Einleitung

Mit dem am 01.02.2010 in Deutschland in Kraft getretenen Gesetz über genetische Untersuchungen bei Menschen (Gendiagnostikgesetz – GenDG) hat der Gesetzgeber tief greifende Vorschriften für die humangenetische Leistungserbringung erlassen. Er hat darin insbesondere Regelungen für die Durchführung von genetischen Beratungen geschaffen, die in genetischen Untersuchungskontexten zu beachten sind. Der Aufklärung und genetischen Beratung über genetische Risiken sowie der genetischen Beratung im Zusammenhang mit genetischen Untersuchungen wird eine hervorgehobene Bedeutung zugewiesen. Die Richtlinie der Gendiagnostik-Kommission (GEKO) über die Anforderungen an die Qualifikation zur genetischen Beratung und zu deren Inhalten gemäß § 23 Abs. 2 Nr. 2a und § 23 Abs. 2 Nr. 3 GenDG trägt dieser Bedeutung Rechnung [1]. Befugt zur genetischen Beratung sind neben den Fachärztinnen und Fachärzten für Humangenetik und Fachärztinnen und Fachärzten mit der Zusatzbezeichnung „Medizinische Genetik“ seit dem 01.02.2012 nur noch Ärztinnen und Ärzte, die die von der GEKO festgelegte Beratungsqualifikation erworben oder nachgewiesen haben (fachgebundene genetische Beratung).

In keinen anderen Bereich der Medizin hat der Gesetzgeber in ähnlicher Weise unmittelbar eingegriffen wie in den der Genetik. Dies gilt nicht nur für Deutschland. In zahlreichen europäischen Ländern wurde ähnlich verfahren [2, 3]. Offenbar besteht – auch international – ein gesellschaftliches Interesse, genetischen Daten in der Medizin eine Sonderstellung zuzuweisen („genetischer Exzeptionalismus“; [4]) und den spezifischen Chancen und Risiken der Anwendung auf Gesetzesebene – und nicht nur auf der Basis der ärztlichen Selbstverwaltung – gerecht zu werden. Die hier vorgelegten Daten zur Inanspruchnahme der humangenetischen Beratung in den Jahren vor und nach dem Inkrafttreten des GenDG dienen einer informierten Abschätzung möglicher Auswirkungen des Gesetzes.

Zur Entwicklung der Inanspruchnahme genetischer Beratung in Deutschland lagen veröffentlichte Daten bisher nur für den Zeitraum 1996 bis 2004 vor [5, 6]. In diesem Zeitraum blieb die pro Jahr erbrachte Zahl von genetischen Beratungen, die von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) vergütet wurden, im Wesentlichen konstant bei jährlich rund 47.000. Gleichzeitig stieg in diesem Zeitraum die Zahl der erbrachten diagnostischen genetischen Untersuchungen erheblich an, sodass sich die Schere zwischen Diagnostikleistungen und Beratungen immer weiter öffnete.

Die weitere Entwicklung der Zahl genetischer Beratungsleistungen in den Jahren unmittelbar vor und insbesondere nach Inkrafttreten des GenDG und der Umsetzung der Richtlinie der GEKO zur genetischen Beratung wurde bisher nicht erfasst.

Aufgrund der veralteten Datenlage konnte die Entwicklung des Umfangs genetischer Beratungen seit der Einführung des GenDG bisher nicht beschrieben werden.

Parallel zu der vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Studie „Genetische Beratung in Deutschland – Struktur und Inanspruchnahme“ (GenBIn-Studie; [7]) haben wir aktuelle Daten erhoben, die

  1. 1.

    die Entwicklung des Umfangs genetischer Beratungsleistungen sowohl vor als auch nach Inkrafttreten des GenDG dokumentieren und

  2. 2.

    zur Diskussion der beobachtbaren Entwicklung der Inanspruchnahme genetischer Beratung und der möglichen zukünftigen Entwicklung beitragen.

Material und Methoden

Über einen Zeitraum von 9 Jahren (2009 bis 2017) wurden die im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung erbrachten und nach Einheitlichem Bewertungsmaßstab (EBM) über die kassenärztlichen Vereinigungen abrechenbaren humangenetischen Beratungsleistungen über eine Datenbankabfrage beim Zentralinstitut der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (ZI-KBV) erfasst und dokumentiert.

Die Daten der Jahre 2005 bis 2008 waren zum Zeitpunkt des Beginns der Abfrage (Juli 2016) nicht mehr aus der ZI-KBV-Datenbank abrufbar. Es wurden daher alle Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) Deutschlands um die Übermittlung etwaiger noch vorhandener Daten für diesen Zeitraum gebeten.

Bedingt durch die sich wandelnde Struktur der ZI-KBV-Datenbank standen für den veröffentlichten Zeitraum 1996–2004 genetische Beratungsleistungen aller Fachgruppen zur Verfügung, für den Zeitraum 2009 bis 2017 konnten nur noch die Beratungsleistungen von Pädiatern, Gynäkologen und Humangenetikern (die zusammen aber den weitaus größten Anteil erbringen) präzise recherchiert werden.

Die Abfragen wurden 2016 parallel zu der GenBIn-Studie begonnen und 2019 abgeschlossen.

Die aktuell nicht abrechenbaren fachgebundenen genetischen Beratungen [1] werden mit dieser Abfrage nicht erfasst.

Eine fachgebundene genetische Beratung erfolgt durch qualifizierte Fachärztinnen und Fachärzte im Hinblick auf fachspezifische Fragestellungen, die im Rahmen des jeweiligen ärztlichen Fachgebiets anfallen. Sie erfordert daher keine übergreifende, die Fachgrenzen überschreitende genetische Expertise. Ergeben sich in der genetischen Beratung Hinweise auf übergeordnete Fragestellungen, die über die eigenen Fachgrenzen hinausgehen, soll laut Richtlinie der GEKO [1] eine Überweisung zur Fachärztin oder zum Facharzt für Humangenetik oder zu einer/einem auf dem Fachgebiet entsprechend qualifizierten Ärztin oder Arzt mit Zusatzbezeichnung „Medizinische Genetik“ erfolgen.

Ebenso nicht erfasst werden konnten genetische Beratungen im Rahmen pauschalierter Abrechnungen sowie für die private Krankenversicherung und Selbstzahler, die zusammengenommen jedoch nur einen geringen Anteil am Beratungsaufkommen darstellen.

Für die Diskussion der beobachtbaren Entwicklung der Inanspruchnahme genetischer Beratung und der möglichen zukünftigen Entwicklung werden zusätzlich Daten der GenBIn-Datenbank herangezogen. Die GenBIn-Datenbank umfasst Daten von 5256 genetischen Beratungen aus den Jahren 2011 (n = 2091) und 2016/2017 (n = 3165). Das Jahr 2011 wurde bewusst gewählt, um den Status quo ante vor dem 01.02.2012 zu dokumentieren. Ab dem 01.02.2012 sind nur noch solche Ärztinnen und Ärzte zur fachgebundenen genetischen Beratung qualifiziert, die die in der Richtlinie der GEKO zur Qualifikation zur genetischen Beratung festgelegte Beratungsqualifikation erworben haben.

Initial ist die GenBIn-Datenbank aus der bundesweiten Kooperation von 27 genetischen Beratungseinrichtungen entstanden (13 universitäre Einrichtungen, 1 akademisches Lehrkrankenhaus, 13 Beratungseinrichtungen in der Niederlassung). Diese Einrichtungen erklärten sich 2013 bereit, retrospektiv für 2011 Falldaten zur genetischen Beratung für die Datenbank nach einem standardisierten Verfahren (25 Fälle pro Quartal 2011) aus ihren Archiven zu ziehen und zu dokumentieren. Bezogen auf das Erfassungsjahr 2011 repräsentieren diese Einrichtungen knapp ein Viertel der damaligen Beratungsstellen (n = 111). An der nachfolgenden Dokumentation für 2016/2017 nahmen insgesamt 34 Beratungseinrichtungen teil (19 universitäre Einrichtungen, 2 akademische Lehrkrankenhäuser, 13 Beratungseinrichtungen in der Niederlassung). Eine Übersicht über die geografische Verteilung in 2016/2017 findet sich im GenBIn-Forschungsbericht [7]. Von den 27 Einrichtungen, die die Beratungsfälle für 2011 übermittelten, sind bedingt durch Schließungen (2), mangelnde personelle Kapazitäten (1) und Änderungen in der Leitungsebene (1) noch 23 in der Dokumentation für 2016/2017 vertreten. Neu hinzu kamen 11 Einrichtungen, darunter 2, die den durch Schließung bedingten Ausfall der 2 Einrichtungen in derselben Region kompensierten.

Die standardisierten Falldokumentationen der GenBIn-Datenbank erlauben erstmals eine systematische Beschreibung der Erbringung und Nutzung genetischer Beratungsleistungen und deren Vergleich innerhalb verschiedener Zeiträume in einem Kollektiv unterschiedlicher Beratungseinrichtungen. Damit kann die GenBIn-Datenbank als Grundlage für ein systematisches Monitoring der Entwicklung der Beratungspraxis nach dem Inkrafttreten des GenDG und der Umsetzung der Richtlinie der GEKO genutzt werden [1]. Hierzu gab es bisher keine Daten.

Eine ausführliche Beschreibung der Methoden der GenBIn-Studie, der Datenerhebung sowie der teilnehmenden humangenetischen Beratungseinrichtungen wurde im GenBIn-Forschungsbericht vom Robert Koch-Institut (RKI) in 2019 publiziert (siehe oben).

Ergebnisse

Die Entwicklung der Inanspruchnahme der genetischen Beratung 2005 bis 2017

2005 bis 2009 Entwicklung in 4 Einzel-KVen

4 Einzel-KVen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Niedersachsen, die einen Bevölkerungsanteil in Deutschland von zusammen 23 % repräsentieren, stellten ihre Daten für diesen Zeitraum zur Verfügung. Aufgrund der unterschiedlichen Dokumentation von Fachgruppen konnte für die 4 KVen gemeinsam nur die Zahl von genetischen Beratungen summiert über alle Fachgruppen erfasst werden (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Genetische Beratungsleistungen 2005 bis 2009: Vergütung durch die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) in 4 Einzel-KVen (Kassenärztlichen Vereinigungen). (Quelle: KV Schleswig-Holstein (kvsh), KV Rheinland-Pfalz (kvrlp), KV Sachsen (kvs), KV Niedersachsen (kvn))

Die Daten der 4 KVen zeigen, dass die Anzahl der vergüteten Beratungen von 2005 bis 2008 jährlich anstieg (Abb. 1). Insgesamt nahm sie im Zeitraum von 4 Jahren um 17 % zu. Im Zeitraum 2008 bis 2009 stieg die Zahl der Beratungen dann besonders stark an: Innerhalb eines Jahres erhöhte sie sich um 20 %. Insgesamt stiegen die Beratungszahlen im Zeitraum 2005 bis 2009 um 40,6 %. Es ist nicht auszuschließen, dass der im Vergleich zu den Vorjahren starke Anstieg in 2009 von der öffentlichen Diskussion des GenDG besonders beeinflusst wurde (GenDG-Ausfertigungsdatum am 31.07.2009; Inkrafttreten am 01.02.2010).

Bundesweite Entwicklung 2009 bis 2017

Seit dem Beschlussjahr des GenDG (2009) ist die Zahl genetischer Beratungsleistungen, die von der GKV bis Ende 2017 vergütet wurden, um fast 50 % (47,3 %) gestiegen, seit dem Inkrafttreten des GenDG in 2010 um 39 % (2010: 56.358 Beratungen, 2017: 78.437; Abb. 2). Die Anzahl der Beratungen, die davon von Fachärztinnen und Fachärzten für Humangenetik erbracht wurden, ist seit 2009 um mehr als 72 % gestiegen (2009: 41.249, 2017: 70.997), seit 2010 um 56 % (Abb. 2). Bei der Bewertung dieses Anstiegs ist zu beachten, dass seit dem 01.10.2015 die genetische Beratung nur noch von Fachärztinnen und Fachärzten für Humangenetik und von Fachärztinnen und Fachärzten mit der Zusatzbezeichnung „Medizinische Genetik“ in der GKV abgerechnet werden kann.

Abb. 2
figure 2

Genetische Beratungsleistungen 2009 bis 2017: Vergütung durch die gesetzliche Krankenversicherung (GKV), alle KVen (Kassenärztliche Vereinigungen). (Quelle: ZI-KBV[Zentralinstitut der Kassenärztlichen Bundesvereinigung]-Datenbank)

Insgesamt sind kontinuierlich jährliche Steigerungsraten im Zeitraum 2009 bis 2017 zu beobachten. Werden die Daten der 4 Einzel-KVen hinzugezogen, ist davon auszugehen, dass schon seit 2005 die Zahl der durch die GKV vergüteten genetischen Beratungen jährlich kontinuierlich steigt.

Die Inanspruchnahme der genetischen Beratung in 2016/2017 im Vergleich zu 2011

Der Vergleich der Inanspruchnahme der genetischen Beratung in 2011 (Status quo ante s. oben) mit der Inanspruchnahme in 2017 (für GenBIn-Daten: 2016/2017) dokumentiert Veränderungen in folgenden Bereichen.

Anzahl der Überweisungen.

Die genetischen Beratungsfälle, die von der GKV insgesamt vergütet werden, sind seit 2011 von 57.156 auf 78.437 (+37,2 %) in 2017 gestiegen. Die von Fachärztinnen und Fachärzten für Humangenetik erbrachten Beratungen stiegen im gleichen Zeitraum von 46.691 auf 70.997 (+52,1 %). Die Humangenetik hat somit in diesem Zeitraum ihren Anteil an der Leistungserbringung deutlich gesteigert.

Spektrum der Überweiser (GenBIn-Datenbank).

Die genetischen Beratungseinrichtungen erhielten in 2016/2017 wie in 2011 ihre häufigsten Zuweisungen von Fachärztinnen und Fachärzten für Frauenheilkunde und Geburtshilfe (Abb. 3a, b). Mit 34 % waren die Anteile in den Einrichtungen an den Universitäten und akademischen Lehrkrankenhäusern (ALK) deutlich geringer als die Anteile in der Niederlassung (63 %). In der Niederlassung kamen nur 37 % der genetischen Beratungsfälle von anderen Zuweisern. Den größten Anteil erhielten hier mit 13 % Fachärztinnen und Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin und Selbstüberweiser (10 %). Die Beratungseinrichtungen an den Universitäten und ALK erhielten dagegen 66 % ihrer Zuweisungen von anderen Fachärztinnen und Fachärzten, insbesondere von jenen für Allgemeinmedizin (20 %), innere Medizin (12 %), Kinder- und Jugendmedizin (12 %) und anderen Fachärztinnen und Fachärzten (12 %). Der Anteil von Selbstüberweisungen entsprach mit 10 % demjenigen der Beratungseinrichtungen in der Niederlassung.

Abb. 3
figure 3

a Zuweisende an genetische Beratungseinrichtung (2011). GenBIn (Studie „Genetische Beratung in Deutschland“): Universität/ALK (akademisches Lehrkrankenhaus): gültige Fälle 1202, fehlende Fälle 66; Niederlassung: gültige Fälle 716, fehlende Fälle 107. (Quelle: GenBIn-Datenbank, RKI). b Zuweisende an genetische Beratungseinrichtung (2016/2017). GenBIn: Universität/ALK: gültige Fälle 2057, fehlende Fälle 7; Niederlassung: gültige Fälle 1100, fehlende Fälle 1. (Quelle: GenBIn-Datenbank, RKI)

Deutlich verändert haben sich die relativen Anteile der Zuweiser zu den genetischen Beratungseinrichtungen in der Niederlassung in 2016/2017 verglichen mit den Anteilen in 2011. Dominierten 2011 die Zuweisungen der Fachärztinnen und Fachärzte für Frauenheilkunde und Geburtshilfe mit einem Anteil von 83 % von allen erhaltenen Zuweisungen, so sind diese Zuweisungen 2016/2017 mit einem Anteil von 63 %, um 20 Prozentpunkte geringer. Der Anteil der Überweisungen durch andere Fachärztinnen und Fachärzte und von Selbstüberweisungen hat sich mehr als verdoppelt. Betrug er in 2011 insgesamt 17 %, waren es in 2016/2017 bereits 37 %. Insbesondere gestiegen sind die Anteile von Überweisungen von Fachärztinnen und Fachärzten für Kinder- und Jugendmedizin mit 13 % (4 % in 2011) und der Anteil von Selbstüberweisungen mit 10 % (2 % in 2011).

Wartezeiten (GenBIn-Datenbank).

Die Wartezeiten zwischen der Anmeldung zur Beratung und dem Tag der ersten Beratung haben sich 2016/2017 erhöht. Der Median der Wartezeit ist um 6 Tage gestiegen: 2011 betrug die mittlere Wartezeit 41,18 Tage (Median 25 Tage), 2016/2017 betrug sie 47,14 Tage (Median 31 Tage; Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Wartezeit zwischen Datum der Anmeldung zur Beratung und Datum der 1. Beratungssitzung, Vergleich GenBIn (2011) und GenBIn (2016/2017; %). GenBIn 2011: gültige Fälle 1191, fehlende Fälle 900; Mittelwert 41,18 Tage; Median 25,00 Tage; Std.-Abweichung 49,348 Tage; Minimum 0 Tage; Maximum 461 Tage; GenBIn 2016/2017: gültige Fälle 3120, fehlende Fälle 45; Mittelwert 47,14 Tage, Median 31,00 Tage; Std.-Abweichung 51,766 Tage; Minimum 0 Tage; Maximum 1089 Tage. (Quelle: GenBIn-Datenbank, RKI)

Wartezeiten sind auch von dem Beratungsanlass abhängig. Dies zeigt in GenBIn der exemplarische Vergleich der Wartezeiten in 2016/2017 zwischen Beratungen zu einem erhöhten genetischen Risiko bei direkten Nachkommen bei einer bestehenden Schwangerschaft, Beratungen zur Abklärung eines erhöhten familiären Krebsrisikos und Beratungen zu einer diagnostischen onkogenetischen Untersuchung. Bei einer bestehenden Schwangerschaft beträgt die mittlere Wartezeit 17,4 Tage (Median 7 Tage), während die mittlere Wartezeit für eine Beratung zur Abklärung eines familiären Krebsrisikos 61,88 Tage (Median 42,00 Tage) und für eine Beratung zu einer onkogenetischen Untersuchung 56,86 Tage (Median 38,00 Tage) beträgt [7].

Zeitaufwand für die genetische Beratung 2016/2017 (GenBIn-Datenbank)

Für 2016/2017 kann der gesamte Zeitaufwand (=Dauer des direkten Patientenkontaktes + Dauer der Hintergrundarbeit) dokumentiert werden. Da für 2011 die Daten retrospektiv erhoben wurden, fehlen hierzu häufig Angaben [7]. In 2016/2017 betrug der mittlere Zeitaufwand für einen Beratungsfall in den universitären und ALK-Einrichtungen 5,71 halbe Stunden (Median: 5,28). In den Einrichtungen in der Niederlassung war der Zeitaufwand etwas niedriger. Er betrug im Mittel 5,0 (Median: 4,6). In volle Stunden umgerechnet, wurde für 51 % der Beratungsfälle in den Niederlassungen ein Zeitaufwand von maximal 1,5 bis unter 2 h berichtet (Abb. 5). In den universitären Einrichtungen und den Einrichtungen der ALK traf dieser Zeitaufwand auf 35 % der Beratungsfälle zu. 65 % der Beratungsfälle erforderten hier einen Zeitaufwand von 2 und mehr Stunden.

Abb. 5
figure 5

GenBIn-Datenbank: Dauer des gesamten Zeitaufwandes pro Fall einschließlich Hintergrundarbeit. Nach Beratungseinrichtung in 2016/2017 (%). GenBIn: Universität/ALK: gültige Fälle 2052, fehlende Fälle 12. Die Dauer der Beratung wurde in einer halbstündigen (0,5 h) Klassifizierung erhoben: Mittelwert 5,71; Median 5,28; Modus 4; Std.-Abweichung 2,376; Minimum 1, Maximum 25; Niederlassung: gültige Fälle 1092, fehlende Fälle 9; Mittelwert 5,06; Median 4,61; Modus 4,00; Std.-Abweichung 2,329. (Quelle: GenBIn-Datenbank, RKI)

Beratungsanlässe in 2016/2017 (GenBIn-Datenbank)

In 2016/2017 erhielt die Mehrheit (55 %) der dokumentierten Beratungsfälle eine humangenetische Beratung im Rahmen einer diagnostischen genetischen Untersuchung außerhalb einer Schwangerschaft. Hier fand die humangenetische Beratung am häufigsten (59 %) vor einer genetischen Untersuchung statt. Der Anteil von Beratungsfällen, die vor einer Untersuchung und zu Befundergebnissen beraten wurden, ist deutlich geringer (28 %). Nur zu einem Befundergebnis wurden 13 % der Fälle beraten. 25 % aller Beratungen fanden im Kontext einer prädiktiven genetischen Untersuchung einer nicht manifest erkrankten Rat suchenden Person (keine bestehende Schwangerschaft) statt. 63 % dieser Beratungen fanden nur vor einer Untersuchung statt. 37 % der Fälle wurden entweder nur zu einem Befundergebnis (5 %) oder vor und nach dem Vorliegen des Untersuchungsergebnisses (32 %) beraten.

Humangenetische Beratungen nach einem Direct-to-consumer(DTC)-Gentest (DTC-Gentests werden in der Regel ohne direkte ärztliche Indikationsstellung außerhalb des medizinischen Umfelds angeboten und erworben) oder einer pharmakogenetischen Untersuchung waren mit einem Anteil von <0,1 % in 2016/2017 sehr selten.

Humangenetische Beratung im Kontext vorgeburtlicher genetischer Untersuchungsmöglichkeiten und Risikoabklärung fand 2016/2017 vor allem in der Niederlassung statt, weniger in den universitären Einrichtungen. In den Einrichtungen in der Niederlassung hatten diese Beratungen einen Anteil von 23 %, an den universitären Einrichtungen hatten sie einen Anteil von 9 % an allen Beratungen.

Die Beratungsfälle der GenBIn-Datenbank für 2016/2017 vor der nichtinvasiven Pränataldiagnostik (NIPD) zur Bestimmung des Risikos autosomaler Trisomien 13, 18 und 21 mittels eines molekulargenetischen Tests (nichtinvasiver Pränataltest [NIPT]) wurden überwiegend in den Beratungseinrichtungen der Niederlassungen (72 %) erbracht. Insgesamt waren die Beratungsanteile vor NIPT sowohl in der Niederlassung (8,5 %) als auch in den universitären/ALK-Beratungseinrichtungen (<2 %) bezogen auf das Gesamtaufkommen der Beratungen eher gering. Nach NIPT war der Anteil mit 0,6 % (bezogen auf das Gesamtkollektiv der teilnehmenden Einrichtungen) noch geringer.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird die Zahl der NIPT-Untersuchungen in Zukunft weiter rasch ansteigen, wenn ab Herbst 2020 NIPT als Leistung zulasten der GKV im Rahmen der ärztlichen Schwangerenbetreuung angeboten werden sollte.

Diskussion: Zukünftige Entwicklung – Kapazitätsengpässe in der genetischen Beratung

Seit 2005/2006 ist ein konstanter Anstieg genetischer Beratungsleistungen in Deutschland zu beobachten. Es kann spekuliert werden, dass dieser Anstieg in Teilen dem damaligen Technologieschub (dem verstärkten Einsatz genomischer Technologien, darunter Array-CGH) und der zunehmenden Kenntnis genetischer, insbesondere molekulargenetischer Grundlagen von Erkrankungen in anderen medizinischen Fachgruppen geschuldet ist. Der starke Anstieg von 2008 zu 2009 kann möglicherweise auch im Zusammenhang mit dem GenDG gesehen werden. Die gesellschaftliche Diskussion im Vorfeld der Gesetzgebung und die in diesem Gesetz betonte Bedeutung der genetischen Beratung könnten zu einer verstärkten Inanspruchnahme beigetragen haben. Die Zunahme von Selbstüberweisungen (GenBIn-Datenbank) kann als Indikator dafür gewertet werden, dass es zunehmend vorinformierte Personen gibt, die Zugang zu mehr genetischen Informationen mithilfe der genetischen Beratung haben möchten, unter anderem für die Abklärung von Risiken für familiäre Krebserkrankungen. Die veränderten relativen Anteile der Zuweiser zu den genetischen Beratungseinrichtungen in der Niederlassung in 2016/2017 können als ein Indikator hierfür gewertet werden. Damit legen die von uns erhobenen Daten die Vermutung nahe, dass der beobachtbare ständige Anstieg genetischer Beratungsleistungen multifaktoriell bedingt ist und nicht allein auf das GenDG zurückzuführen ist.

In der Humangenetik haben die gestiegenen Beratungsleistungen zu längeren Wartezeiten geführt. Das sich seit 2011 ändernde Spektrum der Überweisungsindikationen erhöht die mittlere Dauer des gesamten Zeitaufwandes/Fall. Während – wie diese Untersuchung zeigt – die Inanspruchnahme der genetischen Beratung seit 2009 mit einer durchschnittlichen Rate von ca. 6 % pro Jahr anwächst, bleibt die Zahl der hier wesentlichen Leistungserbringer, der vertragsärztlichen Fachärzte für Humangenetik, nahezu konstant. Deren Zahl schwankte in den Jahren 2013 bis 2018 zwischen 187 und 200, gezählt nach Bedarfsplanungsgewicht (Vollzeitäquivalenten), mit einer nur sehr geringfügig ansteigenden Tendenz [8]. Es lässt sich aus den hier präsentierten Daten und der Annahme eines ärztlichen Aufwands von 2,5 h pro Beratungsfall [6] grob abschätzen, dass ein Facharzt für Humangenetik derzeit etwa die Hälfte seiner vertragsärztlichen Tätigkeit für die humangenetische Beratung einsetzt. Es ist absehbar, dass bei einer Fortsetzung beider Trends – der steigenden Inanspruchnahme der humangenetischen Beratung und einer beinahe konstanten Zahl der Leistungserbringer – Kapazitätsgrenzen erreicht werden. Eine nennenswerte Steigerung der Zahl von Fachärzten ist angesichts der Nachwuchslage in diesem Fachgebiet in absehbarer Zeit nicht zu erwarten [9].

Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit die fachgebundene genetische Beratung auf der Basis der GEKO-Richtlinie [1] sowie deren Implementierung in die (Muster‑)Weiterbildungsordnung einiger Facharztgebiete [10] zu einer vom Gesetzgeber intendierten Verbesserung der Versorgungslage beiträgt. Daten hierzu wären wünschenswert.