Verletzlichkeit und Potenziale im Alter

Bei der Pflege hochaltriger Menschen erscheint eine Perspektive, die sowohl die zunehmende Verletzlichkeit (Vulnerabilität) als auch die erhaltenen und im Alternsprozess entwickelten Potenziale berücksichtigt und integriert, notwendig. In der medizinischen Versorgung wird sie aber noch zu wenig berücksichtigt. Bei der Verletzlichkeit wie bei den Potenzialen ist zwischen körperlichen, kognitiven, emotionalen und sozialen Veränderungen zu differenzieren [1,2,3]. Diese Veränderungen können zu einem guten Teil unabhängig voneinander verlaufen und eine stärker ausgeprägte Vulnerabilität bedeutet nicht gleichzeitig eine geringere Ausprägung von Potenzialen. Die im Einzelfall zu beobachtenden körperlichen, kognitiven, emotionalen und sozialen Veränderungen sind vielmehr das Ergebnis komplexer Wechselwirkungen zahlreicher personaler und umweltbezogener Einflussfaktoren. Mit einer solchen Perspektive werden Risiken und Ressourcen bei der Betrachtung des Individuums systematisch zusammengeschaut – und dies scheint von großer Bedeutung zu sein für die medizinisch-rehabilitative Versorgung, die Gesundheitsförderung und die Prävention.

Mit der zunehmenden Verletzlichkeit im Alter und dem nicht selten irreversiblen Charakter von Risiken und Ressourcenverlusten in dieser Lebensphase wird die Erhaltung oder (möglichst weitgehende) Wiederherstellung von Selbstständigkeit ein vorrangiges Ziel gesundheitlicher Versorgung – insbesondere unter dem Aspekt der Sicherung von Möglichkeiten der Verwirklichung von Selbstverantwortung, Mitverantwortung und Teilhabe [4]. Aus diesem Grund ist es notwendig, den ärztlich-kurativen Behandlungsansatz verstärkt um präventive, rehabilitative und palliative Aspekte zu ergänzen [5,6,7]. Medizinische Rehabilitation hat allgemein zum Ziel, durch akute oder chronische Erkrankungen aufgetretene Funktionsverluste und -einschränkungen wieder zu beheben oder weitgehend zu kompensieren; da bei alten Menschen häufig weitere Erkrankungen vorliegen und darüber hinaus die Verletzlichkeit des Menschen im hohen Alter deutlich zunimmt, stellt die geriatrische Rehabilitation besondere Anforderungen; im Zentrum stehen dabei Einschränkungen der Mobilität, basale und instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens mit der Zielsetzung, Patienten eine Rückkehr in ihr soziales Umfeld und die Aufrechterhaltung sozialer Teilhabe zu ermöglichen [8].

Präventionspotenziale in der stationären Langzeitversorgung

Auch im Pflegekontext gibt es Hinweise auf Präventionspotenziale bis ins hohe Alter. In einem Review von 92 Studien zur Prävention in der Pflege wurde moderate Evidenz für präventive Maßnahmen in der stationären Pflege konstatiert. Einzelne Wirkungsnachweise von Prävention in Pflegeheimen wurden aufgezeigt, z. B. bei ernährungsbezogenen Maßnahmen, beim Schutz durch Hüftprotektoren, bei physischem Training von bettlägerigen Patienten, bei aktivierenden Betreuungskonzepten [9].

Präventionsmaßnahmen für hochaltrige Menschen in der stationären Langzeitversorgung finden sich in vielen Bereichen mit sehr unterschiedlicher Zielsetzung:

  1. 1.

    Zahlreiche Hinweise auf die Effektivität von Prävention gibt es bei der Förderung körperlicher Aktivität. Eine Studie mit guter Evidenz konnte zeigen, dass durch Bewegungsübungen eine Verbesserung der Gehfähigkeit erreicht werden kann [10]. In einer Übersichtsarbeit, in die 14 Studien eingeschlossen waren, konnte die Wirksamkeit von Interventionen zur Förderung der körperlichen Aktivität in Pflegeheimen belegt werden. Stationär Pflegebedürftige wiesen nach Teilnahme an körperlichen Aktivitäten im Vergleich zu verschiedenen Kontrollbedingungen eine signifikant höhere körperliche Funktionsfähigkeit auf. Von den Maßnahmen profitierten gerade auch körperlich und kognitiv stark beeinträchtigte Pflegebedürftige [11]. Körperliche Aktivität hat einen positiven Einfluss auf die funktionale Gesundheit, d. h. die Fähigkeit, Aktivitäten des täglichen Lebens kompetent auszuführen. Präventive Effekte sind hierbei in der Erhaltung und Verbesserung der Selbstständigkeit, der kognitiven Leistungsfähigkeit [12] sowie der gesundheitsbezogenen Lebensqualität [13, 14] erkennbar.

  2. 2.

    In der stationären Pflege besteht ein hohes Risiko der Mangel- oder Fehlernährung, die aufgrund der gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen auch zur Zunahme des Pflegebedarfs führen kann [15, 16]. Bei ernährungsbezogenen Maßnahmen herrscht Konsens über die vorgelegten Leitlinien [17, 18].

  3. 3.

    Maßnahmen zur Förderung oder zum Erhalt kognitiver Leistungsfähigkeit sind bei einer Demenzprävalenz von 40 % in Pflegeeinrichtungen ebenfalls von hoher Bedeutung [19]. In einem Review mit zehn Interventionsstudien wurden Hinweise auf die Wirksamkeit kognitiver Trainings bei Pflegeheimbewohnern gefunden, insbesondere, wenn die kognitive Einschränkung noch nicht weit fortgeschritten war und das Trainingsprogramm individuell und über einen längeren Zeitraum durchgeführt wurde. Hier wird die insgesamt niedrige Evidenzlage der Studien betont [11].

  4. 4.

    Zahlreiche Präventionsmaßnahmen im Kontext stationärer Langzeiteinrichtungen zielen auf die Förderung verschiedener Aspekte psychosozialer Gesundheit im Alter. (a) Vor dem Hintergrund der hohen Prävalenzrate depressiver Störungen in Pflegeheimen (40–50 %, davon 15–20 % schwere depressive Störungen; [20]) werden präventive Maßnahmen zur Steigerung der Resilienz, Kohärenz, sinngebender Beschäftigungen und sozialer Kontakte empfohlen [19]. (b) Des Weiteren sind Maßnahmen zur Vermeidung oder Linderung von Verhaltenssymptomen bei Demenz als ein wichtiger Gegenstand psychosozialer Prävention in stationären Langzeiteinrichtungen zu nennen [21]. (c) Nur wenige Studien gibt es zur Suchtprophylaxe in Pflegeheimen, aber die überdurchschnittliche Prävalenz von Alkohol- und Substanzmissbrauch [22] weist auf dieses Präventionsfeld hin. Stärkung der Resilienz, Förderung sozialer Kontakte und Schulungen für Pflegekräfte werden hier als Präventionsmaßnahmen vorgeschlagen [23]. (d) Die Bedeutung sozialer Kontakte für die Lebensqualität, für körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, für die Vermeidung von Gebrechlichkeit und für die Bewältigung psychischer Belastungen ist gut belegt [24, 25]. Pflegebedürftigkeit ist ein Prädiktor eingeschränkter Teilhabe; in stationären Einrichtungen ist deshalb die Vermeidung von Einsamkeit oder fehlender sozialer Integration hoch relevant [26].

  5. 5.

    Prävention von Gewalt in der Pflege ist ein weiteres Handlungsfeld, das Eingang in die Leitlinien zur Prävention in Pflegeeinrichtungen gefunden hat. Einrichtungsübergreifende Konzepte, die zu einer Sensibilisierung der Pflegekräfte beitragen und Handlungsleitlinien und Verantwortlichkeiten festlegen, müssen entwickelt und wissenschaftlich untersucht werden [27].

  6. 6.

    Ein weiterer Präventionsbereich in stationären Einrichtungen ist die Vermeidung freiheitsentziehender Maßnahmen [28]. Von diesen sind 26 % der Pflegeheimbewohner betroffen, Menschen mit Demenz noch häufiger. Es konnte gezeigt werden, dass Schulungen und Motivation des Pflegepersonals, eine Anpassung der Umgebung, mehr Zuwendung und eine verstärkte nichtmedikamentöse Behandlung von demenziellen Erkrankungen zur Reduktion freiheitsentziehender Maßnahmen führen konnten [29].

Selbstgestaltung als zentraler Aspekt von Prävention

Die Prognose der Wirksamkeit einer medizinischen Behandlung hängt wesentlich von der Fähigkeit und Bereitschaft der Patienten ab, die Behandlung aktiv zu unterstützen. Als ethisch begründete, fachliche und instrumentelle Hilfestellung – und dies insbesondere für sozial benachteiligte Gruppen [30,31,32] – sind Angebote im Gesundheitssystem für die Umsetzung von selbstgestalteter Gesundheitsförderung und Prävention erforderlich [33]. Eine Antwort auf die erhöhte Verletzlichkeit des Menschen ist eine umfassende, sich ganz an den kognitiven und emotionalen Ressourcen des Individuums orientierende Information (Aufklärung), verbunden mit Takt- und Mitgefühl sowie einer motivierenden Haltung, die nicht die objektiv gegebenen und subjektiv erlebten gesundheitlichen Grenzen des Individuums leugnet [34, 35]. Dabei darf nicht übersehen werden, wie wichtig das mehrfach geführte Gespräch (sowohl mit den Patienten als auch mit deren Angehörigen) für die möglichst differenzierte Wahrnehmung der eigenen Veränderungs- und Entwicklungspotenziale ist. Die Umsetzung dieser Potenziale wird zusätzlich gefördert durch eine Infrastruktur, die das Individuum in seinen Bemühungen um die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung körperlicher und psychischer Gesundheit, wie auch allgemeiner um eine selbst- und mitverantwortliche Lebensführung unterstützt – dies sowohl im Sinne einer engen Kooperation von Haus- und Fachärzten mit Vertretern anderer Gesundheitsberufe als auch im Sinne eines angemessenen (barrierefreien) Zugangs zu öffentlichen Räumen, Gesundheitsinformationen und Gesundheitsangeboten [33, 36].

Wie können Präventionspotenziale in der stationären Langzeitpflege gefördert werden? Das Beispiel ORBIT

Den Ansatzpunkt der Prävention bilden nicht allein das Individuum und persönliche Faktoren wie Lebensstil, Alltagsgestaltung, Gesundheitsverhalten, subjektive Deutung und Bewältigung von Belastungen, Fähigkeit zur Kompensation von Einschränkungen. Vielmehr sind individuelle Bemühungen um Aufrechterhaltung oder Wiedergewinnung von Mobilität und Selbstständigkeit vor dem Hintergrund der räumlichen, der sozialen, der institutionellen und der rechtlichen Umwelt zu betrachten [32]. Bei der Entwicklung von Präventionskonzepten sind demnach auch Möglichkeiten sozialer Partizipation sowie die Zugänglichkeit sozialer, kultureller und medizinisch-pflegerischer Angebote für alle Menschen zu berücksichtigen [37]. Dieser Gedanke hat auch Eingang in das vom Deutschen Bundestag am 18.06.2015 verabschiedete Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz) gefunden, das unter der Zielsetzung steht, Gesundheit direkt im Lebensumfeld – sei es in der Kita, der Schule, am Arbeitsplatz oder im Pflegeheim – zu stärken.

Rehabilitative Maßnahmen können als tertiäre Prävention aufgefasst werden. Dies gilt insbesondere in einem Kontext wie der stationären Langzeitversorgung, in dem das Ziel der Maßnahme nicht nur Verbesserung, sondern auch der Erhalt von Kompetenzen, die Verzögerung des Abbaus von Fähigkeiten oder die Erhaltung der Lebensqualität ist. Bei Menschen mit Pflegebedarf sind Prävention und Rehabilitation kaum zu trennen. So ist beispielsweise das Konzept der aktivierenden Pflege eher der Prävention und Gesundheitsförderung zuzuordnen, enthält aber auch rehabilitative Elemente [38]. Nur wenn Prävention und Rehabilitation miteinander verzahnt werden, ist eine optimale Versorgung nahe an den Bedarfen der Pflegebedürftigen möglich [39, 40]. Die eingesetzten therapeutischen Konzepte unterscheiden sich weniger in der Zuordnung zu Prävention oder Rehabilitation, sondern müssen vor allem auf Menschen im hohen Alter zugeschnitten sein, indem bei ihrer Umsetzung die individuellen Einbußen und Bedarfe genauso wie die noch vorhandenen Ressourcen berücksichtigt werden [41]. Das Institut für Gerontologie und die AOK Baden-Württemberg haben im Projekt ORBIT (Organisation der Rehabilitation für Bewohner im Pflegeheim zur Verbesserung der Selbstständigkeit und Teilhabe, Laufzeit 2013 bis 2017) ein Konzept zur Umsetzung rehabilitativer Pflege entwickelt. Das Angebot richtete sich an Pflegeheimbewohner mit Rehabilitationsbedarf und -potenzial.

Ziele der Studie

Zielsetzung des Projekts war die Integration von rehabilitativen Maßnahmen in die Pflege. Die Fragestellungen waren, welches Entwicklungspotenzial bei Bewohnern von Altenheimen vorhanden ist und wie es durch eine rehabilitative Pflege gefördert werden kann. Zielgrößen waren dabei in erster Linie die Verbesserung der Mobilität und der Lebensqualität. Die Umsetzung der rehabilitativen Pflege basierte auf der fachlichen Kompetenz der Pflegefachkräfte und der Therapeuten. Eine weitere Zielsetzung des Projekts war daher die Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit der beiden Berufsgruppen.

Methode

Das Konzept von ORBIT bestand in einem mehrstufigen Verfahren. Nach der Identifikation des Interventionsbedarfs im Pflegekontext erfolgte ein durch eine Pflegefachkraft ausführlich begründeter Vorschlag für eine Physio- oder Ergotherapie oder eine Logopädie, der die Formulierung des rehabilitativen Bedarfs und der individuellen Potenziale sowie einen Therapievorschlag umfasste. Es gab keine Ausschlusskriterien, auch Personen mit fortgeschrittener Demenz und/oder schwerer Pflegebedürftigkeit konnten teilnehmen. Der Therapievorschlag und die ausreichende Belastbarkeit für die Therapie wurden vom Hausarzt des Pflegeheimbewohners geprüft und das entsprechende Heilmittel verordnet. Die intensive Therapie erfolgte zweimal wöchentlich über einen Zeitraum von drei Monaten. Nach der Therapie wurden im schriftlichen Therapiebericht Empfehlungen bestimmter Therapieelemente gegeben, die weitere drei Monate durch Pflegefachkräfte weitergeführt werden sollten. Die Empfehlungen bestanden je nach individuellem Bedarf in Geh- oder Bewegungsübungen, in passiver Bewegung, Lagerung oder in Anleitungen bzw. Motivierung zu empfohlenen Übungen. Zu Beginn der begleitenden Datenerhebung (1. Messzeitpunkt (MZP), T1) wurde ein ausführliches geriatrisches Assessment durchgeführt, das nach der Therapie (2. MZP, T2) sowie nach weiteren drei Monaten rehabilitativer Pflege (3. MZP, T3) wiederholt wurde. Das Assessment erfasste neben soziodemografischen Merkmalen Gesundheitsstatus, Funktionalität, kognitive Leistungsfähigkeit, Depressivität und Lebensqualität. Zur Beschreibung des Gesundheitsstatus wurde die Zahl schwerer Erkrankungen mit Diagnosen erfasst und der Morbiditätsindex aus dem Cumulative Illness Rating Scale for Geriatrics (CIRS-G; [42]) bestimmt, der die relevanten Erkrankungen in 13 Organsystemen zusammenfasst. Der Grad der Selbstständigkeit wurde mit dem Barthel-Index [43] und die kognitive Leistungsfähigkeit mit dem Mini-mental State Test (MMST; [44]) eingeschätzt. Für die Bestimmung der Lebensqualität wurde der Quality of Life in Alzheimer’s Disease (QOL-AD; [45]) eingesetzt, ein Fragebogen zur Selbst- bzw. Fremdeinschätzung der Lebensqualität, der auch bei Menschen mit Demenz eingesetzt werden kann. Neben quantitativen Daten wurden auch qualitative Daten erhoben. In leitfadengestützten Interviews wurden jeweils die Pflegefachkräfte und Pflegeheimbewohner nach ihrer Einschätzung des Therapieerfolges befragt. In Experteninterviews mit Therapeuten, Wohnbereichs‑, Pflegedienst- und Heimleitern wurde nachgefragt, wie die Kooperation von Therapeuten und Pflegekräften verlief und in welchem Umfang die Empfehlungen der Therapeuten in der rehabilitativen Pflege umgesetzt werden konnten.

Stichprobe

Am Projekt waren 13 Pflegeheime, 59 Hausärzte und 39 therapeutische Einrichtungen beteiligt. Insgesamt wurden 215 Pflegeheimbewohner mit Rehabilitationsbedarf in die Studie aufgenommen. Tab. 1 gibt einen Überblick über die Studienteilnehmer in ausgewählten Merkmalen. Deutlich werden dabei die hohe Prävalenz körperlicher und psychischer Erkrankungen, darunter in erster Linie Erkrankungen des Bewegungsapparates und mittlere und schwere Demenz, der ausgeprägte Pflegebedarf und die hohe Zahl der Krankenhausaufenthalte der vergangenen 12 Monate.

Tab. 1 Stichprobenbeschreibung bei Aufnahme (T1) in die Studie „Organisation und Rehabilitation für Bewohner im Pflegeheim zur Verbesserung der Selbstständigkeit und Teilhabe“ (ORBIT)

Bei 139 Teilnehmern konnte eine komplette Datenreihe mit drei Messzeitpunkten erhoben werden. 48 Teilnehmer schieden vor dem 3. Messzeitpunkt wegen Erkrankungen, Versterben oder Verlegung aus. Gleichzeitig wurde eine Kontrollgruppe von 28 Personen aufgebaut, die ihre Therapie später oder gar nicht erhielten. Tab. 2 zeigt die durchschnittliche Zahl schwerer Erkrankungen, Morbiditätsindex, Barthel-Index und MMST in der Interventionsstichprobe (n = 139) und der Kontrollgruppe (n = 28). Die Werte unterschieden sich nicht signifikant.

Tab. 2 Vergleich der Interventions- und Kontrollgruppe bei Aufnahme in die Studie (T1)

Ergebnisse

Entwicklungen in der Funktionalität mit und ohne Therapie (T1–T2)

76 % der Teilnehmer erhielten eine Physiotherapie. Ergotherapien und Logopädie wurden deutlich seltener verordnet. Die funktionellen Fähigkeiten der Studienteilnehmer mit Interventionsbedarf (n = 139) verbesserten sich während der Therapie (Zugewinn im Barthel-Index + 1,4 Punkte), dies war auch bei schwerem Pflegebedarf (Barthel-Index zu T1 ≤ 20 Punkte) zu beobachten (n = 44, Zugewinn + 2,1 Punkte). Der Effekt der Intervention wird durch den Vergleich mit der Kontrollgruppe deutlich. Die Entwicklung im Barthel-Index war in der Interventionsgruppe signifikant besser als in der Kontrollgruppe (n = 28), dort verschlechterte sich der Mittelwert (−2,7 Punkte). Der Anteil der Personen, die sich im Barthel-Index verbessern konnten, betrug in der Interventionsgruppe 36 % vs. 7 % in der Kontrollgruppe. Gleichzeitig wurde deutlich, dass ohne rehabilitative Maßnahmen Selbstständigkeitseinbußen ausgeprägter waren. Im Beobachtungszeitraum von 3–4 Monaten verschlechterten sich im Barthel-Index in der Kontrollgruppe ohne Intervention 36 % der Personen vs. 22 % in der Interventionsgruppe. Bei 70 % der Stichprobe waren Verbesserungen Interventionsziel, bei 30 % war zumindest ein Erhalt des funktionellen Status angestrebt worden.

Entwicklungen in Abhängigkeit von der Umsetzung von Therapieempfehlungen (T2–T3)

Bei 56 % der Interventionsgruppe konnten die Therapieempfehlungen vom Pflegefachpersonal umgesetzt werden. Gründe für die nur teilweise oder nicht gelungene Umsetzung waren die mangelnde Belastbarkeit (z. B. bei komplizierten Verläufen) und die fehlende Motivation der Pflegeheimbewohner, aber auch ein Mangel an zeitlichen Ressourcen der Pflegefachkräfte. Teilte man die Stichprobe nach der Umsetzbarkeit der Therapeutenempfehlungen in zwei Gruppen, ließ sich ein signifikanter Unterschied in der funktionellen Entwicklung nachweisen. Bei 73 Teilnehmern führte die rehabilitative Pflege zwischen T2 und T3 zu einer weiteren Verbesserung von 1,4 Punkten im Barthel-Index, während in der Gruppe von 57 Teilnehmern, bei denen die Empfehlungen nur teilweise oder gar nicht umgesetzt werden konnten, die Barthel-Werte wieder um durchschnittlich 5,1 Punkte schlechter wurden.

Entwicklungen in Abhängigkeit von Komplikationen im Gesamtverlauf

Die Therapie und die nachfolgende rehabilitative Pflege waren erfolgreicher, wenn der Verlauf ungestört von Komplikationen war. Dies war in 43 % der Verläufe (n = 56) der Fall. Die deutlichen Verbesserungen im Barthel-Index, die in der Therapie erreicht werden konnten, konnten unter der rehabilitativen Pflege erhalten werden. Der hohe Anteil komplizierter Verläufe (n = 83) zeigte das Maß der Vulnerabilität bei den Teilnehmern der Untersuchung. Bei den Komplikationen handelte es sich meist um Stürze (15 %), Infektionen der Atemwege (12,5 %) oder Depressivität (10 %). In dieser Gruppe entwickelten sich die funktionellen Fähigkeiten negativ, auch deswegen, weil die Umsetzung der Intervention teilweise eingeschränkt war. Den durchschnittlichen Barthel-Index bei Verläufen ohne und mit Komplikationen zeigt die Tab. 3.

Tab. 3 Barthel-Index bei Therapieverlauf ohne Komplikationen (n = 56) und mit Komplikationen (n = 83) über 3 Messzeitpunkte T1, T2, T3

Therapieerfolg und Lebensqualität

Die Niveaus der Durchschnittswerte im QOL-AD bei der Selbsteinschätzung (n = 74; 31,2 Punkte, Wertebereich 13–65 Punkte) und der Fremdeinschätzung (n = 65; 23,7) unterschieden sich deutlich, da die Personen, die nicht selbst Auskunft geben konnten, auch funktionell in einem deutlich schlechteren Zustand waren. Während der Intervention (∆ T1T2) wurden mit einem Zuwachs um 1,95 bzw. 1,63 Punkte signifikante Verbesserungen bei der selbst- und der fremdeingeschätzten Lebensqualität erreicht. Im Intervall zwischen T2 und T3 verschlechterten sich die Durchschnittswerte wieder. Bei den von den Teilnehmern selbst vorgenommenen Einschätzungen ergaben sich in diesem Zeitraum mit einer Verminderung um 1,3 Punkte sogar signifikant schlechtere Werte. Eine besondere Stellung nahm die Gruppe der schwer pflegebedürftigen Heimbewohner (n = 44) ein. Bei ihnen konnte eine fortgesetzte Verbesserung der fremdeingeschätzten Lebensqualität über den ganzen Beobachtungszeitraum festgestellt werden (∆ T1T2 = +2,3 Punkte und ∆ T2T3 = 0,2 Punkte). Damit hatten diese Personen eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität am Ende der Studie (∆ T1T3 = 2,5 Punkte, Wilcoxon-Test U‑Wert −2,5 *).

Es bestand ein signifikanter Zusammenhang zwischen einer Verbesserung der Lebensqualität und einer gleichzeitigen Verbesserung der Selbstständigkeit, gemessen mit dem Barthel-Index (Tab. 4). Der Zusammenhang ist deutlicher bei der selbsteingeschätzten Lebensqualität und betrifft sowohl den Zeitabschnitt während der therapeutischen Intervention (∆ T1T2) als auch die Phase der rehabilitativen Pflege (∆ T2T3).

Tab. 4 Korrelationen zwischen Verbesserungen der Lebensqualität (∆ QOL-AD, selbst- und fremdeingeschätzt) und der Selbstständigkeit (∆ Barthel-Index) in verschiedenen Messintervallen

Diskussion

Die Studie ORBIT deckte zusätzlichen Rehabilitations- und Präventionsbedarf in Pflegeeinrichtungen auf. In erster Linie sollten mit den Maßnahmen Verbesserungen in der Mobilität und Selbstständigkeit erreicht werden. Bei der Gewinnung von Studienteilnehmern wurde den Vorschlägen der Pflegekräfte gefolgt, die neben dem Bedarf nach rehabilitativen Maßnahmen bei den Heimbewohnern auch die für das Erreichen des Therapiezieles erforderlichen Potenziale aufdeckten und beschrieben. Das bei Pflegeheimbewohnern vorhandene Potenzial konnte durch die Entwicklungen unter der Intervention bestätigt werden, insbesondere durch den Vergleich mit der Kontrollgruppe. Auch andere Studien zu rehabilitativen Maßnahmen in der Pflege haben positive Effekte auf die Funktionalität gezeigt. Im Vergleich mit Kontrollgruppen lagen sie zum Teil in Verbesserungen [46] oder in einem geringeren Abbau [47]. Die Therapien können auch als präventive Maßnahmen zur Verminderung funktionalen Abbaus aufgefasst werden [48]. Der Vergleich mit der Kontrollgruppe gibt Hinweise, wie Entwicklungen verlaufen, wenn bei Interventionsbedarf Therapien ausbleiben. Angesichts der häufig beobachteten Verluste lässt sich nachvollziehen, dass die individuell angemessenen Therapieziele in der Interventionsgruppe nicht ausschließlich in Verbesserungen der Fähigkeiten, sondern in 30 % der Fälle in einem Erhalt des Anfangsstatus lagen.

Der Erfolg der rehabilitativen Pflege war abhängig von einer gelungenen Integration rehabilitativer Elemente in die Pflege. Für diese Integration war eine gute Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den Pflegekräften und Therapeuten Voraussetzung. Es war vorteilhaft, wenn die Übungen klar beschrieben und leicht umsetzbar waren. Die Kommunikation zwischen den beiden Berufsgruppen war durch unterschiedliche fachliche Konzepte geprägt. Die Pflegefachkräfte wünschten sich ein besseres gerontologisches Fachwissen bei den Therapeuten, diese fanden besseres Wissen der Pflegefachkräfte über Therapiekonzepte, z. B. in der Physiotherapie, hilfreich. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit muss daher bereits in der Ausbildung gefördert und in der Versorgungspraxis strukturiert werden. Andere Kontextfaktoren, die Einfluss auf die Umsetzung der Therapeutenempfehlungen hatten, waren die Motivation und Kooperation der Studienteilnehmer bei den täglichen Übungen, aber auch Erkrankungen oder Schmerzzustände sorgten für Diskontinuität bei der Umsetzung. Ein weiterer Grund waren die eingeschränkten zeitlichen Möglichkeiten der Pflegefachkräfte, die Übungen regelmäßig durchführen zu können. So wurde Personalmangel als Grund dafür angegeben, dass in einigen Fällen die Umsetzung der rehabilitativen Pflege nicht möglich war.

Die Ergebnisse zeigen, dass Interventionserfolge eng mit Verbesserung der Lebensqualität korrelieren. Bei einem Funktionsverlust nach Beendigung der Therapie nahm entsprechend die Lebensqualität wieder ab. Die Entwicklungen der Lebensqualität und funktionellen Fähigkeiten bei den Personen mit hohem Pflegebedarf weisen auf anhaltende positive Effekte von Förderung und Zuwendung im Rahmen einer rehabilitativen Pflege bei Menschen mit ausgeprägter Vulnerabilität hin. Bei Menschen mit Demenz konnten bereits durch rehabilitative Pflege positive Effekte auf funktionelle und kognitive Fähigkeiten gezeigt werden [49]. Die hohe Prävalenz von Komplikationen ist ebenfalls als Ausdruck der hohen Vulnerabilität von Pflegeheimbewohnern anzusehen. Bei komplikationslosem Verlauf konnten Potenziale besser ausgeschöpft und bessere Ergebnisse unter der Therapie erreicht werden und bis zum dritten MZP gelang es in der Regel, das Ergebnis zu stabilisieren. Der Befund weist auf die Bedeutung der Prävention vermeidbarer Komplikationen, wie z. B. der Sturzprophylaxe, hin.

Ausblick

Die deutlich stärkere Integration von Präventions- und Rehabilitationsmaßnahmen (Letztere auch verstanden im Sinne der tertiären Prävention) in die Betreuungsangebote stationärer Langzeitpflegeeinrichtungen ist vor dem Hintergrund der hier berichteten Arbeiten als eine zentrale Versorgungsaufgabe zu werten. Die erhöhte Verletzlichkeit von Bewohnern darf nicht zu dem Fehlschluss nicht mehr gegebener Veränderungspotenziale führen. Zudem darf nicht der Fehler begangen werden, aufgrund der einseitigen Betonung von Verletzlichkeit die seelisch-geistigen Wachstumspotenziale zu übersehen, die Menschen in die Lage versetzen, auch bei starken gesundheitlichen und funktionellen Einbußen ihre Fähigkeiten zur Selbst- und Weltgestaltung zu bewahren. Die Umsetzung dieser Fähigkeiten profitiert von der stärkeren Integration der Präventions- und Rehabilitationsangebote nicht nur deswegen, weil prinzipiell vorhandene Plastizität genutzt wird, sondern auch deswegen, weil sich Bewohner in ihrer Würde geachtet, in ihrer Gesundheitskompetenz anerkannt und in ihrem Bedürfnis nach Selbstgestaltung ernst genommen fühlen.