1 Einleitung

Die breite Öffentlichkeit stritt in den Jahren 2019/2020 vielerorts immer heftiger um die Tierhaltung, wobei von der Zivilgesellschaft die Missstände in der Land- und Ernährungswirtschaft und aus der Branche der Nutztierhaltung die hohen Anforderungen der Politik kritisiert wurden (Sommer et al. 2019; Nowack and Hoffmann 2020; Heinze et al. 2021). Man forderte innovative haltungs- und produktionstechnische Konzepte, sowie eine Neuausrichtung der zukünftigen Landwirtschafts- und Ernährungssysteme. Darüber hinaus wünschten sich die Betroffenen der Agrarpolitik mehr Austausch und Beteiligungsmöglichkeiten.

Die Arbeiten des ersten SocialLab Projektes haben gezeigt, dass sich viele gesellschaftliche Erwartungen bezüglich der Weiterentwicklung der Nutztierhaltung auf den landwirtschaftlichen Betrieben nicht oder nur schwer umsetzen ließen bzw. lassen (Christoph et al. 2018; SocialLab Konsortium 2019; Wildraut and Mergenthaler 2020). Das ist auf eine jahrelange preisliche Weltmarktorientierung zurückzuführen und auf eine Strategie, die auf Kostenführerschaft ausgerichtet ist. Hinzu kommen unklare rechtliche und ethische Rahmenbedingungen im Tierschutz sowie baurechtliche Hürden. Generell gelten Tierschutz- und Umweltstandards vor allem als Kostenfaktor, Anreize dafür gibt es kaum.

Die damalige Bundesministerin Julia Klöckner stellte im Jahr 2019 die sogenannte Nutztierstrategie neu auf. Sie sollte den Tierschutz in der Nutztierhaltung verbessern und negative Auswirkungen auf die Umwelt verringern. An diesen Zielen arbeiteten das Kompetenznetzwerk Nutztiertierhaltung (KNW), auch Borchert-Kommission genannt, und die Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL). Inmitten dieser Zeit fiel auch der Projektstart des SocialLab II. Für das Vorhaben der Zukunftswerkstatt hatten die fast zeitgleiche Berufungen des KNW und der ZKL durch das Bundeslandwirtschaftsministerium erhebliche Konsequenzen. Denn die Ziele und Aufgaben der Kommissionen und der Zukunftswerkstatt überschnitten sich teilweise. Parallel beschäftigte sich auch die Deutsche Agrarforschungsallianz (DAFA) von 2019 bis 2022 damit, Zielbilder für die Zukunft der Land- und Ernährungswirtschaft in Deutschland für das Jahr 2049 zu erstellen. Da die professionelle Interessenvertretung sowie Fachleute aus Wissenschaft und Praxis nicht das gleiche in unterschiedlichen Kommissionen beitragen sollten, entwickelte die Zukunftswerkstatt Ende 2019/Anfang 2020 ihre eigene Forschungsnische. Neben der Diskussion über konkrete inhaltliche Ansprüche an die Politik der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung wurde ein zweiter Fokus auf die wissenschaftliche Reflexion der Beteiligungsformate zur Entwicklung einer gesellschaftlich akzeptierten Tierhaltung gelegt. Die angepasste Aufgabenstellung entwickelte sich in Abstimmung mit Mitgliedern der Borchert- und der Zukunftskommission.

Nach über 3 Jahren mit Diskussionsrunden und Workshops zur Förderung des transdisziplinären Austauschs, hat die SocialLab II Zukunftswerkstatt eine Diskussionsplattform zur landwirtschaftlichen Tierhaltung aufgebaut. Sie bietet die Grundlage für gemeinsame Diskussionen, einen gemeinsamen Erfahrungsraum, Vertrauen, und Ansprüche an die Kommunikation zwischen Interessengruppen.

2 Methodische Alleinstellungsmerkmale

2.1 Zielsetzung

Die Zukunftswerkstatt des SocialLab II möchte Fortschritte auf dem Weg zu einer gesellschaftlich akzeptierten und wirtschaftlich realisierbaren Tierhaltung auf landwirtschaftlichen Betrieben erzielen sowie eruieren, welche Entwicklung die landwirtschaftliche Tierhaltung in Deutschland in qualitativer sowie quantitativer Hinsicht annehmen kann, um gesellschaftlich akzeptiert zu werden.

2.2 Methodik

Die Zukunftswerkstatt setzt einen wissenschaftlich und durch professionelle Moderation und Mediation begleiteten Dialog um, bei denen Akteure wichtiger gesellschaftlicher Interessengruppen teilnehmen. Die Beteiligten müssen sich im Dialog nicht auf eine wertebasierte Vision für die Zukunft der Tierhaltung einigen, im Fokus steht vielmehr das Verständnis relevanter Unterscheidungen zwischen verschiedenen Zielbildern. Außerdem soll der Dialog auch offen für Akteure und Positionen sein, die aktuell nicht mehrheitsfähig erscheinen und die bislang in Dialogprozessen kaum gehört wurden. Der Politik und der Branche werden so Handlungsempfehlungen bzw. Veränderungsmöglichkeiten aufgezeigt, mit denen sie zukunftsfähige gesellschaftlich akzeptierte Systeme landwirtschaftlicher Tierhaltung in Deutschland fördern können. Sozusagen unter Laborbedingungen werden in der Zukunftswerkstatt der Diskurs strukturiert und analysiert und Ergebnisse katalysiert.

Die Methode basiert auf dem Konzept nach Jungk und Müllert (1989). Bei einer Zukunftswerkstatt können folgende Schritte unterschieden werden: Einstiegs- und Kritikphase, Utopiephase, Verwirklichungsphase, Nachbereitung. Die ersten beiden Phasen sind in diesem Projekt zunächst separat geplant gewesen.

  • Strang I: Bürgerinnen und Bürger sowie landwirtschaftliche Betriebe wurden individuell von Mitarbeitenden der Zukunftswerkstatt befragt.

  • Strang II: Personen aus Land- und Ernährungswirtschaft, des Umwelt- und Tierschutzes sowie weitere Sachverständige (z.B. aus der Wissenschaft, den Medien oder der Politik) diskutierten miteinander.

Aufgrund der Covid-19-Pandemie wurden die meisten Interviews, Diskussionsrunden und Workshops online oder telefonisch durchgeführt. Während des Verlaufs der Zukunftswerkstatt haben sich die Themenschwerpunkte jeweils aus den Eingaben der Teilnehmenden oder durch aktuelle politische Entwicklungen ergeben. Die wissenschaftliche Auswertung der jeweiligen Phase fand direkt im Anschluss und in engem Austausch zwischen der Arbeitsgruppe, der Moderatorin sowie den beteiligten Interessenvertretungen statt. Immer wieder wurden die ermittelten Ergebnisse rückgekoppelt an die Teilnehmenden und die nächsten Schritte gemeinsam entwickelt.

Der Schwerpunkt der hier präsentierten Arbeit liegt auf der Utopie, die aufgrund der Konfliktsituation zunächst den Möglichkeitsraum für politische Maßnahmen öffnet und allen Gruppen das Gefühl geben sollte, mit ihren Ansprüchen und langfristigen Zielen gehört zu werden (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Zeitliche Entwicklung der SocialLab II Zukunftswerksatt

2.3 Leitfragen

Während des Projektverlaufs sind in der Zukunftswerkstatt folgende aus dem Dialog entstandene Leitfragen bearbeitet worden:

  • Partizipation/Gestaltung der Zukunft der landwirtschaftlichen Tierhaltung in Deutschland

    1. Welche Herausforderungen und Risiken bestehen bei der Organisation von Dialog-Formaten?

    2. Typisierung der Interessengruppen: Welche gesellschaftlichen Gruppen sind zu beteiligen?

    3. Wie können die Belange der Tiere in der politischen Debatte um die Tierhaltung vertreten werden?

    4. Wie kann der Dialog zur Zukunft der Tierhaltung in Deutschland weitergeführt werden?

  • Kommunikation

    1. Gibt es (noch) einen „common ground“ über die Dringlichkeit der Weiterentwicklung der Tierhaltung?

    2. Wie sollte zukünftig zwischen welchen Akteuren über die Weiterentwicklung der Tierhaltung kommuniziert und diskutiert werden?

  • Zukunft der Tierhaltung in Deutschland

    1. Zielbilder: WIE und WIEVIEL an Tierhaltung in Deutschland? Wie können beide Dimensionen in einzelnen breit akzeptierten Szenarien zusammengeführt werden?

  • Umsetzung

    1. Einstellung zu konkreten politischen Maßnahmen in Richtung der Zielbilder

3 Ergebnisse

3.1 Partizipation und Kommunikation

Entsprechend der Zielsetzung der Zukunftswerkstatt wurde versucht, eine möglichst große Bandbreite von Interessengruppen zu beteiligen. So wurden für jede Interessengruppe unterschiedliche Vertreterinnen und Vertreter mit jeweils eignen Interessenschwerpunkten eingeladen. Dabei wurde auf einen Mix zwischen Gruppendiskussionen, 1:1 Gesprächen und schriftlichen Befragungen gesetzt. Viele der Teilnehmenden wurden mehrmals zu Diskussions- und Rückkopplungsrunden eingeladen, um Kontinuität im Diskursprozess zu schaffen. Insgesamt konnten ca. 6.000 Personen an der Zukunftswerkstatt ihre Meinung – allerdings auf sehr unterschiedliche Weise – einbringen. Die meisten von ihnen waren Bürgerinnen und Bürger sowie landwirtschaftliche Bertriebe in schriftlichen Meinungsumfragen. Diskutiert wurde mit Personen aus Vertretungsorganisationen der Landwirtschaft, Tierschutz, Tierrecht, Tiermedizin, Umwelt- und Klimaschutz, Verbraucherschutz, Agrar- und Ernährungswirtschaft etc. sowie verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen (Tab. 1).

Tab. 1 Beteiligung an der Zukunftswerkstatt

Die politische Kommunikation und die Beteiligungsformate im Bereich landwirtschaftlicher Tierhaltung sind insgesamt sehr konfliktreich. Die Zukunftswerkstatt bietet hier einen geschützten Raum, in dem sich verschiedenste Stakeholder unabhängig von den politischen Streitfragen begegnen können. Dies bietet die Möglichkeit Vertrauen und Wertschätzung aufzubauen, in den Dialog zu treten und langfristig an einer gemeinsamen Lösungsentwicklung zu arbeiten. Allerdings wird eine Zuspitzung des Konfliktes immer dort riskiert, wo Definitionen von vermeintlich klaren Begrifflichkeiten und Kriterien auseinandergehen und Minderheitenpositionen nicht gehört werden. Der „common ground “, die gesellschaftliche Übereinkunft über die Dringlichkeit der Weiterentwicklung der Tierhaltung scheint aber weithin zu existieren. Konkrete Einstellungen bezüglich der Umsetzungsoptionen und Notwendigkeit einer dazu angepassten strategischen Kommunikation sind aber an übergeordnete Werthaltungen und Sichtweisen auf die aktuellen Agrar- und Ernährungssysteme gekoppelt. So ist es möglich, sehr konkrete Gestaltungsoptionen in Tierhaltungssystemen jeweils einzeln auf verschiedene zugrundeliegende sehr allgemeine und weithin konsensfähige Werthaltungen zurückzuführen (Wildraut et al. 2015). Auf der Werteebene leichter zu identifizierender Konsens könnte dann Grundlage einer politischen Kommunikation sein, die sich auch bei konfliktären technischen Detailentscheidungen und konfliktären Fragen der Beteiligung gemeinsamer Grundlagen bewusstmacht.

Viele Konflikte um die Tierhaltung finden weniger auf zwischenmenschlicher Ebene statt als auf Systemebene (Berkes and Mergenthaler 2020). Das System Tierhaltung mit seiner vorwiegend kosten- und exportorientierten Ausrichtung wird stark kritisiert. Was sich viele wünschen – egal welcher Interessengruppe sie sich zuordnen – ist: Es sollte mehr und gezielter über bereits erreichte Fortschritte und positive Beispiele berichtet werden und für die Dauer des Veränderungsprozesses geworben werden (Mukhamedzyanova 2021). Es gilt, „aus der Blase“ heraus zu kommen. Dazu braucht es noch mehr Forschung und Austausch zwischen Wissenschaftler*innen und Journalisten/Medien -Tätigen (Kothe et al. 2020; Berkes et al. 2020). Darüber hinaus wird oft verlangt die Bildung rund um das Thema Landwirtschaft und Ernährung bereits vom Elementarbereich zu verbessern. Zudem gibt es erhebliche, bisher wenig genutzte Potenziale in diskursiven, vertraulichen Eins-zu-Eins-Begegnungen z. B. zwischen Landwirt*innen und Verbraucher*innen mit dem Ziel, Glaubwürdigkeit und Vertrauen zu vermitteln (Berkes and Mergenthaler 2020; Berkes et al. 2022). Landwirt*innen beklagen ein mangelndes Verständnis seitens der Gesellschaft für die ökonomischen und praktischen Erfordernisse der Tierhaltung. Sie richten diese Kritik vor allem an die urbane Bevölkerung, die aktuelle Haltungsformen ablehnt. Umgekehrt nehmen Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft (v.a. Tier- Umwelt und Verbraucherschutz) diese Haltung als abgehoben und besitzstandverteidigend wahr.

Die Art politischer Entscheidungsprozesse, die Kommunikationsstrategie der Agrarbranche sowie des LEHs (Faletar et al. 2022b) und das Ungleichgewicht von Interessenvertretungen zum Thema Tierhaltung werden von der Gesellschaft sehr kritisch wahrgenommen. Der Balanceakt in der Kommunikation für alle Beteiligten besteht darin, Sachverhalte und Missstände nicht zu beschönigen, aber dennoch niemanden mit Verallgemeinerungen oder verbal unüberlegten Begrifflichkeiten vor den Kopf zu stoßen. Bürgerinnen und Bürger wünschen sich vor allem eine verantwortungsvollere Kommunikationsstrategie der Agrarbranche und von der Politik. Landwirtinnen und Landwirte wünschen sich umgekehrt ebenso eine verantwortungsvollere Kommunikationsstrategie der NGOs und von der Politik. Klare, einfache und glaubwürdige Informationen sowie Produktkennzeichnungen, z.B. Label oder Haltungskennzeichen, bieten großes Potenzial. Vertrauen ist klarer Dreh- und Angelpunkt einer beiderseitig auf Akzeptanz ausgerichteten Entwicklung. Ohne gelebte Veränderungsbereitschaft und ohne Vertrauenskommunikation wird es keine Beruhigung der gesamtgesellschaftlichen und der inner-landwirtschaftlichen Debatten geben (Sonntag et al. 2021). Langfristige und transparente Dialog-Formate sind das entscheidende Instrument dafür (von Gall und von Meyer-Höfer 2021).

3.2 Zukunft der Tierhaltung in Deutschland: Zielbilder für die landwirtschaftliche Nutztierhaltung

Um eine Strukturierung zur Differenzierung unterschiedlicher Zielbilder zu erleichtern, wurden aus der Vielzahl erhobener Positionen drei Zielbild-Cluster von Positionen zu Zukunftsbildern erstellt, auf die sich alle Positionen zurückfrühen lassen. Dafür wurden Ausschlusskriterien, sogenannte „Bruchkannten “, für die Akzeptanz der Zielbilder untersucht (Tab. 2).

Tab. 2 Die 3 Zukunftsbilder und ihre Kriterien im Uberblick

3.2.1 Zukunftsbild 1: höhere Standards

Das erste Zukunftsbild (Z1 „höhere Standards “) orientiert sich an einer graduellen Weiterentwicklung des Status Quo und verfolgt einen wirtschaftlich-pragmatischen Ansatz: Die Protagonisten tragen eine Transformation der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung in den Bereichen Tier- und Klimaschutz insofern mit, als dass sie die wirtschaftliche Situation der tierhaltenden Betriebe nicht verschlechtert, sondern nachhaltig verbessert. Die Vision ist fokussiert auf eine wirtschaftlich lukrative, weiterhin stark konzentrierte Nutztierhaltungsbranche in Deutschland. Standards im Tier- und Umweltschutz haben einen instrumentellen Charakter, um die Ziele der Wirtschaftlichkeit und Akzeptanz zu erreichen. Umwelt- und Tierschutzziele sollen vor allem durch technische Innovationen in der Tierhaltung und Klimaschutzziele mittels Produktivitätssteigerungen erreicht werden, nicht durch den Abbau der Tierzahlen oder von Exporten. Importe aus Ländern mit niedrigeren Standards sollen durch Außenschutz verhindert werden. Das Zielbild basiert auf der Vorstellung, durch möglichst wenige gesetzliche Veränderungen die Situation der Betriebe und Unternehmen zu verbessern. Es findet vor allem bei konventionell wirtschaftenden Interessensgruppen aus der Agrar- und Ernährungswirtschaft viele Anhänger.

3.2.2 Zukunftsbild 2: Systemwechsel und Reduktion

Das zweite Zukunftsbild (Z2 „Systemwechsel & Reduktion“) orientiert sich an den Werten der Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft in einer bäuerlich geprägten Landwirtschaft, inklusive Bio-Landwirtschaft und alternativer Wirtschaftsweisen. Viele dieser landwirtschaftlich geprägten Interessengruppen, aber auch Organisationen des Tierschutzes, Umwelt- und Klimaschutzes und Verbraucherschutzes plädieren für einen umfassenden Systemwandel, der eine Reduktion des Konsums von Tierprodukten und damit der Tierhaltung selbst einschließt. Vor allem landwirtschaftlich geprägte Interessengruppen drängen aber darauf, dass die so verringerte Tierhaltung weiterhin als essentieller Bestandteil der Landwirtschaft und Ernährung anerkannt wird. Das Zielbild beinhaltet auch eine höhere Wertschätzung für regional und handwerklich erzeugte tierische Produkte. Gleichzeitig sollen die landwirtschaftlichen Einkommen durch öffentliche und marktgetragene Zahlungen von Tierschutz- und Umweltprämien gesichert und verbessert werden. Ein höherer Außenschutz und regionale Kreisläufe gehen mit dem Ziel regionaler Kreislaufwirtschaft und insgesamt deutlich weniger internationalem Handel einher.

3.2.3 Zukunftsbild 3: Alternativen zur Tierhaltung

Das dritte Zukunftsbild (Z3 „Alternativen zur Tierhaltung“) sieht die Nutztierhaltung für Landwirtschaft und Ernährung nicht mehr als essentiell, sondern betont ihre negativen Auswirkungen auf die Umwelt, die Tiere und die menschliche Gesundheit. Insofern plädieren Protagonisten dieses Zielbildes dafür, Tierprodukte so weit wie möglich durch pflanzliche Alternativen und zelluläre Landwirtschaft zu ersetzen. Tierhaltung ist nur dort weiterhin vertreten, wo sie dem Erhalt von Kultur- und Weidelandschaften dient. Für den Tierhaltungssektor wäre dies eine tiefgreifende Transformation, die das System Tierhaltung nicht nur radikal verändert, sondern langfristig abbaut. Nicht-monetäre Werte spielen für die zivilgesellschaftlichen Protagonisten von Z3 eine zentrale Rolle, darunter Tierschutz- und Klimaschutz. Der Unterschied zu Z2 besteht primär in unterschiedlichen Antworten auf die Frage, ob die Tierhaltung aus kulturellen, gesundheitlichen oder ressourcenökonomischen Gründen nötig ist, was Z3-Protagonisten mit nur wenigen Ausnahmen verneinen. Fürsprecher von Z3 aus dem Bereich der Ernährungswirtschaft teilen aber mit Z1 auch einen wirtschlich-pragmatischen Zugang: Sie plädieren für eine aus ihrer Sicht ressourceneffiziente und mittelfristig lukrative Landwirtschaft und Ernährung, nur mit dem Unterschied zu Z1, dass Lebensmittel produzierende Tiere ihre zentrale Rolle im Agrarsystem verlieren. Insofern gibt es innerhalb von Z3 auch eine Bandbreite von Positionen hinsichtlich Kreislaufwirtschaft, Exportfragen und Außenschutz.

3.3 Ergebnisse zur Diskussion über die Realisierbarkeit der Zielbilder

Aus den Konstellationen ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten, zumindest für kurz- und mittelfristige Kompromisse zwischen den Interessengruppen. Bei der Diskussion über den Erhalt „der“ Tierhaltung in Deutschland muss eine stereotype Erwartungshaltung abgebaut und zwischen Tierhaltungsformen differenziert werden. Nicht jede landwirtschaftliche Gruppe propagiert den Erhalt aller Formen wirtschaftlicher Tierhaltung; und nicht jede vegane Akteursgruppe will sämtliche Formen der Tierhaltung unmittelbar abschaffen.

Zielbild 2 („Systemwechsel & Reduktion“) stellt ein Ziel-Szenario dar, welches – als Kompromiss – die größte Anzahl von Interessengruppen hinter sich vereinen könnte. Protagonisten von Z1 könnten Z2 als Kompromiss betrachten, um sich gegen den allgemeinen Akzeptanz- und Bedeutungsverlust der Tierhaltung durch vegane Alternativen zu stemmen. Z3 Protagonisten wiederum könnten in Z2 einen Übergang hin zum Abbau der Tierhaltung sehen. Unklar ist jedoch noch, wie die Tierzahlreduktion in Z2 erreicht werden soll. Mehr Platz für die einzelnen Tiere führt nur dann zu einer nationalen Tierzahlreduktion, wenn nicht mehr Ställe und Außenflächen im Vergleich zur aktuellen Situation hinzukommen (von Gall und Petrick 2022). Eine Erleichterung für die Tierhaltung zu bauen und umzubauen wird aber gleichzeitig auch gefordert, um mehr Tierschutz und Umweltschutz zu implementieren. Ein Systemwechsel erfordert Rahmenbedingungen, die bestehende Fehlanreize und Fehlorientierungen überwinden (DAFA 2022). Für das gesellschaftlich gewollte Erreichen von höheren Tierschutzstandards muss in Zukunft deutlich mehr gefordert, gefördert und monetär honoriert werden als bisher. Dafür braucht es eines breiten Kompromisses für mittel- und langfristige rechtliche Mindeststandards im Tierschutz und Umweltschutz. Denn rechtliche Konzepte wie die art- und verhaltensgerechte Tierhaltung sind bisher ergebnisoffen aufgrund weniger staatlicher und wissenschaftlicher Initiativen, die ein gemeinsames Verständnis herbeiführen.

Um Z2 als Kompromiss für Z3 zu ermöglichen, müssten sämtliche Förderungen der landwirtschaftlichen Tierhaltung, auch wenn sie mit Tierwohl gerechtfertigt werden, gewährleisten, dass pflanzlichen Alternativprodukten kein Wettbewerbsnachteil entsteht. Entsprechend öffentlicher Leistungen ist zu prüfen, ob diese Alternativen, gerade weil es sich um Innovationen handelt, entsprechend höher gefördert werden sollten.

Um Z2 für Agrarbetriebe attraktiv zu machen, ist für die besonders auf internationalen Wettbewerb ausgerichtete Schweinebranche eine handelspolitische Flankierung elementar. Regionale, nachhaltige Strukturen in der Landwirtschaft und den anschließenden Wertschöpfungsketten müssten im Vergleich zu Exporten stärker gefördert werden, um Z2 in der Praxis näher kommen zu können. Da allen Zielbildern unterschiedliche Konzepte eines angemessenen Tierschutzes unterliegen, eignet sich die Dreiteilung der Zielbilder für den nötigen Kompromiss über rechtliche Mindestanforderungen im Tierschutz, welcher in praktischer Hinsicht der Angelpunkt der Debatte um künftige Tierhaltung ist.

Aus Transparenzgründen sollte die Politik sämtliche Maßnahmen offenlegen, welches der drei Zielbilder sie anstrebt bzw. zugrunde legt.

3.4 Unterschiedliche Dialog-Formate

Künftig müssen 3 Arten von Dialog-Zielen differenziert und im Diskurs über die Weiterentwicklung der Tierhaltung in Deutschland etabliert werden:

  • Die laufende Ermittlung von Ziel- bzw. Zukunftsbildern auf Basis gemeinsamer Werte;

  • die schnelle Einigung über Zustimmung zu konkreten politischen Entscheidungen (vor allem Gesetzesänderungen und Verordnungen);

  • der Aufbau von Verständnis zwischen den betroffenen Gruppen und gegenseitiger Wertschätzung.

3.4.1 Ermittlung von Ziel- bzw. Zukunftsbildern auf Basis gemeinsamer Werte

Der gesellschaftliche Dialog über langfristige Ziele für die Tierhaltungsentwicklung ist ein kontinuierlicher Prozess und wird nie abgeschlossen sein. Er ist eng mit sich wandelnden ethischen und kulturellen Werten und Motivationen verknüpft. Dieser Dialog sollte insbesondere die Gefühle und Emotionen aufdecken, die moralische Impulse in die Debatte einbringenund unser Handeln leiten. Diese Impulse spielen eine entscheidende Rolle bei der Akzeptanzproblematik in Bezug auf die Nutztierhaltung.

Ein Beispiel hierfür ist die Mensch-Tier-Beziehung, bei der viele Menschen eine Nutzung von Tieren ohne angemessene Gegenleistung als unfair empfinden. Sie streben nach einem "fairen Deal" mit den Tieren und den Landwirt*innen als Teil eines Zielbildes (siehe Luy 2018). Um dies zu erreichen, ist jedoch ein anerkanntes Konzept für die politische Vertretung von Tieren erforderlich, das nicht unbedingt mit Tierschutz gleichzusetzen ist (Niesen 2019).

Bei der Entwicklung von Zielbildern ist eine breite Beteiligung anzustreben, da ein Ausschluss bestimmter Gruppen zu Eskalationen führen kann. Es ist wichtig, dass professionelle Interessenvertreter aus strategischen Gründen Vorbehalte überwinden und ihre eigenen Ziele und Werte offenlegen, auch wenn sie möglicherweise nicht immer gesellschaftlich erwünscht sind. Die Methodik muss daher auf diese Herausforderung eine Antwort finden.

Die in der Zukunftswerkstatt erarbeiteten Zielbilder müssen nicht nur weiterhin getestet und verfeinert werden, sondern es muss auch eine differenzierte Analyse ihrer individuellen Werte und Motivationen hinsichtlich ihrer Relevanz für Handlungen und Umsetzungen erfolgen. Dies kann erreicht werden, indem die zeitlichen und geografischen Dimensionen der Ziele klar definiert werden, an denen sich alle Beteiligten orientieren können, um ihre mittel- und langfristigen Entscheidungen auszurichten. Darüber hinaus sollten die allgemeinen, internen und externen Funktionen von Zielbildern von allen Beteiligten deutlich gemacht und verinnerlicht werden (DAFA 2022; Feindt et al. 2019).

3.4.2 Einigung über Zustimmung zu konkreten politischen Entscheidungen

Nicht jeder Dialog muss Grundsatzdiskussionen über langfristige Ziele einschließen. Politisch initiierte Gremien mit Interessenvertretungen sollen der Politik zeitnah ein Feedback darüber geben, ob die angestrebten Entscheidungen von den für sie relevanten Interessengruppen als akzeptable Kompromisse betrachtet werden, oder ob es innerhalb dieser Gruppen oder in der Öffentlichkeit Protest dagegen gibt. In diesen Kontext fallen Gremien wie die Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL) und die Borchert-Kommission.

Während die ZKL zwar grobe Zielvorstellungen für ihre Empfehlungen hat, wurden diese jedoch nicht ausführlich diskutiert. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf Empfehlungen, die konkrete politische Maßnahmen rechtfertigen. Dialogansätze wie die ZKL und die Borchert-Kommission müssen vor allem effizient und zügig arbeiten, da sie Informationen zu laufenden Entscheidungsprozessen bereitstellen müssen. Ihr Fokus liegt darin, vorgegebene Entscheidungen anhand von Fachwissen und Praxiserfahrung grob anzupassen und zu legitimieren.

Es gibt gute Gründe dafür, diese Gremien, die oft von staatlicher Seite berufen werden, mit Vertretern von Interessenverbänden zu besetzen. Sie verfügen bereits über enge Verbindungen zur Politik und haben ausreichende Ressourcen, um eine zeitnahe Bewertung von Folgen vorzunehmen. Das zugrundeliegende Zielbild, selbst wenn es nur selten besprochen wird, sollte zumindest transparent kommuniziert werden.

3.4.3 Aufbau von Verständnis und gegenseitiger Wertschätzung zwischen den betroffenen Gruppen

Eine weitere Kategorie von Dialog-Formaten konzentriert sich weniger auf inhaltliche Einigungen, sondern mehr auf die Förderung des Verständnisses zwischen verschiedenen Interessengruppen. In diesem Fall liegt der Schwerpunkt auf respektvoller Kommunikation und dem Aufbau von Vertrauen. Besonderes Augenmerk liegt auf der Überwindung von Stereotypen, die die Kommunikation oft blockieren. Beispiele hierfür sind Vorwürfe der Tierquälerei gegenüber Tierhaltungsbetrieben sowie moralischer Rigorismus oder Radikalität bei Veganerinnen und Veganern. In solch stark konfliktbehafteten Situationen erfordern speziell gestaltete Dialogansätze besondere Aufmerksamkeit.

Die Diskussion von Themen in sachlicher Form oder Verhandlungen auf Basis von gegenseitigem Einvernehmen sind in solchen Fällen oft nicht möglich. Bei diesen Ansätzen spielen kulturelle Emotionen und ihre Wertäquivalente eine wichtige Rolle (vgl. Schwartz 2009). Der Konflikt sollte nicht länger nur als Auseinandersetzung um die richtige Tierhaltungspraxis betrachtet werden, sondern auch als ein Konflikt um kulturelle Werte. Ausgehend von der Annahme, dass unterschiedliche Wertvorstellungen individuelle Gründe haben, kann ein dialogisches Format auf persönlichen Begegnungen basieren und das Vertrauen fördern.

Geschützte und vertrauliche Einzelgespräche, die auf einer wertebasierten Vertrauenskommunikation beruhen, könnten dann als Grundlage dienen, um in anderen Formaten Sach- und Streitfragen zu klären. In Dialogformaten werden grundlegende Motive und Werte offengelegt, die Verständnis und Empathie für die Sichtweisen der jeweils anderen Seite erhöhen.

4 Fazit

Die gesellschaftspolitische Debatte über die landwirtschaftliche Nutztierhaltung in Deutschland ist sehr konfliktreich. Sogar hinter scheinbar einvernehmlichen Zielvorgaben wie “mehr Tierwohl“ oder "mehr Klimaschutz" verbergen sich oft unterschiedliche Ziele. Trotz vereinzelter Kompromisse und Konsensbereiche innerhalb bestimmter Stakeholder-Gruppen bleibt die Debatte über die Zukunft der Tierhaltung in Deutschland unklar. Geklärte rechtliche Mindestanforderungen im deutschen Tierschutzgesetz sind dringend erforderlich und sollten als Ausgangspunkt dienen.

Der Konflikt erstreckt sich über die gesamte Gesellschaft und erfasst auch Unternehmen, Interessenvertretungen und Parteien. Es liegt in der Verantwortung der Politik, dem Konflikt deeskalierend entgegenzuwirken und wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Transformationsforschung zu nutzen. Dies bedeutet, nicht vorschnell Lösungen zu präsentieren, sondern Plattformen für den gesellschaftlichen Dialog zu schaffen, auf denen Kompromisse entwickelt werden können. Dabei sollten verschiedene Stakeholder-Gruppen gleichberechtigt ihre Positionen austauschen können, um Ausgrenzung und Benachteiligung zu vermeiden. Wissenschaftliche Begleitung sowie professionelle Moderation und Mediation sind hierbei unerlässlich. Es sind drei Arten von Dialog-Formaten erforderlich, um die Debatte um Tierhaltung zu strukturieren:

  • Die kontinuierliche Entwicklung von Ziel- und Zukunftsbildern auf Grundlage gemeinsamer Werte.

  • Die kurzfristige Erzielung mehrheitsfähiger Entscheidungen, insbesondere Gesetzesänderungen und Verordnungen.

  • Die Förderung von Verständnis und gegenseitiger Wertschätzung unter den betroffenen Gruppen.

Für die Zukunft des Dialogs zur landwirtschaftlichen Nutztierhaltung in Deutschland könnte eine internationale Dimension eine bereichernde Ergänzung darstellen. Derzeit bildet sich eine Allianz zwischen konventionellen und alternativen Akteuren in der Tierhaltung, die sich gegen die Abwanderung der Tierhaltung aus Deutschland und das Ziel einer veganen Ernährung richtet. Das angestrebte Zielbild schwankt zwischen der Beibehaltung des Status Quo und einem Systemwechsel mit drastisch reduzierten Tierzahlen. Die konventionelle Agrarbranche ist möglicherweise bereit, eine Reduzierung der Tierhaltung mit höheren Standards zu akzeptieren, um die Branche insgesamt zu stabilisieren. Es ist wahrscheinlich, dass sich diese Allianzen und Kompromisslinien ändern werden, wenn die Produktion pflanzlicher Alternativen wirtschaftlicher und ausgeweitet wird.