Enzephalopathie zeigten eine deutliche Genotyp-Phänotyp-Assoziation. Die De-novo-KCNA2-Mutation bewirkt am spannungsabhängigen Kaliumkanal Kv1.2 entweder eine dominante, negative LOF-Mutation oder eine GOF-Mutation. Klinisch äußert sich dies durch einen milderen Verlauf in der Gruppe der LOF-Mutationen mit v. a. fokalen Anfällen und schlafaktivierten epilepsietypischen Potenzialen im EEG. In der Gruppe der GOF-Mutationen fanden sich eher generalisierte Anfälle, und die Hälfte der Patienten war durch eine therapieschwierigere Epilepsie, Entwicklungsprobleme, Ataxie und in der bildgebenden Untersuchung eine Kleinhirnatrophie oder generalisierte Atrophie charakterisiert.

Bei einer GOF bei SCN2A führen Natriumkanalblocker häufig zu einer Anfallsverbesserung

Die Patienten, die sowohl eine GOF- als auch eine LOF-Mutation aufwiesen, präsentierten sich mit der schwersten Verlaufsform, bestehend aus einer sich sehr früh manifestierenden Epilepsie, häufig bereits im Neugeborenenalter, einer Entwicklungsbeeinträchtigung sowie generalisierten und fokalen epileptischen Anfällen [37, 38].

Bei Patienten mit KCNA2-assoziierten Epilepsien gibt es positive Berichte über den Einsatzes des Kaliumkanalblockers Amitriptylin zur Antagonisierung des genetischen Effekts der GOF-Mutationen [38].

GRIN2A

Einige Patienten mit atypischen Verlaufsformen der idiopathisch fokalen Epilepsie im Kindesalter wie dem Landau-Kleffner-Syndrom und dem CSWS-Syndrom („continuous spikes and slow-waves during slow sleep“) weisen häufiger GRIN2A-Mutationen auf. Das Gen kodiert eine GluN2A-Untereinheit des NMDA-Rezeptors [39]. Eine Untersuchung von 19 Patienten zeigte in einigen Fällen einen positiven Effekt der auch sonst bei idiopathisch fokalen Epilepsien eingesetzten Antikonvulsiva Valproinsäure, Sultiam, Clobazam und von Steroiden. Dennoch bleiben die Anfälle bei vielen Patienten therapierefraktär [40].

Pierson et al. berichteten von einem personalisierten Therapieansatz bei Patienten mit GoF-Mutation. So wurde bei einem Patienten mit nachgewiesener GoF-Mutation durch Memantin, einen NMDA-Rezeptor-Antagonisten, eine deutliche Anfallsreduktion erreicht [41]. Allerdings konnten diese Ergebnisse bislang nicht gut reproduziert werden (Prof. Lemke, persönliche Mitteilung).

Glucosetransporterdefekt

Als Vertreter einer „Stoffwechselepilepsie“ ist der Glucosetransporterdefekt (GLUT1) zu nennen. Kernsymptome sind therapieschwierige epileptische Anfälle, eine frühkindliche Absencen-Epilepsie, eine Ataxie und eine kognitive Beeinträchtigung. Diagnostiziert wird diese Erkrankung mithilfe der Lumbalpunktion und der Berechnung des Glucosequotienten von Liquor zu Serum (in diesem Fall reduziert) oder mithilfe des Nachweises einer Mutation im SLC2A1-Gen. Als individuelle Therapie eignet sich die ketogene Diät, durch die dem Gehirn über einen alternativen Stoffwechselweg mit Ketonkörpern ausreichend Energie zur Verfügung gestellt werden kann [42].

Diskussion

Zweifelsfrei ergeben sich im klinischen Alltag durch die rasanten Erkenntnisse in der genetischen Grundlagenforschung auch für die pädiatrische Epileptologie immense Veränderungen, die in vielen Bereichen einem Paradigmenwechsel gleichkommen. Dies gilt v. a. für das Verständnis der Ursache und Pathophysiologie einer Epilepsie, deren Klassifikation und prognostische Einordnung. Die ätiologische Klärung ist eine wesentliche primäre Aufgabe in der Neuropädiatrie. Eine genetische Labordiagnostik bei einem jungen Kind mit Epilepsie sollte aber immer eine gründliche Anamnese, klinische Untersuchung sowie klinisch-epileptologische Erfahrung voraussetzen und unbedingt auf einer ausführlichen Zielabsprache mit den Eltern basieren, die ausreichend Zeit für psychologische und ethische Reflexionen lässt. Dann kann eine kompetente genetische Labordiagnostik die Zeit bis zur ätiologischen Klärung deutlich verkürzen, Kosten für unnötige weitere diagnostische Maßnahmen und Krankenhausaufenthalte ersparen, den Eltern bei der Familienplanung Hilfestellungen geben und dazu beitragen, unnötigen Schuldgefühlen – v. a. bei den Müttern – entgegenzuwirken. Auf Fehlinterpretationen ist allerdings auch bei genetischen Befunden zu achten.

Eine genetische Labordiagnostik muss auf der ausführlichen Zielabsprache der Beteiligten basieren

Aus Sicht der Autor*innen ist aber eine weitreichende und teure genetische Labordiagnostik bei einer in den ersten Lebensjahren beginnenden Epilepsie nicht immer zwingend notwendig, um eine Therapie zu beginnen. Zum Beispiel kann eine tuberöse Hirnsklerose, ein Dravet-Syndrom oder eine SYNGAP1-Mutation durch eine erfahrene Ärztin/einen erfahrenen Arzt rein klinisch gestellt werden. In den meisten Fällen wird man aber die klinische Diagnose durch eine gezielte genetische Untersuchung bestätigen wollen. Umgekehrt ist es oft die Aufgabe der Neuropädiaterin/des Neuropädiaters zu klären, ob ein genetischer Befund bei einer breiten NGS-Diagnostik mit dem klinischen Befund übereinstimmt.

Aus der genetischen Klärung ergeben sich allerdings bisher nur in wenigen Ausnahmefällen individualisierte, oft auch nur auf geringer Evidenz beruhende Therapieansätze (Tab. 2). Einige Ausnahmen sind metabolisch bedingte Epilepsien wie die CAD-Defizienz, der Glucosetransporterdefekt oder die pyridoxinabhängigen Epilepsien. Solche Ätiologien sollten daher aufgrund ihrer guten Behandelbarkeit primär frühzeitig ausgeschlossen werden. Es ist zu diskutieren, ob nicht gut behandelbare metabolische Epilepsien in zukünftige „genetische Neugeborenenscreeningmethoden“ eingeschlossen werden.

Ein großer Diskussionspunkt ist aktuell auch, wann und ob man allgemein bei Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten ohne Anfälle primär gleich eine NGS-Diagnostik durchführt oder – ggf. nach einer EEG-Diagnostik und bildgebenden Untersuchung – erst gezielte genetische Untersuchungen veranlasst. Dabei ist sicher die klinische Erfahrung der behandelnden Ärztin/des behandelnden Arztes wichtig, und ihre/seine Ressourcen für Beratungen der Eltern.

Bei jungen Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten und einer therapieschwierigen Epilepsie sollte immer frühzeitig die Option eines epilepsiechirurgischen Eingriffs in Betracht gezogen werden. Es zeigt sich klar der Trend, dass immer seltener junge Kinder ohne vorherige genetische Diagnostik operiert werden, es sei denn, dass die Ätiologie einer eindeutig strukturellen fokalen Epilepsie klinisch und aufgrund der Befunde der bildgebenden Untersuchung klar ist. Zeigen Säuglinge das Bild einer DEE ohne eindeutige Ätiologie, sollte eine breite NGS-Diagnostik vor oder parallel zu einer Anmeldung an einem epilepsiechirurgischen Zentrum überlegt werden. In der pädiatrischen Epilepsiechirurgie gilt auch der Grundsatz „je früher desto besser“ („time matters“), wenn man davon ausgeht, durch eine Therapie nicht nur eine entscheidende Verminderung der Anfälle, sondern den epilepsiebedingten Beeinträchtigungen von Kognition und Verhalten entgegenzuwirken.

Findet sich bei einem älteren Kind mit einer genetisch bedingten DEE eine höhergradige Intelligenzminderung (ggf. mit einer Autismus-Spektrum-Erkrankung), kann eine deutliche Reduktion der Anfallshäufigkeit (und -schwere) mit einer Verbesserung der QoL für den Patienten und sein Umfeld einhergehen. Entscheidende Besserungen von Verhalten und Kognition sind allerdings weniger zu erwarten. Dies gilt auch nach Ansicht der Autorin/des Autors für die neuen als „orphan drugs“ (OD) zugelassene AED. Bei der Bewertung der Kosten für diese und zukünftige Medikamente ist dieser Aspekt unbedingt zu beachten. Es ist auch als kritisch anzusehen, dass einige neue Medikamente als sog. OD zur Behandlung des LGS eingeführt wurden. Der alte Begriff LGS beschreibt eine Gruppe von schwer behandelbaren, früh beginnenden Epilepsien mit schwerer Beeinträchtigung der kognitiven Entwicklung. Die Ätiologien für ein LGS sind jedoch sehr heterogen. Per se kann es daher kein OD für ein LGS geben. Diese sollten daher vor dem Hintergrund der hohen Kosten nur mit vorab individuell definierten und nach einigen Monaten überprüften Therapiezielen eingesetzt und ggf. frühzeitig abgesetzt werden.

In der Anamnese sollten „epigenetische“ Faktoren wie ENITE erfasst werden

Abschließend soll folgender Aspekt hervorgehoben werden, der für die den Autor/die Autorin aufgrund ihrer Spezialisierung auf therapieschwierige Epilepsien in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat: Nicht selten liegt nicht nur eine einzige Ursache der Epilepsie vor, sondern eine Kombination von (mehreren) genetischen und exogenen („epigenetischen“) Faktoren. Besonders wichtig sind die verschiedenen Phasen der Hirnentwicklung in der Schwangerschaft sowie Geburtskomplikationen. Nach diesen ist anamnestisch speziell – auch bei Nachweis von genetischen Befunden – zu fragen, insbesondere nach Auffälligkeiten wie Blutungen oder Mehrlingsschwangerschaften im ersten Trimenon. Auch an ein „vanishing twin syndrome“ ist zu denken. Nicht selten können Störungen der frühen Hirnentwicklung zu Hirnanlagestörungen (z. B. Polymikrogyrien und fokalen kortikalen Dysplasien) führen und wiederum mit Komplikationen in der Spätschwangerschaft oder Geburt (z. B. Asphyxie bei Frühgeburt) kombiniert sein. Kürzlich haben die Autorin/der Autor einen Begriff für Störungen der Hirnentwicklungsstörungen in der Frühschwangerschaft eingeführt: „early neuroimpaired twin entity“ (ENITE; Tab. 2; [7]). Zunehmend werden ENITE bei assistierten Befruchtungen festgestellt. Nach Meinung der Autorin/des Autors erklärt ENITE gut, dass sogar eineiige Zwillinge mit einer genetischen Veränderung passend zu einer DEE einen sehr unterschiedlichen Epilepsiephänotyp zeigen können.

Tab. 2 „Early neuroimpaired twin entity“ (ENITE)

Fazit für die Praxis

  • Neue krankheitsverursachende Gene werden besonders häufig bei früh beginnenden Epilepsien gefunden. Dies kommt im Verständnis der Pathophysiologie dieser Epilepsien einem Paradigmenwechsel gleich und kann eine diagnostische Odyssee vermeiden helfen.

  • Eine „Präzisionstherapie“ für monogenetische Epilepsien stellt allerdings aktuell eine Rarität dar; erste klinische Studien zu gentherapeutischen Ansätzen (z. B. mit Antisense-Oligonukleotiden) sind in Vorbereitung.

  • Die Anamnese (z. B. bezüglich „epigenetischer“ Faktoren wie ENITE und klinischer Zeichen) und Zielabsprachen vor einer genetischen Diagnostik sind wichtig.

  • Das große internationale Network for Therapy of Rare Epilepsies (NETRE) kann zum einfachen Erfahrungsaustausch unter Klinikern und in Kooperation mit Forschungsgruppen und Selbsthilfeorganisationen (z. B. über Patient based phenotyping and evaluation of therapy for Rare Epilepsies, PATRE) hilfreich sein.