1 Einleitung

1.1 Der Handel als ein zentraler Akteur der Wertschöpfungskette

Die Transformation zu einem nachhaltigen Konsum erfordert grundlegende gesellschaftspolitische Veränderungen, die in den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (engl. Sustainable Development Goals [SDGs]; UNRIC 2022) zum Ausdruck kommen (United Nations 2022). Auch die landwirtschaftliche Nutztierhaltung bedarf eines solchen Transformationsprozesses (Deutscher Bundestag 2022). Aufgrund einer anhaltenden Kritik seitens verschiedener Interessensgruppen (Christoph-Schulz et al. 2018) sollte die Transformation dabei die Bedürfnisse aller Stakeholder berücksichtigen. Der Transformationserfolg hängt somit entscheidend von der gesellschaftlichen Akzeptanz der zum Einsatz kommenden Maßnahmen ab (Ingold et al. 2019).

In diesem Zusammenhang ist für das Monitoring der Wahrnehmung und Akzeptanz der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung die Erfassung der Perspektive relevanter Akteure von großer Bedeutung. Oftmals bewegen sich etwaige Problemdiskussionen zwischen Landwirtinnen und Landwirten, Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie dem Handel (Christoph-Schulz et al. 2018). Die Perspektive des Handels ist hier unabdingbar, da dieser durch seine Produktlistung einen Einfluss auf die Kaufentscheidungen der Verbraucherinnen und Verbraucher am Point of Sale (PoS) hat (SVRV 2021). Oft nimmt der Lebensmitteleinzelhandel damit eine Schlüsselposition im Prozess der Nachhaltigkeitstransformation ein (Krampe et al. 2018). Vor diesem Hintergrund wird im vorliegenden Beitrag die Handelsperspektive fokussiert. Methodisch werden dazu die Ergebnisse einer fortlaufenden Expertenbefragung verwendet und vergleichend dargestellt.

2 Methodisches Vorgehen

Interviews zählen zu den gesprächsbasierten Erhebungsmethoden und können je nach Ausgestaltung des Leitfadens unterschiedlich stark strukturiert werden (Loosen 2016), ohne jedoch den interviewten Personen feststehende Antwortmöglichkeiten zu präsentieren (Scholl 2018). Es werden dabei Fragen gestellt, die frei und mit eigenen Worten zu beantworten sind (Scholl 2018). Die Interviews werden mittels Audioaufnahmen aufgezeichnet und anschließend transkribiert (Loosen 2016). Im Rahmen einer qualitativen Inhaltsanalyse werden die transkribierten Interviews ausgewertet, etwa indem die Aussagen einem Kategoriensystem zugeteilt werden (Mayring 2022).

Um einen möglichst umfassenden Einblick in die Perspektive des Lebensmitteleinzelhandels zu erhalten, sollte die Auswahl der interviewten Personen idealerweise einen Großteil des Lebensmitteleinzelhandels abdecken. Zu diesem Zweck wurden die zum Zeitpunkt der Interviews marktführenden Lebensmitteleinzelhändler recherchiert (Lebensmittel Praxis 2020). Im Ergebnis wurden durch die leitfadengestützten Interviews mit 4 Unternehmen in Deutschland fast 70 % des relevanten Marktes abgedeckt. Die leitfadengestützten Interviews wurden dabei in der ersten Befragungsrunde im Sommer 2020, also während der COVID-19-Pandemie, sowie in der zweiten Befragungsrunde im Frühling 2023, d. h. während des russischen Angriffskriegs in der Ukraine, mit insgesamt 9 Vertreterinnen und Vertretern der 4 führenden Lebensmitteleinzelhändler geführt.

Nach einer erfolgreichen Kontaktaufnahme und Einwilligungserklärung in das Interview wurden den Personen im Vorfeld zunächst die zentralen Themen und Hauptfragen des leitfadengestützten Interviews zugesendet. Dies diente zur Vorbereitung auf die Interviews, wobei die festgelegten Leitfragen lediglich eine Richtung des Interviews erahnen ließen. Zu Beginn des Interviews erfolgte eine Vorstellungsrunde, woraufhin die interviewten Personen erneut über die Struktur und den Verlauf des Interviews informiert wurden. Nachdem das Einverständnis hierzu eingeholt wurde, wurde die Audioaufnahme gestartet.

Die Struktur der Interviews orientierte sich an dem in der Managementliteratur etablierten PESTEL-Framework (Whittington et al. 2021). Dieses umfasst die wesentlichen Faktoren der Marktumwelt und bildet dadurch eine wichtige Grundlage für das strategische Marketing-Management (Whittington et al. 2021). Konkret berücksichtigt das PESTEL-Framework politische (political), wirtschaftliche (economic), soziokulturelle (social), technologische (technological), ökologisch-geografische (environmental) und rechtliche (legal) Einflussfaktoren (Whittington et al. 2021). Da die Interviews mit den Expertinnen und Experten dazu dienten, jeweils aktuelle Einflussfaktoren auf den Handel zu erfassen, wurden im Vorfeld keine weiteren inhaltlichen Kategorien innerhalb der PESTEL-Dimensionen gebildet oder aus der Literatur hergeleitet. Das Codesystem entstand somit explorativ und induktiv aus den Inhalten der Interviews.

Um zu ermitteln, welche Entwicklungen den Lebensmitteleinzelhandel allgemein beeinflussen, erfolgte jeweils pro Dimension zunächst eine Top-of-Mind-Abfrage. Diese wurde anschließend bezogen auf Warengruppen aus der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung konkretisiert. Dann folgten konkrete Fragen zu aktuellen Entwicklungen, wobei unabhängig vom Thema eine Nachfrage zu (langfristigen) Veränderungen aufgrund der COVID-19-Pandemie (1. und 2. Befragungsrunde) oder des Krieges in der Ukraine (2. Befragungsrunde) erfolgte.

Um den Informationsfluss zu erleichtern, wurden verschiedene kognitive Techniken (Lenzner et al. 2015) genutzt. So wurden unter anderem verschiedene Fragen zur Aufrechterhaltung des Gesprächs (General/Elaborative Probing) verwendet, wie z. B. „Können Sie mir hierüber etwas mehr erzählen?“ oder „Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?“. Am Ende der Befragung wurden die Interviewten über den weiteren Prozess aufgeklärt und offene Fragen beantwortet. Das Interview wurde mit einer Danksagung und einer Verabschiedung beendet.

3 Analyseprozess

Zur qualitativen Analyse der leitfadengestützten Interviews wurden zunächst die Audioaufnahmen transkribiert und korrekturgelesen. Die transkribierten Interviews wurden anonymisiert und von 3 Begutachtenden evaluiert sowie unabhängig voneinander codiert. Der 4-stufige Codierungsprozess umfasste dabei folgende Schritte:

  1. (1)

    Die transkribierten Interviews wurden zunächst mittels einer qualitativen Analysesoftware (MAXQDA 2020) explorativ von 3 Begutachtenden unabhängig voneinander kodiert. Im Zuge dessen wurden verschiedene Kategorien (Codes) induktiv aus den Inhalten der Interviews gebildet.

  2. (2)

    Es folgte ein ausführliches Gespräch zu den entstandenen Codes, wobei diese angeglichen und zusammengefasst wurden.

  3. (3)

    Nachdem das Codesystem geschaffen wurde, erfolgte eine weitere Codierung der Interviews mit nur noch 2 Begutachtenden. In diesem Zuge wurde auch die Intercoder-Reliabilität als zentrales Qualitätsmerkmal der qualitativen Inhaltsanalyse (Rädiker und Kuckartz 2019) überprüft und verbessert. Die Übereinstimmung lag in der 1. Befragungsrunde bei ca. 65 % (Tab. 1) sowie bei ca. 68 % in der 2. Befragungsrunde (Tab. 2). Die teils fehlenden Übereinstimmungen waren nicht inhaltlich, sondern z. B. auf Codierungsfehler zurückzuführen.

  4. (4)

    Nicht übereinstimmende Segmente wurden diskutiert und Codierungsfehler angepasst. Bei inhaltlich konfligierenden Passagen bestand die Möglichkeit, den 3. unabhängigen Begutachtenden hinzuzuziehen, wobei dies nicht erforderlich war. Nach der Anpassung lag die Intercoder-Übereinstimmung in beiden Befragungsrunden bei 100 % (Tab. 1 und 2).

Tab. 1 Intercoder-Übereinstimmung vor und nach der Anpassung des Codesystems – 1. Befragungsrunde
Tab. 2 Intercoder-Übereinstimmung vor und nach der Anpassung des Codesystems – 2. Befragungsrunde

4 Allgemeine inhaltliche Analyse

Der Struktur des PESTEL-Frameworks folgend konnten mit Hilfe der leitfadengestützten Interviews verschiedene Erkenntnisse gewonnen werden. Abb. 1 zeigt die prozentuale Verteilung der Codes in der ersten Befragungsrunde, unterteilt nach den 6 PESTEL-Dimensionen. Im Allgemeinen zeigte sich in der ersten Befragungsrunde, dass insbesondere soziokulturelle Einflussfaktoren (33 %), gefolgt von politischen und wirtschaftlichen Themen (jeweils 21 %) einen Einfluss auf den Lebensmitteleinzelhandel im Zusammenhang mit der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung haben. Rechtliche Einflussfaktoren, die häufig mit politischen Themen in einen Zusammenhang gebracht wurden, haben einen inhaltlichen Anteil in Höhe von 18 %, gefolgt von ökologisch-geografischen Einflussfaktoren (13 %). Am seltensten wurden technologische Einflussfaktoren (11 %) angesprochen.

Abb. 1
figure 1

Inhaltliche Verteilung der PESTEL-Dimensionen in Prozent – 1. Befragungsrunde. Angaben in %. Abweichungen von 100 % sind durch Mehrfachzuordnungen einzelner Aussagen möglich

Ergänzend hierzu zeigt Tab. 3 die prozentuale Verteilung der Codes in der ersten Befragungsrunde, unterteilt nach den 6 PESTEL-Dimensionen, jedoch weiterführend differenziert nach den einzelnen Lebensmitteleinzelhändlern. Hier zeigen sich weitere Unterschiede bei den inhaltlichen Schwerpunkten der Lebensmitteleinzelhändler: Während wirtschaftliche und technologische Einflussfaktoren insbesondere vom Händler #4 fokussiert wurden, sprach insbesondere Händler #3 ökologisch-geografische und rechtliche Einflussfaktoren an. Dahingegen wurden politische Einflussfaktoren am häufigsten von Händler #1 angesprochen und soziokulturelle Einflussfaktoren von Händler #2. Betrachtet man die Verteilung der Dimensionen über die Händler hinweg, spiegelt sich erneut einheitlich der inhaltliche Schwerpunkt auf der soziokulturellen Dimension wider.

Tab. 3 Inhaltliche Verteilung der PESTEL-Dimensionen nach Händlern in Prozent – 1. Befragungsrunde

Dahingegen zeigte eine erste allgemeine Analyse der 2. Befragungsrunde, dass im Jahr 2023 insbesondere politische Einflussfaktoren (35 %), gefolgt von inhaltlich eng zusammenhängenden rechtlichen (28 %) sowie soziokulturellen Themen (27 %), einen Einfluss auf den Lebensmitteleinzelhandel im Zusammenhang mit der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung hatten. Wirtschaftliche Einflussfaktoren hatten einen inhaltlichen Anteil in Höhe von 24 %, gefolgt von technologischen Einflussfaktoren mit 18 %. Am seltensten wurden ökologisch-geografische Einflussfaktoren (12 %) in den Interviews thematisiert, wobei der prozentuelle Anteil hier ähnlich zur ersten Befragungsrunde ist. Abb. 2 zeigt die prozentuale Verteilung der Codes, unterteilt nach den sechs PESTEL-Dimensionen.

Abb. 2
figure 2

Inhaltliche Verteilung der PESTEL-Dimensionen in Prozent – zweite Befragungsrunde. Angaben in % Abweichungen von 100 % sind durch Mehrfachzuordnungen einzelner Aussagen möglich

In Tab. 4 ist die prozentuale Verteilung der Codes in der zweiten Befragungsrunde, unterteilt nach den 6 PESTEL-Dimensionen und differenziert nach den einzelnen Lebensmitteleinzelhändlern, dargestellt. Auch hier zeigen sich Unterschiede bei den inhaltlichen Schwerpunkten der jeweiligen Lebensmitteleinzelhändler: Die politischen Einflussfaktoren wurden insbesondere durch die Händler #1 und #4 thematisiert. Während weitere Schwerpunkte bei Händler #1 in den technologischen sowie ökologisch-geografischen Einflussfaktoren lagen, wurden wirtschaftliche Einflussfaktoren besonders häufig durch Händler #4 angesprochen. Dahingegen wurden rechtliche Einflussfaktoren am häufigsten von Händler #3 genannt und soziokulturelle Einflussfaktoren, wie auch bereits in der ersten Befragungsrunde, von Händler #2. Im Gegensatz zur ersten Befragungsrunde zeigt sich hier somit über alle Händler hinweg kein einheitlicher Schwerpunkt in einer einzigen Dimension.

Tab. 4 Inhaltliche Verteilung der PESTEL-Dimensionen nach Händlern in % – 2. Befragungsrunde

5 Inhaltliche Analyse nach Dimensionen

5.1 Politische Einflussfaktoren

5.1.1 Erste Befragungsrunde

In den Diskussionen über politische Einflussfaktoren hatten die Interviewten aus dem Lebensmitteleinzelhandel in der ersten Befragungsrunde die aktuellen politischen Diskussionen und Projekte im Blick. Sie nahmen die Politik dabei als relevanten Akteur der Marktentwicklung wahr und betonten deren Bedeutung. Explizit wurden die Ergebnisse der so genannten „Borchert-Kommission“Footnote 1 als bedeutsam erachtet. Im Zusammenhang mit den Vorschlägen der Kommission wurden vor allem die mit den darin genannten Optionen verbundenen Konsequenzen für Verbraucherinnen und Verbraucher diskutiert:

Also grundsätzlich begrüßen wir schon die Geschichte, die von der Borchert-Kommission aus der Politik gekommen ist. Das einmal jetzt in der Diskussion der Ministerin zu verankern und die Kritik macht da natürlich hochgradig Sinn.“ (Händler #4)

Wir haben in der Tat noch gar keine interne Position dazu, was wir jetzt eigentlich besser finden. Ob wir [eine] Tierwohlabgabe über die Mehrwertsteuer hinweg bevorzugen, da sind wir gerade an der Positionsfindung. Es geht glaube ich vielen anderen Händlern auch so. (…) Ich glaube schon, dass das eigentlich für unsere Kunden nur funktionieren kann, wenn es da sozialpolitische Flankierungen gibt, wie es ja auch empfohlen wurde von der Borchert-Kommission. (…) 40 Cent pro Kilogramm Fleisch, das ist schon eine Hausnummer, muss man ganz deutlich sagen. Oder auch 15 Cent pro Kilogramm Käse. Was dabei wichtig ist, sind eigentlich zwei Punkte: zum einen, egal wie die Abgabe erhoben wird, es muss für alle im Markt gleich sein, dass wir da auch gleiche Wettbewerbsvoraussetzungen haben zwischen den Händlern. Aber zum Beispiel auch mit anderen Zweigen wie der Gastronomie, Systemgastronomie, Großküchen, Kantinen, also eigentlich alle, die irgendwo Fleisch veräußern oder auch Milch und Käse und Eier, müssen damit einbezogen sein. Es kann nicht sein, dass immer nur der Handel in der Pflicht steht und, ich sage mal, belangt wird. Das muss von allen getragen werden.“ (Händler #1)

Zudem wurden die Einführung des staatlichen Tierwohllabels, das (zu diesem Zeitpunkt noch nicht umgesetzte) Verbot der Ferkelkastration ab dem Jahr 2021 sowie der freiwillige Verzicht auf das Kükentöten in den Lieferketten als relevante Einflussfaktoren genannt:

Also uns beeinflusst einmal die Entwicklung des staatlichen Tierwohllabels. Aber das beeinflusst an der Stelle uns gar nicht so hinsichtlich dessen, dass wir jetzt Kriterien, die wir intern festlegen, in irgendeiner Art und Weise darauf ausrichten (…), sondern eher wirklich eine Diskussion, die wir natürlich sehr nah mitverfolgen, die uns vom Grundsatz her natürlich schon beschäftigt. Je nachdem wie das gelagert ist, [hat dies] natürlich auch nicht ganz unerhebliche finanzielle Auswirkungen, zumindest nach unserer Meinung, auf unser Unternehmen.“ (Händler #3)

Die Ferkelkastration (…), die ja regelmäßig verschoben wurde und die ab dem nächsten Jahr in Kraft treten soll, (…) war auf jeden Fall eine Entwicklung, die uns als Handel auch dazu bewogen hat, dem vorwegzugreifen und da schon eher voranzugehen im Frischfleischbereich.“ (Händler #1)

Da ist es ja so, dass wir davon ausgehen müssen und auch können, dass das Kükentöten beziehungsweise die kükentötenfreie Lieferkette, entsprechend gesetzlich verankert wird. (…) Und deswegen haben wir uns auch nicht erst jetzt damit beschäftigt, das ist schon zwei, drei Jahre her, dass wir angefangen haben uns ein bisschen intensiver mit dieser Thematik auseinander zu setzen. Das hat natürlich auch dazu geführt, dass wir heute in einer Situation sind, wo wir glauben, dass wir kükentötenfreie Lieferketten entsprechend auch sukzessive zeitnah umsetzen können, um (…) der Gesetzesvorlage Rechnung zu tragen.“ (Händler #3)

Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurden nicht zuletzt auch die im Sommer 2020 in der Öffentlichkeit diskutieren und kritisierten Werkverträge der fleischverarbeitenden Industrie erwähnt:

Ich denke dieses Commitment der Fleischwirtschaft, die sich (…) fast durchweg dazu bekannt [hat], die Werksverträge auszuschließen – das wird zu Beginn des nächsten Jahres auf jeden Fall große Auswirkungen haben auf uns alle. (…) Ich bin gespannt, wie die Schlachtunternehmen damit [zukünftig] umgehen werden (…), wenn die keine Werkverträge mehr machen dürfen. (…) Das ist glaube ich für die Branche eine ziemliche Herausforderung. Auf jeden Fall.“ (Händler #1)

5.1.2 Zweite Befragungsrunde

Viele Punkte aus der ersten Befragungsrunde wurden in der 2. erneut aufgegriffen. Insbesondere die Ergebnisse der Borchert-Kommission wurden erneut stark befürwortet:

„(…) die Kommission hatte tolle Vorschläge, die waren sehr breit akzeptiert. Also ja, auch in der Landwirtschaft, kann man ja sagen, hatten sie eine sehr hohe Akzeptanz. Und, dass es einfach alles komplett über den Haufen geworfen wurde, ist eine Schande, muss man wirklich sagen. Also das ist extrem schade, dass man das alles einfach komplett verworfen hat.“ (Händler #1)

Ja, eine riesengesellschaftliche Chance, die wahrscheinlich politisch vertan ist. Also das wird, glaube ich, nicht mehr in diesem Maße wiederbelebt, wie wir es uns alle gewünscht hätten. Das zeigt mal wieder, dass eben politische Praxis und das, was sachlich richtig ist, nicht immer zueinander passen. Von daher ist das jetzt tatsächlich in den Hintergrund gerückt.“ (Händler #2)

Dahingegen wurde die geplante Umsetzung des staatlichen Tierwohllabels, welche auch in der ersten Befragungsrunde thematisiert wurde und sich seitdem weiter konkretisiert hat, eher kritisch hinterfragt:

Jetzt wissen wir, dass es höchstwahrscheinlich kommen wird, (…) [in einer] Ausgestaltung, die wir aktuell noch sehr unvorteilhaft finden. Wenn Sie die Medien verfolgen, dann werden Sie auch merken, dass es eigentlich so gut wie gar keine Fürsprecher gibt für dieses Kennzeichen. Also sowohl in der Branche als auch bei anderen Parteien wird das nicht sehr positiv gesehen, um es nett zu sagen.“ (Händler #1)

Es ist unabdingbar, dass das ausgeweitet wird auf alle Orte, an denen ich tierische Erzeugnisse konsumieren kann, um dann überhaupt einen Mehrwert zu entfalten. Die Haltungsformkennzeichnung ist gelernt von den Verbrauchern und die ist im Markt etabliert. Eine staatliche Kennzeichnung nur für den Handel bringt erstmal überhaupt keinen Mehrwert. Und Mehrwert wird erst daraus, wenn sie eben ausgeweitet wird auf andere Branchen. Und das gilt für gesundheitliche Kennzeichnungen, die ernährungsphysiologische Mehrwerte ausdrücken. Das gilt aber auch – aus unserer Sicht – für Nachhaltigkeitskennzeichnungen in welcher Art auch immer.“ (Händler #2)

Als weitere politische Entwicklungen, die den Lebensmitteleinzelhandel im Jahr 2023 beeinflussen, wurden unter anderem das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, die EU-Entwaldungsverordnung sowie die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung genannt. Diese neuen Entwicklungen wurden dabei zumeist als herausfordernd, jedoch auch positiv wahrgenommen:

Gerade ein Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz oder auch eine EU-Entwaldungsverordnung (…) greifen sehr ambitioniert an. Und die sind vielleicht gegebenenfalls sogar über dem, was wir vorher als Selbstverpflichtung oder eigene Strategien, eigene Zielsetzung, sozusagen, formuliert hatten. Und dementsprechend müssen wir (…) uns auch da ein bisschen neu kalibrieren: (…) Wollen wir denn da immer noch auch zukünftig eine Schippe draufsetzten und eigentlich über dem Gesetz agieren? Oder geht es uns eher dann in erster Linie darum, wie können wir überhaupt diese anspruchsvollen Gesetze umsetzen? (…) Das ist sicherlich ein Findungsprozess, der für uns eine Aufgabe darstellt. Aber grundsätzlich ist es sicherlich wünschenswert.“ (Händler #3)

5.2 Wirtschaftliche Einflussfaktoren

5.2.1 Erste Befragungsrunde

In der 1. Befragungsrunde wurde erwartungsgemäß die Entwicklung der Marktpreise als wichtigster Einflussfaktor auf den Lebensmitteleinzelhandel und die Verbraucherinnen und Verbraucher genannt. Aus Sicht der Interviewten ist damit eine starke Preissensibilität für tierische Produkte bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern verbunden. Als potenzieller Zielkonflikt wird dabei der Wunsch nach niedrigen Preisen, einerseits, sowie die Forderung der Gesellschaft nach qualitativ hochwertigen Produktionsbedingungen, andererseits, betrachtet:

Dann sind wir der Meinung, dass das an der Stelle eben massenmarktfähig nicht umzusetzen ist. Das heißt, wir glauben nicht, dass man einen entsprechenden Mehrpreis in der Masse dem Kunden momentan anbieten kann. (…) Da gehen wir auch davon aus, dass (…) mit all dem, was wir so die letzten dreieinhalb, vier Monate erleben durften, (…) auch dieses Thema nicht gerade dazu beiträgt, dass es weniger Preissensibilität gibt. Ganz im Gegenteil, es wird unserer Meinung nach eher zu einer verstärkten Sensibilität der Verbraucher kommen, weil wir aufgrund von Kurzarbeit oder auch Verlust des Jobs oder auch entsprechender Insolvenzen gerade von kleinen, mittelständigen Betrieben schon sehen, dass es eher in eine Richtung geht: erhöhte Preissensibilität (…). Und das ist natürlich in der Gemengelage ein Faktor, der für uns wirtschaftlich nicht ganz unbedeutend ist.“ (Händler #3)

Dabei wird die Preisgestaltung von tierischen Produkten aus Sicht der Interviewten auch und insbesondere durch die starke Exportorientierung in Deutschland beeinflusst:

Afrikanische Schweinepest in China zeigt das eigentlich par excellence. Wenn die Nachfrage im Export steigt und stark steigt, dann gehen die Schweinepreise nach oben und der Lebensmittelhandel reagiert dann in seiner anstehenden Preisverhandlung auf diese Preisentwicklung und zahlt eben entweder mehr oder weniger, je nach Marktsituation. Wobei, (...) das eine ist der Rohstoff, das andere ist Angebot und Nachfrage. Und die Kapazitätssituation. Also es ist immer eine Mischung, die dann den Preis bildet.“ (Händler #2)

Es fehle in der Gesellschaft darüber hinaus ein gesamtheitliches Verständnis für die Preisbildungsmechanismen in den zunehmend komplexen Lieferketten. Als primärer Kundenkontaktpunkt innerhalb der Lieferkette findet sich Lebensmittelhandel oftmals in einer ihm zugeschriebenen Position der Alleinverantwortung für die Preisbildung wieder:

„Ich glaube, die fundamentale Kritik ist, dass bei diesen Argumentationen oft die wirtschaftlichen Zusammenhänge als Ganzes nicht berücksichtigt werden. Das gilt genauso dann, wenn ein Shitstorm losbricht, weil (…) Hähnchenschenkel für 30 Cent oder 50 Cent (…) im Angebot [sind], was dann gleich wiederum mit Dumping und mangelnder Wertschätzung für Tierprodukte gleichgesetzt wird. (…) Das hat [aber] nichts damit zu tun, dass dort die Kreatur des Hähnchens nicht wertgeschätzt wird, sondern das sind einfach wirtschaftliche Zusammenhänge, die nicht gesehen werden, sondern wo einzelne Aspekte rausgegriffen werden.“ (Händler #4)

Aber das  (...) Grundproblem [ist] eigentlich, das Dilemma in dem die Landwirte und auch die Schlachter stehen, dass sie für einen immer größer werdenden Anteil ihres Umsatzes und ihres Absatzes immer weniger Anforderungen haben und sich in der Gesellschaft bewegen, die aber gleichzeitig höhere Anforderungen stellt und das untergräbt das Geschäftsmodell. Wir als Handelsunternehmen, sage ich immer, uns kann es im Grunde egal sein, ob wir jetzt Paprika, Schweinefleisch oder Pasta verkaufen. Uns geht es am Ende darum, dass wir natürlich den Umsatz machen wollen und dass wir Ressourcen (…) und Infrastruktur geschaffen haben und die ausgelastet wissen wollen. Aber wir sind natürlich im Fokus, weil bei uns möglicherweise auch neben den Schlachtunternehmen ein gewisser Flaschenhals ist und diese Unternehmen natürlich stark greifbar sind, gerade in Deutschland.“ (Händler #2)

5.2.2 Zweite Befragungsrunde

In der 2. Befragungsrunde wurden verschiedene Krisen sowie die daraus resultierende Inflation thematisiert, wodurch eine noch höhere Preissensibilität, Abwanderung zu günstigeren, konventionellen Produkten sowie eine grundsätzliche Kaufzurückhaltung beobachtet werden kann:

Eine der Hauptauswirkungen, die wir auf jeden Fall haben, ist eine gestiegene Inflation. Und damit eine Unsicherheit bei den Verbrauchern, was die Kaufkraft anbetrifft. Jeder versucht zu sparen, ich glaube auch, dass die Sparquote gestiegen ist in den letzten Monaten in Deutschland. Und dadurch gibt es eine gewisse Kaufzurückhaltung. (…) Und das sehen wir [insbesondere] bei Produkten mit einem Mehrwert, zum Beispiel mit Tierwohl, die einfach teurer sind. Da sehen wir schon eine deutliche Kaufzurückhaltung und dass wieder vermehrt der Preiseinstieg attraktiv ist.“ (Händler #4)

Der Lebensmitteleinzelhandel sieht sich weiterhin in einer ihm zugeschriebenen Alleinverantwortung für die Preisbildung. Dabei spiele die starke Exportorientierung in Deutschland nach wie vor eine wichtige Rolle bei der Preisgestaltung von tierischen Produkten:

Der Handel (…) ist an allem schuld. Das hat viele Gründe. (…) Dadurch, dass es keine Strategie gibt in Deutschland, streiten sich natürlich grundsätzlich die unterschiedlichsten Stakeholder. (…) Landwirtschaft und Veredelungsindustrie stehen sich relativ nah, sie haben direkte Geschäftsbeziehungen und zeigen dann immer schnell auf den Handel. Der Handel muss es lösen. Die NGOs, die wenden sich nicht an die Landwirtschaft und demonstrieren dort, sondern sie demonstrieren beim Lebensmitteleinzelhandel. Das heißt dieses Finger Pointing ist ganz klar immer auf den Lebensmitteleinzelhandel gerichtet.“ (Händler #4)

Der deutsche Handel ist für 100 % der Probleme verantwortlich in der öffentlichen Wahrnehmung, aber steht nur für 30 % der Absatzmenge. Und viele Geschäftspartner haben ihr Geschäftsmodell darauf ausgelegt, dass sie eben auch nur dann erfolgreich wirtschaften können, wenn sie eben ein funktionierendes Exportgeschäft haben. Und deswegen sind da die Interessen auch einfach unterschiedlich. Während der deutsche Handel vielleicht schon schrittweise bereit ist auch Nachhaltigkeitsstandards [weiter] anzuheben, ist klar, dass für diesen Mehrwert im Ausland im Export nicht die Erlöse generiert werden können, die die Mehrkosten auffangen. Sodass die Umstellung in Deutschland die kompletten Kosten kompensieren muss und die Gefahr relativ groß ist, dass (…) jemand plötzlich relativ attraktiv auf dem Markt auftreten kann, indem er konventionelle (…) Produkte vermarktet, die dann zu einem großen Preisunterschied angeboten werden können im Vergleich zu der Ware, die (…) nachhaltiger ist. Das ist eine Gefahr und die ist jetzt sicherlich in der aktuellen Situation umso größer.“ (Händler #2)

Vor dem Hintergrund der starken Exportorientierung betonten die Lebensmittelhändler dabei häufig die Wichtigkeit von resilienten Lieferketten. Als Konsequenz sieht sich der Lebensmittelhandel zudem mit der Notwendigkeit einer höheren Lieferkettentransparenz konfrontiert:

Was wir ja schon gemerkt haben, sowohl bei Corona als auch bei der Ukraine, ist das ganze Thema Lieferkettensicherheit. Das ist da schon sehr präsent. Wir hatten gerade im Futtermittelbereich plötzlich Engpässe, weil die Ukraine keine Ausfuhren hatte. Wir hatten bei Corona welche, weil China teilweise komplett lahmlag. (…) Und da haben wir schon gemerkt, dass wir doch sehr abhängig sind vom Ausland (…) [und] den Importen natürlich.“ (Händler #1)

Insofern sind wir im Moment intensiv damit beschäftigt zu überlegen, wie können wir eigentlich in einem volatilen Umfeld langfristig resiliente Lieferketten gewährleisten? Was sich unter anderem auch wahrscheinlich da widerspiegeln wird, dass man in vielerlei Hinsicht andere Vertragsgestaltungen im Prinzip haben wird. Ich würde jetzt mal vermuten, das wird sich auch auf die Nutztierhaltung auswirken, aber eben nicht nur. Das ist ein grundsätzliches Lieferketten-Thema.“ (Händler #3)

Dieses Thema resiliente Lieferketten: Da wird es dann auch darum gehen, (…) Lieferketten zu verkürzen, die Transparenz über die Lieferketten mehr und mehr zu bekommen, um auch Risiken besser einschätzen (…) und besser beherrschen zu können. (…) Je tiefer man in die Lieferkette geht, desto schwieriger wird es diese Transparenz zu bekommen.“ (Händler #2)

5.3 Soziokulturelle Einflussfaktoren

5.3.1 Erste Befragungsrunde

Im Allgemeinen wurden in der 1. Befragungsrunde die soziokulturellen Einflussfaktoren, insbesondere in Form einer Veränderung des Konsums, als die bedeutendsten Einflussfaktoren auf die Entwicklung des Lebensmitteleinzelhandels gewertet. Dabei nimmt aus Sicht des Handels die Präferenz für regionale, biologische, tierfreundlichere Produkte zu. Zudem wird ein Rückgang des Konsums von tierischen Produkten sowie teilweise ein Wechsel zu pflanzlichen Proteinen beobachtet:

Was wir letztendlich auch sehen und das (…) ist ein Trend, den man länger sieht. Aber auch da muss man sagen, das wurde durch das ganze Thema Corona nochmal verstärkt, das ist das ganze Thema der Regionalität. (…) Aber die Regionalität, gerade auch in der Kundenwahrnehmung, zumindest so wie wir es erfahren, wird eben sehr, sehr häufig gleichgesetzt mit dem Thema Nachhaltigkeit. Und insofern ist es schon so, dass wir auch von unserer Seite aus (…) sehr stark schauen, wie wir auch regionales Sortiment ausbauen können und wie wir auch die Transparenz der Regionalität gegenüber dem Kunden entsprechend gewährleisten. (…) Daneben gibt es sicherlich auch noch einen langfristigen Trend und das sieht man ja am Ernährungsreport auch und das können wir letztendlich auch feststellen, dass gerade auch pflanzliche Alternativen immer relevanter werden. (…) Also wir sehen schon (…), dass der Fleischkonsum von einem sehr, sehr hohen Niveau weniger wird und dass der Konsum pflanzlicher Produkte von einem relativ niedrigen Niveau eben auch sehr stark wächst.“ (Händler #3)

Die Konsummuster unterscheiden sich dabei zwischen verschiedenen Kundengruppen: Insbesondere wurden Unterschiede hinsichtlich des Alters (d. h. zwischen älterer und jüngerer Kundschaft) sowie dem Qualitätsanspruch (durchschnittlich vs. Premium-Kundschaft) wahrgenommen:

Also das ist in der Tat so, dass unsere ältere Kundschaft natürlich weiterhin Fleisch konsumieren will und da ist die Haltung so ziemlich egal. Aber die jungen Kunden sind schon da interessiert: Habt ihr veganen Joghurt, habt ihr veganen Käse, habt ihr veganen Burger? Also da ist deutlich das Interesse vorhanden, auf jeden Fall. Das sind auch die, die die Medien nachher angucken, die Social Media Stories von irgendwelchen NGOs und Facebook (...). Das erwarten unsere älteren Kunden gar nicht in dem Sinne.“ (Händler #1)

Ebenso haben verschiedene Kommunikationselemente aus Sicht der Interviewten jeweils unterschiedliche Auswirkungen auf den Konsum: So reagieren Verbraucherinnen und Verbraucher sensibel auf gesundheitsbezogene Aussagen in der Kommunikation und passen ihren Konsum entsprechend unmittelbar an. Dementgegen führen Tierschutzskandale zwar zu einem langsam steigenden Bewusstsein für Tierwohl, jedoch nicht zu unmittelbarem Konsumverzicht:

Meine Erfahrung ist, dass der Verbraucher immer dann sensibel reagiert, sodass es sich auch im Absatz durchschlägt, wenn es um es seine persönliche Gesundheit geht. Diese Diskussionen um Arbeitsbedingungen und Tierwohl, die führen zwar zu einer schleichenden Entwicklung, aber die führen nicht unmittelbar zu Konsumverzicht.“ (Händler #2)

Die sinkende gesellschaftliche Akzeptanz der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung wird schließlich insbesondere auf die Entfremdung und damit verbundene abstrakte Vorstellung über die landwirtschaftliche Nutztierhaltung sowie die Suche nach einfachen Antworten in diesem Zusammenhang zurückgeführt.

Es gibt eine Entfremdung von der Landwirtschaft, dadurch ist der Schrecken umso größer und es wird mehr Tierwohl eingefordert, weil man (…) mit der Realität konfrontiert ist, die [man] so nicht kennt. Wenn ich mit älteren Personen aus meinem Umfeld spreche, die die Landwirtschaft von früher kennen und die von jetzt kennen, die sagen, dass die jetzige in der Regel besser ist, weil der Umgang mit Tieren auf dem Schlachthof oder auch auf dem landwirtschaftlichen Betrieb zum Teil noch gröber war in der Vergangenheit.“ (Händler #2)

5.3.2 Zweite Befragungsrunde

Vor dem Hintergrund verschiedener Krisen – insbesondere dem Krieg in der Ukraine und der damit verbundenen Inflation – wurde in der zweiten Befragungsrunde eine Veränderung des Konsums in Form einer starken Preissensibilität wahrgenommen:

„Dann jetzt genau das Gegenteil im Grunde: Fokus auf Eigenmarken, Preiseinstiegsprodukte. (…) Das stellt uns auch vor eine große Herausforderung – alle gemeinsam im Handel. (…) Wir sehen zwar, dass (…) die Eigenmarken grundsätzlich noch profitieren, aber in Summe natürlich die Mehrzahlungsbereitschaft einfach signifikant zurückgeht. (…) Da verschiebt sich wieder der Trend hin zum Preiseinstieg und das spüren wir auch. Und das macht es (…) schwieriger solche Nachhaltigkeitskonzepte dauerhaft im Sortiment zu verankern.“ (Händler #2)

Nichtsdestotrotz oder gerade aufgrund der teilweise gestiegenen Preise bei tierischen Produkten wird weiterhin eine Zunahme an pflanzlicher Ernährung als soziokultureller Einflussfaktor wahrgenommen, was sich auch in den Sortimenten der Händler widerspiegelt:

Das zweite ist natürlich das ganze Thema pflanzenbetonte Ernährung, wo eben einfach auch Fleischersatzprodukte immer stärker nachgefragt werden. (…) Aus der Motivation heraus, das ist für sie selbst das Beste und nicht unbedingt aus der Motivation heraus „ich will den Planeten retten“, sondern was ist gesünder für mich? Und ganz nebenbei rette ich auch noch den Planeten oder trage dazu bei, innerhalb der planetaren Grenzen, mich auch zu ernähren. Das, glaube ich, wird weiterwachsen und ein sehr relevantes Thema (…) für alle [bleiben].“ (Händler #2)

Sondern wir sehen natürlich auch, dass sich das Kaufverhalten per se verändert. Also, vegane Ernährung hat ja deutlich mehr Platz in den Regalen erhalten. (…) Ich würde es jetzt immer noch als Trend bezeichnen, aber wahrscheinlich ist das schon mehr als nur ein Trend oder es ist ein Mega-Trend. Dass wir perspektivisch weniger Fleisch konsumieren und immer mehr zu pflanzlichen Produkten greifen werden, danach richten sich auch ganz, ganz stark die Sortimente aus. Danach richten sich auch im Prinzip Unternehmen aus, auch wir im Sinne von: Wo lohnt es sich, auch von unserer Seite aus in zukünftige Technologien beispielsweise auch zu investieren?“ (Händler #3)

Die Kommunikation von Nachhaltigkeitsthemen gestaltet sich aufgrund der Komplexität der verschiedenen Aspekte dabei jedoch nach wie vor als schwierig:

„Es [ist] weiterhin ein Problem, dass gewisse Themen einfach sehr komplex sind, dass man das den Kunden schlecht vermitteln kann. (…) Entwaldung, Soja, Gentechnikfreiheit – (…) das irgendwie meinen Kunden mit einem flotten Satz zu erklären, das geht einfach nicht. Es geht schon los mit: Woher kommt das Soja? Warum brauchen wir Soja? Und warum kommt es aus Amerika? (…) Was wir schon merken ist, dass Neuigkeiten – das können jetzt auch Skandale sein – die haben eine viel kürzere Wirkzeit. (…) Und das ist natürlich Fluch und Segen gleichermaßen. Also es ist ein Segen, wenn man einen Skandal hat in der Tat. Aber man hat einen Fluch, wenn man Themen nach vorne bringen möchte und auch erklären möchte, weil die Sache zu schnell weg ist.“ (Händler #1)

Nachhaltigkeit ist (…) komplex. (…) Das Problem bei der Kommunikation ist ja immer, dass Sie letztendlich etwas pauschalisieren oder vereinfachen müssen und dadurch (…) eine pauschale Aussage im Kern oder in der Größenordnung dessen, wie sie getroffen wird, natürlich durchaus auch zu Kritik Anlass gibt. Gerade bei denen, die sich dann richtig gut auskennen. Ich glaube, das richtige Rezept hat da noch niemand gefunden.“ (Händler #3)

„[Als] Problem sehe ich hier einfach, dass es hier ja auch keine Kategorisierung gibt. Ein CO2-Fußabdruck – ab wann ist dieser gut, ab wann ist dieser schlecht? Also diese Differenzierung und diese belastbare Kommunikation, die gibt es dort einfach nicht. Wenn ich dem Konsumenten eine Zahl entgegenwerfe – Rindfleisch verursacht 333 kg CO2 – kann er nichts damit anfangen, weil ihm auch der Vergleich fehlt. Also (…) da müssen wir noch ran, da haben wir noch ein paar Hausaufgaben zu tun.“ (Händler #4)

5.4 Technologische Einflussfaktoren

5.4.1 Erste Befragungsrunde

Der Lebensmitteleinzelhandel wird bei den technologischen Einflussfaktoren vor allem durch die veränderten Konsummuster der Verbraucherinnen und Verbraucher beeinflusst. So werden als Reaktion auf die wachsende Nachfrage nach Proteinalternativen im Lebensmitteleinzelhandel verschiedene technologische Möglichkeiten zur Erzeugung von Ersatzprodukten durch Lebensmittelhersteller umgesetzt. Die Ersatzprodukte beinhalten Innovationen wie beispielsweise In-Vitro-Fleisch oder Fleischalternativen:

Wenn wir über pflanzenbasierte Ernährung sprechen, dann hat das ja im Prinzip auch natürlich etwas damit zu tun, wie sind die Produkte so ausgestattet, dass sie letztendlich auch (…) [bei] eine[r] große[n] Kundschaft ankommen? Und dafür brauche ich auch Technik oder beziehungsweise Produktionsmöglichkeiten, die es mir ermöglichen eine relativ große Kundengruppe zu erreichen. Das ist ganz sicher so, dass es hier in den letzten (…) zwei Jahre[n] ganz, ganz große Fortschritte gab.“ (Händler #3)

Das Thema Fleischersatz ist definitiv ein Thema, weil die Technologie, die sich da entwickelt, immer besser wird. Zumindest, wenn Sie über Hähnchenprodukte sprechen oder über Hackfleischersatzprodukte, noch nicht bei gewachsenem Fleisch. (…) Und wenn man sich jetzt die vergangenen Wochen und Monate anschaut, dann sieht man ja schon, wie diese Produkte jetzt nach und nach in die Regale der Händler einfließen.(...) Ich glaube diese Entwicklung ist fortschreitend, (…) die mit [einer] Verbesserung der Rezepturen einhergeht (…) und auch der verfügbaren Mengen im Markt.“ (Händler #4)

Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurden sowohl der Online-Lebensmittelhandel als auch kontaktlose Zahlungssysteme im stationären Lebensmitteleinzelhandel als wesentlich erachtet:

Also wir haben natürlich einen Trend gesehen zum Thema Digitalisierung. In dem Sinne, dass die Bezahlung unbar, am besten auch kontaktfrei stattfand. (…) Das Thema mobile Bezahlung hat sehr, sehr gut funktioniert. (…) Was wir natürlich nicht vergessen dürfen, ist, dass der Online-Handel mit Lebensmitteln einen Nachfrageschub bekommen hat. Denn natürlich haben viele Kunden dann versucht den Einkauf ganz zu vermeiden, um sich keinem Risiko auszusetzen und online zu bestellen. Was aber die bestehenden Kapazitäten im Online-Lebensmittelhandel dann auch deutlich überfordert hat. Das ist ja immer noch ein sehr, sehr kleiner Bereich, der aber zumindest jetzt temporär einen Wachstumsschub durch Corona erfahren hat.“ (Händler #4)

5.4.2 Zweite Befragungsrunde

Die Veränderung des Konsums hin zu pflanzlichen Proteinen wurde als technologischer Einflussfaktor in der 2. Befragungsrunde unter anderem auf die deutliche Verbesserung von Fleischalternativen zurückgeführt:

Bei dem Thema In-Vitro-Fleisch gehen so ein bisschen die Meinungen ein stückweit auseinander. Also im Sinne von: Wie viel Bedeutung wird In-Vitro-Fleisch denn wirklich irgendwann mal in Deutschland bekommen? (…) Es [gibt] viele, die sich mit dem Thema pflanzliche Ernährung ganz gut auskennen, die sagen: Naja, wenn wir im Prinzip sehen, wo wir heute stehen beim Thema pflanzliche Ernährung, (…) stellt man sich die Frage: Brauchen wir dann eigentlich noch In-Vitro-Fleisch? Oder sind die pflanzlichen Alternativen nicht so gut, auch hinsichtlich „Fleisch imitieren“, dass man das eventuell sehr, sehr viel günstiger machen kann und nicht mehr benötigt?“ (Händler #3)

Ich muss auch sagen, die Produkte sind auch immer besser geworden (…). Das muss man ganz klar eingestehen. (…) Geschmacklich und qualitativ, als sie vor ein, zwei Jahren waren. Sie haben ihre Daseinsberechtigung, aber im Moment sind sie da, wo Bio-Fleisch vor zehn Jahren war. Also schon noch in der Nische.“ (Händler #4)

Weiterhin wurde in dieser PESTEL-Dimension die Digitalisierung der Einkaufsstätte als eine weitere wichtige Entwicklung thematisiert. Insbesondere wurde dabei die Entwicklung von digitalen Zahlungssystemen angesprochen, die zum Teil auf den Fachkräftemangel zurückzuführen sei:

Das ist natürlich ein Riesenthema für den Handel, gerade in Zeiten des Fachkräftemangels, dass wir da möglichst viele technische Lösungen einfach haben. (…) Überall gibt es mittlerweile Self-Scanning-Kassen, die ja auch immer besser werden, die den Warenkorb vorher wiegen und dann möglichst jeden Artikel grammgenau verarbeiten. (…) Weil [wir] auch da[mit] den Fachkräftemangel irgendwo durch solche Optimierungen eindämmen können.“ (Händler #1)

Ich glaube, die Digitalisierung, die wird im Handel weiter voranschreiten, auch vor allem getrieben durch den Fachkräftemangel – das ist auch (…) [in] den Kassensystemen, (…) aber auch in den Lagern sicherlich ein wichtiges Thema. Auch die Automatisierung vor allen Dingen. Und zum zweiten aber auch einfach, um Kostenpotenziale zu heben. Das sind die zwei treibenden Faktoren im Rahmen der Digitalisierung in den eigenen Geschäftsprozessen.“ (Händler #2)

Oder was wir auch dort selber vorantreiben ist: Kassen, wo der Kunde sich selbst abscannen kann oder digitale Einkaufswagen. (…) Diese Hemmungen vor der Technologie, die reduzieren sich massiv auch bei unseren Kunden. (…) Es fehlt einfach auch an Beschäftigung, an qualifizierten Mitarbeitern. Und deswegen muss man sich einfach auch mit Technologien auseinandersetzen, um (…) Mitarbeiter zu substituieren, weil sie einfach nicht da sind. Es geht nicht darum Mitarbeiter zu ersetzen, sondern es fehlen einfach Mitarbeiter.“ (Händler #4)

Im Rückblick auf die erste Befragungsrunde wurde zudem im Kontext des Verbots vom Kükentöten die Geschlechtsbestimmung im Brutei als eine weitere technologische Entwicklung thematisiert:

Das Thema Kükentöten ist schon wieder ein bisschen aktuell. Da gibt es ja die Debatte rund um (…) die [beiden] Variante[n]: (…) [Geschlechtsbestimmung im Brutei und Verschiebung des Zieldatums]. (…) Beides ist politisch nicht populär, aber eine von beiden Varianten wird wahrscheinlich gezogen werden müssen, weil in der Masse die Systeme einfach noch nicht bereit sind, das hart umzustellen.“ (Händler #2)

Das Thema „ohne Kükentöten“ ist nicht abgehakt. Das wäre schön, wäre wünschenswert. (…) Selbstverständlich ist das bei uns in der Lieferkette (…) vollständig umgesetzt. Aber nichtsdestotrotz bleiben ja die „Folgen“ bei dem Thema: (…) Was passiert mit diesen Lieferketten? Was passiert mit der Bruderhahn-Aufzucht? Wie können wir da dann die Lieferketten auch schließen? Und in unserem, ja, kontrollierten Bereich beibehalten und aufrechterhalten. Mit dem Thema der Selektion, das ja jetzt auch gesetzlich nicht beantwortet ist, sondern jetzt hoffentlich in den kommenden Wochen, Monaten beantwortet wird, wird sich da auch mehr Klarheit ergeben.“ (Händler #3)

5.5 Ökologisch-geografische Einflussfaktoren

5.5.1 Erste Befragungsrunde

Bei den ökologisch-geografischen Einflussfaktoren zeigte sich aus der Perspektive des Lebensmitteleinzelhandels, dass dieser bereits recht intensiv versucht, seinen ökologischen Fußabdruck zu reduzieren. Entsprechende Maßnahmen umfassen unter anderem die Verringerung von Emissionen mit dem Ziel der Klimaneutralität, die bewusste Erhaltung der Biodiversität, die Gentechnik-Freiheit der angebotenen Produkte, die klimafreundlichere Verpackung sowie den reduzierten Wasserverbrauch in der Lebensmittelproduktion:

Wir haben im Einkauf für unser Sortiment diverse Schwerpunktthemen definiert. Das ist beispielsweise Klima, beispielsweise Biodiversität, beispielsweise Sozialstandards, Wasser und weitere Kriterien, die sich hauptsächlich auf die Landwirtschaft beziehen, denn da ist unser Fußabdruck einfach am größten. Und wir bewerten unsere Warengruppen, unsere Umsätze und schauen uns quasi an, wie groß ist der Umsatz in einer Kategorie und wie groß ist unser negativer Fußabdruck? Um dadurch (…) zu ermitteln, (…) mit welchen Maßnahmen können wir da unseren negativen Fußabdruck (…) verringern? Und wenn wir das jetzt in Verbindung bringen mit der Nutztierhaltung, dann ist natürlich einerseits das Thema Klima hochrelevant, aber eben auch Biodiversität. Wasser ist sicherlich auch ein Thema, je nach Tierart. Und das sind Dinge, die wir uns einfach anschauen, wenn wir Konzepte suchen, um den Fußabdruck zu verringern.“ (Händler #2)

Der größte Anker ist das Klima, also über Allem steht momentan das Klima. (…) Gerade in der Nutztierhaltung [sind] natürlich Klima und CO2-Äquivalente jetzt nicht ganz irrelevant. Es heißt, (…) wenn wir den Fleischkonsum reduzieren durch pflanzenbasierte Ernährung, dann haben wir sicherlich schon mal einen entsprechenden, ökologisch positiven Effekt, auch auf das Klima. (…) Wir haben ja gerade das ganze Thema (…) Entwaldung, (…) was einen großen Einfluss natürlich auch auf die Ökologie hat und wo auch wir von unserer Seite aus immer stärker die Notwendigkeit sehen auf entwaldungsfreie Futtermittel zu setzen und diesbezüglich auch entsprechende Anforderungen an unsere Lieferanten zu stellen. Daneben, aber das ist im Prinzip ja auch schon etwas länger, das ganze Thema Gentechnik-Freiheit. (…) Und dann natürlich auch alles, was in irgendeiner Art und Weise mit dem Thema Verpacken zu tun hat. Das betrifft den Nutztierbereich, also den Fleischbereich ja genauso wie jeden anderen Sortimentsbereich auch. Dass wir hier natürlich auch auf Verpackungsalternativen setzen wollen, die umweltfreundlicher oder umweltgerechter sind, sei es, wenn wir in unsere Märkte schauen oder wenn wir über den Verkauf von Fleisch nachdenken, über entsprechende Mehrwegsysteme.“ (Händler #3)

Die bisherige Kommunikation solcher Themen wird allerdings überwiegend problematisiert. Oft fehle den Verbraucherinnen und Verbrauchern das gesamtheitliche Verständnis für die zum Teil komplexen Zusammenhänge:

Ich glaube, wir müssen es für den Kunden relativ einfach machen und relativ wenig komplex in der Argumentation warum er irgendwie etwas tun soll, wenn wir versuchen ihm komplexe Zusammenhänge zu erklären. Das ist sicherlich auch eine Marketingfrage und eine Frage, die wir natürlich Marketing-Fachleuten noch viel besser stellen können. Es mag vielleicht wirklich Menschen geben, die so gut Marketing betreiben können, dass sie auch sehr schwierige Botschaften kundenrelevant umsetzen können. Und in einigen Fällen funktioniert das auch, (…) zumindest für den aufgeschlossenen Kunden (…). Wenn wir aber im Blick haben die Masse zu erreichen mit Kommunikation, dann müssen wir das so wenig komplex machen wie nur möglich.“ (Händler #3)

5.5.2 Zweite Befragungsrunde

Auch in der zweiten Befragungsrunde beschäftigten sich die Händler mit verschiedenen nachhaltigkeitsrelevanten Themen aus ökologisch-geografischer Sicht, wie z. B. der Reduktion des ökologischen Fußabdrucks oder nachhaltigen Verpackungen, wobei diese nach wie vor schwierig adäquat an die Kundschaft zu kommunizieren seien:

Und der dritte Aspekt ist das Thema Kreislaufwirtschaft. Wie kann man Verpackungen so gestalten, dass sie kreislauffähig sind? Wie kann man auch beispielsweise Food Waste (…) oder Food Loss reduzieren?“ (Händler #2)

Bezogen auf ökologische oder geographische Einflussfaktoren ist natürlich (…) Kreislaufwirtschaft das Thema, was da natürlich bei uns (…) an höchster Stelle steht, um zu versuchen dort auch einen Kreislauf so gut wie möglich herzustellen. Oder auch Verpackung allgemein zu vermeiden durch Mehrwegsysteme. Das sind durchaus zwei Punkte, die uns auch in Verbindung mit Verpackung sehr stark beschäftigen.“ (Händler #3)

Ich muss sagen, aus Kundensicht ist das Klima-Thema immer echt schwierig. Also, da bekommen wir jetzt auch keine Anfragen zu. Die Leute sind immer viel mehr am Produkt, die sind viel mehr auf Tierwohl, auf Verpackungen, auf Fairtrade [aus] (…). Aber Klima ist ja, fast schon, [ei]ne Art von Meta-Ebene. Das ist viel größer als nur so ein Produkt. Und das macht es nochmal schwerer greifbar.“ (Händler #1)

Meiner Meinung nach möchte der Kunde nicht konfrontiert werden mit – man kauft da Schnitzel und ist verantwortlich für 10 qm Regenwaldrodung – sondern er möchte eben ruhigen Gewissens einfach einkaufen gehen. Dass eben der Händler, bei dem er einkaufen geht, sich gekümmert hat und die Probleme adressiert und Antworten darauf gibt. (…) Es ist nicht so wichtig, auch wenn es traurig ist, dass es Pietro, dem Bananenpflücker, gut geht. Sondern es ist wichtiger, wie profitiere ich, beispielsweise von der Fairtrade-Banane, weil da weniger Pestizid-Rückstände drin sind? Wie profitiere ich in meiner persönlichen Gesundheit davon? Und deshalb der Brückenschlag über die eigene Gesundheit hin zu den Nachhaltigkeitsthemen, die dann dadurch mitgenommen werden.“ (Händler #2)

Zudem nimmt im Zusammenhang der ökologisch-geografischen Einflussfaktoren das Thema der entwaldungsfreien Lieferketten immer mehr an Bedeutung zu:

Entwaldungsfreiheit, das ist ein ganz großer Punkt, mit dem wir uns in den nächsten Jahren auseinandersetzen müssen. (…) Das ist nicht ganz trivial, weil wir (…) in der Vergangenheit (…) uns nur für unseren direkten Lieferanten interessiert [haben], eine Stufe vor und eine Stufe zurück. Dann reichte das. Das ist eben heute nicht mehr der Fall. Heute (…) kaufen wir Schweinefleisch ein, müssen aber wissen, wie die gefüttert worden sind und dass diese Futtermittel nicht aus dem Amazonas kommen (…), sondern nur aus entwaldungsfreien Gebieten. Soweit mussten wir vor ein paar Jahren gar nicht denken. Heute müssen wir soweit denken und denken alleine reicht nicht, das muss sogar dokumentiert werden.“ (Händler #4)

5.6 Rechtliche Einflussfaktoren

5.6.1 Erste Befragungsrunde

Bei den rechtlichen Einflussfaktoren bestand bei den Interviewten aus dem Handel teilweise der Wunsch nach einer stärkeren und rascheren Regulierung durch den Staat. Dabei wurde betont, dass der Lebensmitteleinzelhandel oft eigenständig Eigeninitiative ergreift und Veränderungen umsetzt, bevor diese gesetzlich verankert werden:

Ja gut, das Thema ist ja sogar eigentlich, dass wir uns teilweise mehr Regulierungen wünschen. Und es einfach eher Schwierigkeiten gibt, weil der Gesetzgeber nichts macht oder zu spät etwas macht. Wie das Thema Ferkelkastration, wo wir als Handel dran denken müssen; wie das Thema Tierwohl, wo die Händler vorangegangen sind; wie das Kükentöten, wo viele Händler vorangegangen sind. Also man kann da glaube ich kaum von politischen Maßnahmen, die uns beeinflussen, sprechen, weil wir uns die eher noch selbst auferlegen.“ (Händler #1)

Im Lebensmitteleinzelhandel besteht zudem der Wunsch nach der Schaffung von fairen und gleichen Wettbewerbsvoraussetzungen (Level Playing Field), wobei Uneinigkeit darüber bestand, ob diese durch Regulierung oder Eigeninitiative erreicht werden sollte:

Wir würden uns wünschen, dass die Politik Themen anpackt und bestenfalls (…) europaweit regelt, möglichst einheitlich. Ob das Nährwertkennzeichnung auf den Verpackungen ist, ob das Tierhaltungsstandards sind oder ob das Tierwohlabgaben sind, die jetzt diskutiert werden. Die Politik soll das bitte regeln und für alle gleich machen und dann haben wir überhaupt keine Probleme nennenswerter Art. Aber in der Regel wird versucht die Verantwortung an den Handel abzugeben. Und wenn dann der Handel Initiativen ergreift, dann versucht man im Nachhinein diese zu verzahnen mit politischen Initiativen. Die dann aber in der Regel – weil man sich politisch nicht angreifbar machen möchte – die Latte so hoch legen, dass man sich dann schon wieder über eine Nische unterhält, wenn wir jetzt über das staatliche Tierwohllabel reden.“ (Händler #2)

5.6.2 Zweite Befragungsrunde

Schließlich wurde auch in der zweiten Befragungsrunde auf rechtlicher Ebene der Wunsch nach fairen und gleichen Voraussetzungen (Level Playing Field) in der gesamten EU sowie nach fairen und gemeinsam entwickelten Lösungen wie im Rahmen der Borchert-Kommission geäußert:

Also ja klar, das ganze Thema: Wie wird Tierhaltung zukünftig sein und wie werden vor allem die rechtlichen Rahmenbedingungen sein? (…) Dass das besser werden muss, da ist eine Einigkeit da. Aber was wir immer sehr vermissen seitens des Handels sind diese Rahmenbedingungen – die fehlen noch komplett. (…) Wir müssen auch mal so ein bisschen im Dunkeln tappen und hoffen, dass die Politik einfach Dinge, ja, annimmt, erkennt und auch handelt. (…) Wir sind da sehr abhängig von der Politik am Ende.“ (Händler #1)

In einer idealen Welt, nehmen Sie das Beispiel Borchert-Plan: Hätte man das 1:1 so umgesetzt, dann wäre das eine sinnvolle Regulierung gewesen. Dadurch, dass man jetzt aber keine politischen Mehrheiten hat, um es 1:1 umzusetzen oder vermutet keine zu haben oder es nicht machen will, werden dann einzelne Bausteine genommen. Und dann gilt der Satz: „Gut gedacht, ist nicht immer gut gemacht“. (…) Und das zeigt dann wieder, dass eben die Wirtschaft häufig schneller ist und es effizienter organisieren kann. (…) Hätte der Staat die Möglichkeiten (…) es effizient zu organisieren wie die Wirtschaftsbeteiligten, dann finde ich (…) Level Playing Field richtig und wichtig.“ (Händler #2)

Regulatorische Maßnahmen können sinnvoll sein, wenn sie vernünftig gemacht sind. (…) Indem man die Realität nicht ausblendet und auch mit den entsprechenden Parteien oder mit der Wertschöpfungskette redet. Gemeinsam (…) einen Fahrplan überlegt, wie man gewisse Dinge erfolgreich umsetzen kann. Das ist in der Borchert-Kommission genauso passiert.“ (Händler #4)

6 Diskussion und Implikationen

Insgesamt verdeutlichen die Ergebnisse der fortlaufenden Befragung, dass der Lebensmitteleinzelhandel sich mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert sieht, die einen Einfluss auf sein Verhalten haben können und das Management beeinflussen dürften. Insbesondere spielen dabei veränderte Konsummuster, die Digitalisierung sowie politische und rechtliche Entwicklungen eine entscheidende Rolle. Die Kernergebnisse können dabei wie folgt zusammengefasst werden:

  1. 1.

    Veränderte Konsummuster: Die Motivation zu einem veränderten Konsumverhalten in der Gesellschaft ist für den Handel deutlich erkennbar. Diese Motivation ist dabei sowohl (1) extrinsisch (z. B. Preissensibilität bei Verbraucherinnen und Verbrauchern aufgrund von Inflation) als auch (2) intrinsisch (z. B. veränderte Ernährungsmuster bei Verbraucherinnen und Verbrauchern) begründet. Die Kommunikation von Nachhaltigkeitsthemen ist für den Handel jedoch nach wie vor komplex.

  2. 2.

    Digitalisierung: Die Digitalisierung des Lebensmitteleinzelhandels bietet viele Chancen. Diese bestehen unter anderem in der Steigerung der Transparenz der Lieferketten sowie in der Lösung neuer betrieblicher Herausforderungen (Fachkräftemangel).

  3. 3.

    Politische und rechtliche Entwicklungen: Der Lebensmitteleinzelhandel hat die politischen Entwicklungen wie das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz oder das staatliche Tierwohllabel im Blick. Weiterhin besteht der Wunsch nach fairen und gleichen Wettbewerbsbedingungen (Level-Playing-Field) sowie nach kooperativen, konsensualen Lösungen (Borchert-Kommission).

Im Hinblick auf die Wahrnehmung und gesellschaftliche Akzeptanz der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung wurde deutlich, dass insbesondere die Veränderung der Konsummuster in den verschiedenen Kundengruppen einen besonderen Einfluss auf den Lebensmitteleinzelhandel ausübt. Die damit verbundene sinkende gesellschaftliche Akzeptanz der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung könne insbesondere auf die Entfremdung, abstrakte Vorstellungen sowie die Suche nach einfachen Antworten in diesem Zusammenhang zurückgeführt werden.

In methodischer Hinsicht verdeutlicht die Breite der gefundenen Ergebnisse schließlich, dass Interviews mit Expertinnen und Experten offenbar eine gute Möglichkeit darstellen, um die Handelsperspektive in transformativen Prozessen differenziert zu erfassen und dieser zentralen Stakeholdergruppe Ausdruck zu verleihen. Gleichwohl könnte die Methodik optimiert werden, etwa indem die Dimensionen aus dem PESTEL-Framework randomisiert und weiter differenziert abgefragt werden.