1 Einleitung

Die genetische Information, die als Bauplan für das menschliche Leben dient, ist in der chromosomalen DNA eines jeden Zellkerns und in der DNA unserer zellulären Kraftwerke, den Mitochondrien, gespeichert. Im menschlichen Körper ist die Expression der Gene gut reguliert und ihr orchestriertes Zusammenspiel erlaubt die Spezialisierung unserer Zellen und Gewebe. Gemäß dem Grundprinzip der Biologie wird während der Genexpression die genetische Information von der stabilen DNA-Form in eine transiente Informationsstruktur, die RNA, umgeschrieben. Es existiert eine Reihe unterschiedlicher Arten von RNA mit verschiedensten Funktionen in der Zelle.Footnote 1 Insbesondere kann die sog. „messenger“ oder Boten-RNA (mRNA) in Proteine übersetzt werden, die den verschiedenen Zelltypen in unserem Körper ihre morphologischen, physiologischen und funktionellen Eigenschaften, den sog. Phänotyp, verleihen (siehe Abb. 3.1). Für die Steuerung der Genexpression sind bestimmte genetische Strukturen und Elemente erforderlich, die als Promotoren und Enhancer-SequenzenFootnote 2 bezeichnet werden. Mithilfe solcher Elemente ist es auch möglich, künstlich zu steuern, wie hoch oder niedrig ein Gen exprimiert wird, und auch ein Gen in bestimmten Zelltypen an- oder auszuschalten. Dieses Wissen über Genstruktur und -expression wird für medizinische Zwecke wie die Gentherapie genutzt.

Abb. 3.1
figure 1

Zentrales Dogma der Molekularbiologie

Die genetische Information wird in einer stabilen Form, der Desoxyribonukleinsäure (DNA), gespeichert, die repliziert werden kann, um Kopien von sich selbst zu erstellen, z. B. bei der Zellteilung, und/oder in ein flüchtiges Biomolekül, die Ribonukleinsäure (RNA), umgeschrieben wird. RNA kann durch die Wirkung eines Enzyms namens Reverse Transkriptase zur Erzeugung von DNA verwendet werden. Verschiedene RNA-Moleküle können sehr unterschiedliche Funktionen ausführen (Fehse et al. 2022). Boten- (bzw. „messenger“-)RNA kann in Proteine übersetzt („translatiert“) werden. Abbildung mit Biorender.com erstellt

Die Gentherapie ist ein molekularmedizinischer Ansatz, der zur Behandlung von Patienten mit angeborenen Krankheiten, die z. B. durch Gendefekte bei monogenen Erbkrankheiten verursacht werden, eingesetzt werden kann. Aber auch erworbene Erkrankungen wie z. B. Krebs oder schwere Infektionen können durch gentherapeutische Ansätze behandelt werden. Hierbei kann die Expression eines fehlenden oder defekten Gens durch das Hinzufügen einer „gesunden“ Genkopie korrigiert werden, was als additive Gentherapie bezeichnet wird. Aber auch die direkte Reparatur von Genen oder die Entfernung von krankheitsverursachenden Genen ist heutzutage möglich.

Mit der Aufklärung des humanen Genoms konnten für viele monogene ErbkrankheitenFootnote 3 die zugrunde liegenden Gendefekte (Mutationen) identifiziert werden, die zum Verlust von Proteinen oder zur Produktion veränderter Proteine und dadurch zur Entstehung der jeweiligen Krankheit führen. Einige Beispiele für solche Erkrankungen sind schwere kombinierte Immundefekte (SCID),Footnote 4 das Wiskott-Aldrich-Syndrom (WAS), die chronische Granulomatose (CGD), die zerebrale Adrenoleukodystrophie (CALD), die metachromatische Leukodystrophie (MLD), Hämoglobinopathien wie β-Thalassämie und Sichelzellkrankheit (SCD)Footnote 5 sowie die blasenbildende Erkrankung Epidermolysis bullosa. Beispielhafte Ergebnisse aus Gentherapieversuchen werden später in diesem Kapitel für einige dieser monogenen Erkrankungen vorgestellt.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, therapeutische Gene in Zellen zu übertragen, um Krankheiten wie die genannten zu behandeln. Ein gängiger Ansatz ist die Nutzung der natürlichen Fähigkeit von Retroviren, ihre eigene Erbinformation stabil in das Genom menschlicher Zellen zu integrieren. Retroviren haben ebenfalls einen genetischen Bauplan, der jedoch im Gegensatz zu dem des Menschen nicht aus DNA, sondern aus RNA besteht. Dieser RNA-Bauplan codiert für bestimmte virale Strukturproteine, die zum Schutz und zur Einschleusung der viralen RNA in die Zielzelle notwendig sind. Des Weiteren codiert sie für die Reverse Transkriptase, die das Virus nach dem Eintritt in die Zielzelle zum Umschreiben des viralen RNA-Genoms in eine virale DNA nutzt. Letztere wird dann mithilfe eines weiteren Enzyms, der Integrase, in das Genom der Zielzelle eingebaut, woran sich dann die Produktion neuer infektiöser Viruspartikel anschließt. Im Rahmen der Entwicklung der Gentherapie wurden umfangreiche Anstrengungen unternommen, um aus ggf. pathogenen Retro- wie auch anderen Viren ein therapeutisches Werkzeug, den sog. Vektor,Footnote 6 zu erstellen. Dazu werden die Viren so modifiziert,Footnote 7 dass sie ihre Pathogenität und ihr Vermehrungspotenzial vollständig verlieren, aber noch einmalig als Transportvehikel funktionieren. Darauf aufbauend können die retroviralen Vektoren benutzt werden, um therapeutische genetische Informationen effizient in das Genom der Zielzellen einzuschleusen, sind aber nicht in der Lage, neue infektiöse Partikel zu erzeugen.Footnote 8

In den folgenden Abschnitten werden die Beiträge deutscher Forschergruppen zur Entwicklung retroviraler Vektoren zum Transfer therapeutischer Gene, zu deren Sicherheitsanalyse sowie für ihre klinische Anwendung beleuchtet.

2 Die Entwicklung der retroviralen Vektortechnologie: Eine Chronologie

Die häufig in der Gentherapie verwendeten retroviralen Vektoren stammen von verschiedenen natürlichen Retroviren ab, die im Laufe von Millionen von Jahren Mechanismen für den Gentransfer entwickelt haben. So werden insbesondere Vektorsysteme auf der Basis des murinen Moloney-Leukämie-Virus (MoMLV) (sog. gammaretrovirale Vektoren) und des humanen Immundefizienz-Virus (HIV) (sog. lentivirale Vektoren) verwendet, da sie einen effizienten Gentransfer und eine stabile genetische Veränderung der Zielzellen ermöglichen. Das heißt, diese retroviralen Vektorsysteme fungieren als Gentaxis, um genetische Informationen (z. B. ein therapeutisches Gen) in die Zielzellen einzuschleusen und diese in ihren Chromosomen zu verankern, sodass sie im Falle einer Zellteilung an die Tochterzellen weitergegeben werden können. Das verfolgt das Ziel, die Funktion der Zielzelle zu reparieren oder der Zielzelle eine neue oder verbesserte Funktion zu verleihen. Eine erfolgreiche Gentherapie mit retroviralen Vektoren erfordert die robuste Produktion angemessen hoher Mengen an funktionellen VektorpartikelnFootnote 9 und den effizienten Eintritt der retroviralen Partikel in die Zielzellen. Die Bindung an die Zielzelle erfolgt bei Retroviren über die Interaktion des Hüll-(Glyko-)Proteins mit einem perfekt passenden Molekül (Rezeptor) auf der Zelloberfläche. Im Zuge der Vektorisierung der Retroviren konnte gezeigt werden, dass sich die ursprünglichen Hüllproteine auch gegen Hüllproteine anderer Viren austauschen lassen. Dieses Verfahren, das man Pseudotypisierung nennt, ermöglicht es u. a., stabilere Viruspartikel herzustellen, die auch andere ZielzellenFootnote 10 modifizieren können als das Ursprungsvirus.Footnote 11 Weiterhin ist das Erreichen von möglichst physiologischen Transgenexpressionsniveaus wichtig, die hoch genug sind, um eine therapeutische Wirkung ohne unerwünschte Genotoxizität oder PhänotoxizitätFootnote 12 zu erzielen.

Die bahnbrechenden Arbeiten zur Charakterisierung und Vektorisierung von MoMLV-Viren (d. h. gammaretroviralen Vektoren) stammen aus dem Heinrich-Pette-InstitutFootnote 13 in Hamburg und basieren auf Arbeiten von Pionieren wie Rudi Jaenisch, Wolfram Ostertag, Manuel Grez und Christopher Baum (Jaenisch et al. 1983; Hilberg et al. 1987). Erste gammaretrovirale Vektorsysteme nutzten zur Expression des jeweiligen therapeutischen Gens die natürlich vorkommenden viralen Promotor- sowie Enhancer-Elemente, die sich in den Long Terminal Repeats (LTR) des Virus befinden und als LTR-gesteuerte Vektoren bezeichnet werden. So basierte z. B. das häufig verwendete murine Stammzellvirus (Hawley et al. 1992) auf dem murinen embryonalen Stammzellvirus (MESV), das zuerst im Ostertag-Labor kloniert worden war (Grez et al. 1990). Weitere Bemühungen, die die Optimierung gammaretroviraler Vektorsysteme zur Erreichung hoher und stabiler Transgenexpressionsniveaus in einer Vielzahl von Zelltypen zum Ziel hatten und die für die therapeutische Wirksamkeit als notwendig erachtet wurden, umfassten die Erforschung genetischer Elemente, die die Transkription und Expression von Transgenen in Zielzellen beeinflussen, sowie die Entwicklung gammaretroviraler Vektorkonfigurationen mit verbesserter Transgenexpression (Baum et al. 1995, 1996, 1998; Hildinger et al. 1998). Die Eliminierung von viruscodierenden Sequenzen führte ebenfalls zu einer verbesserten Transgenexpression (Engels et al. 2003) und diente auch als Maßnahme zu einer erhöhten Sicherheit in den Patienten. In Proof-of-Concept-Experimenten wurde gezeigt, dass diese retroviralen Vektoren zur Expression des Multidrug-Resistance-Proteins 1 (mdr-1) in hämatopoetischen, d. h. blutbildenden, Vorläuferzellen verwendet werden können, um eine breitere Anwendung der Chemotherapie bei Krebspatienten zu ermöglichen, ohne toxische Nebenwirkungen für das hämatopoetische System (Baum et al. 1995, 1996) (siehe Abb. 3.2).

Abb. 3.2
figure 2

Durch retrovirale Vektoren veränderte Zellen werden resistent gegen Chemotherapie

Die Modifizierung von Zellen zur Expression des Multidrug-Resistenzproteins MDR1 oder der Methylguanin-Methyltransferase P140K-Mutante (MGMTP140K) führt zu einer verbesserten Resistenz gegenüber bestimmten Chemotherapeutika, sodass nur die geschützten (d. h. mit MDR1 oder MGMT markierten) Zellen bei einer medikamentösen Behandlung überleben. Die retroviralen Partikel wurden mit Biorender.com erstellt

Leider kam es in einigen Studien, in denen LTR-gesteuerte Vektoren verwendet wurden, um therapeutische Gene in hämatopoetische Stammzellen (HSC) einzubringen, zum Auftreten von Leukämien. Diese schwere Nebenwirkung wurde zuerst in Deutschland in Mausmodellen beobachtet und detailliert analysiert (Li et al. 2002; Baum et al. 2003, 2006; Kustikova et al. 2005), trat aber kurze Zeit später auch in klinischen Studien mit HSC auf (siehe Abschn. 3.5). Sehr wichtig für die spätere klinische Anwendung waren weitere, ebenfalls in Deutschland durchgeführte Studien, die zeigten, dass für analoge LTR-getriebene Vektoren das Risiko solcher maligner Entartungen in differenzierten somatischen Zellen, wie z. B. T-Zellen, deutlich geringer ist (Newrzela et al. 2008, 2012).

Die durch die Insertion (Integration) des LTR-gesteuerten gammaretroviralen Gentherapievektors hervorgerufene maligne Transformation von HSC wurde auf eine sog. Insertionsmutagenese zurückgeführt. Dabei kommt es in seltenen Fällen infolge der Insertion des retroviralen Vektors zur Dysregulation benachbarter Gene, z. B. zur Hochregulation der Expression sog. Proto-OnkogeneFootnote 14 durch die starken Promotoren und Enhancer des viralen Vektors (Hacein-Bey-Abina et al. 2003; Ott et al. 2006; Deichmann et al. 2011).

Heute werden in der klinischen retroviralen Gentherapie sicherheitsverbesserte retrovirale Vektorsysteme, sog. selbstinaktivierende (SIN-)Vektoren, verwendet, bei denen die starken viralen Promotoren und Enhancer aus den LTRs entfernt wurden, um das Risiko solcher unerwünschter Ereignisse zu minimieren (Yu et al. 1986). Weiterhin erlaubt dieses Vektordesign eine flexible Auswahl der internen Promotor- und Enhancer-Sequenzen. Die Prinzipien zur Herstellung gammaretroviraler SIN-Vektoren (Yu et al. 1986) wurden auch erfolgreich auf lentivirale Vektoren übertragen (Naldini et al. 1996; Zufferey et al. 1998). Tatsächlich legen neuere Ergebnisse aus klinischen Gentherapiestudien nahe, dass die Nutzung von SIN-Vektoren das Auftreten der Insertionsmutagenese deutlich reduziert (Cartier et al. 2009; Cavazzana-Calvo et al. 2010; Aiuti et al. 2013; Biffi et al. 2013; Hacein-Bey-Abina et al. 2014, 2015; Sessa et al. 2016).

Internationale Wissenschaftler wie Luigi Naldini, Didier Trono und Kollegen leisteten zahlreiche Beiträge zur Entwicklung lentiviraler Vektoren mit verbesserter Sicherheit, einschließlich der Vereinfachung lentiviraler Vektoren durch Eliminierung zusätzlicher Sequenzen, die für den Transgentransfer nicht entscheidend sind (Zufferey et al. 1997; Dull et al. 1998). Ein Unterschied zu gammaretroviralen Vektoren besteht darin, dass lentivirale Vektoren auch Zellen transduzieren, die sich nicht in Zellteilung befinden (Bukrinsky et al. 1993). Lentivirale SIN-Vektorsysteme sind derzeit das am weitesten verbreitete integrierende Vektorsystem (Tucci et al. 2022) und werden in Deutschland wie auch international in mehreren klinischen Anwendungen eingesetzt (siehe Abschn. 3.4).

3 Der gesteuerte Zelleintritt ist ein Schlüssel zum zielgerichteten Gentransfer: die Pseudotypisierung von Vektoren

Wie oben angeschnitten nutzen Retroviren die Interaktion zwischen Glykoproteinen auf der Virushülle (ihren Hüll- oder Envelope-Proteinen) und spezifischen Rezeptoren auf der Oberfläche der zu infizierenden Zelle für die Bindung an die Zielzelle. Daher kann die Wahl des Glykoproteins, das zur Pseudotypisierung retroviraler Vektoren verwendet wird, den Zelleintritt der Genfähre in die Zielzellpopulation steuern. Die heute am häufigsten in retroviralen Gentherapieprotokollen verwendeten Glykoproteine wurden aus anderen Viren isoliert, z. B. aus dem Gibbon-Affen-Leukämie-Virus (GALV) und dem Vesikulären Stomatitis-Virus G (VSV-G). Retrovirale Vektoren, die mit dem VSV-G-Protein pseudotypisiert sind, weisen eine höhere Stabilität auf und können ein breiteres Spektrum von Zelltypen transduzieren (Burns et al. 1993); mit der GALV-Hülle pseudotypisierte Vektoren modifizieren besonders effizient primäre menschliche T-Zellen (Bunnell et al. 1997; Fehse et al. 1998) und HSC. Darüber hinaus erwiesen sich Glykoproteine des lymphozytären Choriomeningitis-Virus (Beyer et al. 2002; Miletic et al. 2004), des Masern- und des Nipah-Virus als nützlich, da mit ihnen sogar ein zellspezifisches Targeting möglich ist (Funke et al. 2008; Buchholz et al. 2015; Bender et al. 2016; Agarwal et al. 2020; Hartmann et al. 2018; Kneissl et al. 2013; Kleinlutzum et al. 2017; Hanauer et al. 2018). Zellspezifische Vektoren sind insbesondere für In-vivo-Gentherapien von großer Bedeutung, bei denen die eigentlichen Zielzellen möglichst effizient modifiziert, andere Gewebe aber ausgespart werden sollen.

4 Stabile therapeutische Genexpression durch Integration ins Zellgenom

Die stabile Integration der Vektoren in das Wirtsgenom (und damit die Weitergabe an Tochterzellen im Rahmen der Zellteilung) ist für den langfristigen Erfolg vieler gentherapeutischer Ansätze essenziell. In solchen Fällen sind gammaretrovirale und lentivirale Vektoren oft die erste Wahl der Gentherapeuten. Allerdings ist die Integration bei retroviralen Vektoren nicht steuerbar, erfolgt also weitgehend zufällig. Im Ergebnis sind die Insertionsstellen der Viren (über alle Zellen betrachtet) weitgehend gleichmäßig über alle Chromosomen verteilt.Footnote 15 Zu beachten ist jedoch, dass Retroviren ein evolutionäres „Eigeninteresse“ haben, in solche Bereiche des Genoms zu integrieren, die für ihre eigene Vermehrung förderlich sind. Das trifft vor allem auf „offene Genombereiche“ zu, also solche, in denen sich in der jeweiligen Zelle aktive Gene befinden. So kann das Virus sicherstellen, dass auch die eigenen Gene langfristig abgelesen (und nicht etwa dauerhaft stillgelegt) werden.

Die von Retroviren abgeleiteten Vektoren haben die Vorlieben für bestimmte Integrationsorte geerbt – gammaretrovirale Vektoren fügen sich häufiger in Transkriptionsstartstellen ein, also in Nachbarschaft zu den Promotoren, und lentivirale Vektoren in aktiv transkribierte Gene.Footnote 16 Verschiedene zelluläre Faktoren, die sog. Tethering-Faktoren, scheinen gemeinsam mit retroviralen Integrasen die Insertion von gammaretroviraler oder lentiviraler Vektor-DNA in das Wirtsgenom zu steuern (Cherepanov et al. 2003; De Rijck et al. 2013; Gupta et al. 2013; Sharma et al. 2013; El Ashkar et al. 2014, 2017).

Wie oben angeführt kann die Integration retroviraler Vektoren, insbesondere, wenn sie in der Nähe von Proto-Onkogenen erfolgt, mit Risiken behaftet sein. Daher werden weiterhin viele Ressourcen für den Nachweis und die Charakterisierung von Insertionsstellen retroviraler Vektoren sowie für die Entwicklung von verbesserten Tests zur Bewertung der biologischen Sicherheit aufgewendet. Viele dieser Technologien wurden maßgeblich von deutschen Gruppen entwickelt, wie z. B. die Techniken der LM-PCR („ligation-mediated polymerase chain reaction“) (Schmidt et al. 2001) und der LAM-PCR (Kustikova et al. 2008, 2009) in Verbindung mit Fortschritten bei genetischen Sequenzierungsprotokollen (Arens et al. 2012; Wunsche et al. 2018). So konnte die Analyse der retroviralen Insertionsstellen weiter verbessert werden und hilft dabei, potenzielle Nebenwirkungen der Gentherapie besser zu verstehen. Sie wird inzwischen routinemäßig für die präklinische Sicherheitsbetrachtung und zur Überwachung klinischer Studien eingesetzt (Schmidt et al. 2001; Schwarzwaelder et al. 2007; Deichmann et al. 2007).Footnote 17

Während die ersten Studien zum Nachweis der Insertionsmutagenese in Mausmodellen erfolgten, steht mit dem In-vitro-Immortalisierungsassay (IVIM) heute ein (ebenfalls in Deutschland entwickelter) Test zur Verfügung, der die potenziellen Nebenwirkungen retroviraler Vektoren (maligne Transformation muriner Knochenmarkzellen) im Brutschrank analysiert (Modlich et al. 2006; Stein et al. 2013; Wolstein et al. 2014; Negre et al. 2015; Brendel et al. 2018; Poletti et al. 2018; Charrier et al. 2019; Garcia-Perez et al. 2020; Huang et al. 2016, 2017; Moscatelli et al. 2018). Dieser Test wird von den internationalen Zulassungsbehörden, z. B. PEI, EMA, MHRA, FDA,Footnote 18 zur Bewertung des Transformationspotenzials von Vektoren akzeptiert, die zur Behandlung monogener und erworbener Krankheiten entwickelt wurden. Ein kürzlich in Hannover entwickelter Surrogat-Assay für die Bewertung der Genotoxizität (SAGA) zur Vorhersage des mutagenen Risikos integrierter retroviraler Vektoren nutzt maschinelles Lernen, um eine einzigartige Genexpressionssignatur in hämatopoetischen Stamm- und Vorläuferzellen (HSPC) der Maus nach Transduktion mit den potenziell genotoxischen Vektoren zu erkennen (Schwarzer et al. 2021).

Zusätzlich zu den gammaretroviralen und lentiviralen Vektorsystemen wurde vor Kurzem in Hannover ein alpharetrovirales SIN-Vektorsystem entwickelt,Footnote 19 das auf dem aus Vögeln isolierten aviären Sarkom-Leukose-Virus (ASLV) basiert. Alpharetrovirale Vektoren weisen in Säugerzellen ein im Vergleich zu den genannten Vektoren neutraleres IntegrationsmusterFootnote 20 auf (Suerth et al. 2010, 2012; Moiani et al. 2014). IVIM-Tests zeigten außerdem, dass alpharetrovirale SIN-Vektoren mit internen Promotoren zur Steuerung der Transgenexpression im Vergleich zu gammaretroviralen und lentiviralen SIN-Vektoren weniger Transformationsereignisse in Knochenmarkzellen von Mäusen verursachten (Suerth et al. 2012), sodass sie eine interessante Alternative für zukünftige Gentherapiestudien darstellen.

Ein weiteres integrierendes Vektorsystem basiert auf dem apathogenen Foamy-Retrovirus, das ein relativ zufälliges Integrationsmuster aufweist und für das in einem humanisierten CD34-positiven-Zelltransplantationsmodell gezeigt werden konnte, dass es weniger häufig in der Nähe von Genen und insbesondere Proto-Onkogen-Transkriptionsstartstellen integriert (Lindemann und Rethwilm 2011; Everson et al. 2016). Die direkte In-vivo-Verabreichung von Foamy-Vektoren hat gezeigt, dass sie die schwere kombinierte Immundefizienz SCID-X1 bei Hunden korrigieren konnten (Burtner et al. 2014).

Nichtintegrierende retrovirale Vektoren sind ein weiteres interessantes Werkzeug für die klinische Umsetzung. Die gezielte Modulation bestimmter Schritte des retroviralen Lebenszyklus ermöglicht die Herstellung nichtintegrierender Vektoren, mit denen (a) zirkuläre 1- und 2-LTR-Episomen, (b) retrovirale oder nichtvirale mRNAs und (c) bestimmte Proteine auf Zielzellen übertragen werden können. Dies sind interessante Werkzeuge für Situationen, in denen ein „Hit-and-Run“-Ansatz wünschenswert sein könnte, z. B. für die vorübergehende Expression einer Designernuklease oder -Rekombinase, um im Sinne des Genome-Editing eine Genomveränderung zu vermitteln (Galla et al. 2004, 2011; Philpott und Thrasher 2007; Voelkel et al. 2010; Maeder und Gersbach 2016; Baron et al. 2022; Gurumoorthy et al. 2022).

5 Die Gentherapie für monogene Erbkrankheiten

5.1 Schwere kombinierte Immundefizienz (SCID)

SCID-Patienten haben Gendefekte z. B. in der Adenosin-Deaminase (ADA) (ADA-SCID), der Interleukin-2-Rezeptor-γ-Kette (IL2RG) (SCID-X1) oder der Interleukin-7-Rezeptor-α-Kette, die zu einem Verlust oder der Nichtfunktionalität von Immunzellen (z. B. T-, NK-Footnote 21 und B-Zellen) führen, sodass die Patienten gegen Pathogene weitgehend schutzlos sind und häufig, oft lebensbedrohliche Infektionen entwickeln. Bis vor Kurzem war die hämatopoetische Stammzelltransplantation (HSCT) die einzige heilende Behandlung für SCID. SCID-Patienten, für die kein passender Spender für eine allogene HSCT gefunden werden kann, können heute mit Gentherapien behandelt werden, für die autologe (eigene) HSPC mit korrigierten Versionen von ADA, IL2RG oder IL7R ausgestattet werden. Die Transduktion von HSPC mit einem LTR-gesteuerten gammaretroviralen Vektor, der im Labor von Christopher Baum entwickelt wurde, zur Expression von ADA führte – nach Versagen und Beendigung von PEG-ADAFootnote 22 – zu einer stabilen Transgenexpression und polyklonalen T-Zell-Rekonstitution ohne unerwünschte Nebeneffekte (Gaspar 2006). Andere Studien lieferten weitere Belege dafür, dass LTR-gesteuerte gammaretrovirale Vektoren zur Verabreichung von ADA den normalen Purinstoffwechsel ohne vektorbedingte Nebenwirkungen bei Patienten über 13 Jahre nach der Behandlung wirksam wiederherstellten (Aiuti et al. 2009; Ferrua und Aiuti 2017). Diese Studien führten zur Marktzulassung des „Advanced Therapy Medicinal Product“ (ATMP) Strimvelis® in Europa. Orchard Therapeutics, das Unternehmen, das Eigentümer von Strimvelis ist, hat jedoch kürzlich angekündigt, dass es seine Investitionen in Strimvelis einstellen wird.Footnote 23 Diese Entscheidung könnte darauf zurückzuführen sein, dass in den letzten sechs Jahren nur 16 Patienten mit Strimvelis behandelt wurden (siehe auch Alex/König, Kap. 22).

In Studien zur Behandlung einer anderen Immundefizienz (SCID-X1) wurden LTR-gesteuerte gammaretrovirale Vektoren verwendet, die das Wildtyp-IL2RG-Gen in HSPC von SCID-X1-Patienten exprimieren. Während die Immunität bei den meisten Patienten erfolgreich wiederhergestellt werden konnte, war dieser Gentherapieansatz leider mit erheblicher Genotoxizität verbunden. 30 % (6 von 20) der Patienten in zwei unabhängigen Studien entwickelten akute Leukämien aufgrund der Aktivierung der Expression von Proto-Onkogenen (z. B. LMO2, CCND2, MECOM) durch die Insertion gammaretroviraler Vektoren (Cavazzana-Calvo et al. 2000; Hacein-Bey-Abina et al. 2002, 2010; Gaspar et al. 2011; Cavazzana et al. 2019).Footnote 24

Eine anschließende multinationale Studie bei neun Jungen mit SCID-X1 zeigte die Wirksamkeit und Sicherheit eines in Hannover mitentwickelten sicherheitsverbesserten gammaretroviralen SIN-Vektors, der das IL2RG-Gen in autologe CD34-positive Zellen aus dem Knochenmark einbringt (Hacein-Bey-Abina et al. 2014).Footnote 25 Analysen der Insertionsstellen dieses retroviralen SIN-Vektors ergaben ein polyklonales Integrationsprofil mit einer geringeren Häufung von Insertionsstellen in der Nähe bekannter Proto-Onkogene (LMO2, MECOM) und ohne Auftreten einer Zelltransformation bei einem der bisherigen Patienten, was auf ein verbessertes Sicherheitsprofil des gammaretroviralen SIN-Vektors hindeutet (Hacein-Bey-Abina et al. 2014). Die klinische Studie diente zudem als Grundlage für eine laufende multizentrische internationale Studie zur Untersuchung der Sicherheit und Wirksamkeit eines lentiviralen SIN-Vektors bei SCID-X1-Patienten.Footnote 26 Nach einer mittleren Nachbeobachtungszeit von 2,2 Jahren wiesen alle behandelten Patienten eine robuste Immunrekonstitution mit korrigierten T-, NK- und B-Zellpopulationen auf, ohne dass es zu gentherapiebedingten unerwünschten Ereignissen kam. Diese Beobachtung unterstützt die Ergebnisse zweier anderer kürzlich durchgeführter Studien, die ebenfalls eine Rekonstitution der T-, NK- und B-Zelllinien nach Anwendung lentiviraler SIN-Vektoren zur Behandlung von SCID-X1-Patienten zeigten (De Ravin et al. 2016; Mamcarz et al. 2019).Footnote 27 Dies ist auch deshalb ein großer Fortschritt, weil in früheren Studien nur eine Rekonstitution der T-Zellen beobachtet wurde.

5.2 Wiskott-Aldrich-Syndrom (WAS)

WAS ist eine X-chromosomal rezessiv vererbte Krankheit, die durch immunologische Defizite mit verminderter Fähigkeit zur Blutgerinnung aufgrund einer unzureichenden MengeFootnote 28 und Funktion von Thrombozyten gekennzeichnet ist. Die Beobachtung, dass Mutationen im WAS-Gen („WASP actin nucleation promoting factor“), das für das zytosolische Protein WASP (Wiskott-Aldrich-Syndrom-Protein) codiert, zu WASP-Varianten mit abgeschwächter Funktion und Expression führen können, machte WAS-Patienten zu potenziellen Kandidaten für eine Gentherapie.

In der ersten in Deutschland durchgeführten Stammzellgentherapie für Patienten mit Wiskott-Aldrich-Syndrom (Boztug et al. 2010; Braun et al. 2014) wurden zehn Patienten mit autologen CD34-positiven-HSPC behandelt, die mit einem von MLV abgeleiteten LTR-getriebenen gammaretroviralen Vektor korrigiert wurden, der WASP exprimiert.Footnote 29 Die Gentherapie führte zu einer geringeren Häufigkeit und Schwere von Infektionen, einer Korrektur der Thrombozytopenie und zur Reduktion und z. T. zum Verschwinden von Hautmanifestationen (Ekzemen). Nachdem in der frühen Phase nach Gentherapie keine klonalen Auffälligkeiten beobachtet wurden, entwickelten sieben Patienten innerhalb von 5 Jahren nach der Behandlung eine akute Leukämie (Braun et al. 2014).Footnote 30

In einer Folgestudie wurde der gammaretrovirale LTR-Vektor durch einen lentiviralen SIN-Vektor, der einen proximalen WAS-Promotor zur Expression des therapeutischen WASP-Transgens verwendet, ersetzt. In dieser Studie mit autologen HSPC erwies sich die Gentherapie bei sieben WAS-Patienten mit schwerer Erkrankung als praktikabel und sicher (Charrier et al. 2007; Hacein-Bey Abina et al. 2015). Ein Patient starb an einem septischen Schock aufgrund einer therapieresistenten Herpesvirusinfektion,Footnote 31 aber bei den anderen sechs Patienten konnte ein stabiles Anwachsen funktioneller genmodifizierter Zellen mit WASP-Expression in T-, NK- und B-Zellen beobachtet werden. Wichtig ist, dass keine Anzeichen für vektorbedingte Toxizität beobachtet wurden, was die Sicherheit der lentiviralen SIN-Vektoren für die Gentherapie weiter untermauert (Aiuti et al. 2013; Hacein-Bey Abina et al. 2015).

5.3 Chronische Granulomatose (CGD)

Bei CGD-Patienten sind die Immunzellen der myeloischen (das Knochenmark betreffenden) Linie weniger in der Lage, Sauerstoffradikale zu erzeugen, die für die Zerstörung aufgenommener Krankheitserreger wichtig sind. Diese verminderte Funktionalität der Immunzellen der angeborenen Immunantwortführt zu wiederkehrenden Infektionen. Die häufigste Form von CGD wird X-chromosomal vererbt (X-CGD); sie wird durch CYBB-MutationenFootnote 32 verursacht, die zu einem Verlust der NADPH-Oxidase-Aktivität der PhagozytenFootnote 33 führen. Es gibt auch autosomal rezessiveFootnote 34 CGD-Formen, die durch Mutationen in CYBA,Footnote 35 NCF1,Footnote 36 NCF2 oder NCF4 verursacht werden (Übersicht in Roos 2019).

Ähnlich wie bei den WASP-Studien erreichten die X-CGD-Patienten, deren HSPC mit einem gammaretroviralen LTR-gesteuerten Vektor behandelt worden waren, sehr schnell nach der Therapie eine Beseitigung vieler Krankheitssymptome. Allerdings kam es danach innerhalb weniger Monate zu einem Verlust der therapeutischen Genexpression aufgrund von Transgen-Silencing (Abschalten des Promotors/Enhancers im Vektor durch Methylierun).Footnote 37 Parallel dazu wurde ein klonales Wachstum hämatopoetischer Zellen mit retroviralen Insertionsstellen im MECOM(MDS1-EVI1)-Lokus festgestellt,Footnote 38 was zur Transformation der genveränderten Zellen beitrug (Ott et al. 2006; Stein et al. 2010; Siler et al. 2015).Footnote 39 Auch hier wurde für die Folgestudien ein lentiviraler SIN-Vektor entwickelt, der so konstruiert wurde, dass er hGP91-PHOX über einen phagozytenspezifischen Promotor exprimiert. Dieser wurde von Gruppen in London und Frankfurt gemeinsam entwickelt und in klinischen Studien getestet (Santilli et al. 2011; Kohn et al. 2020).Footnote 40 Bei sechs der neun Patienten konnte eine klinische Wirksamkeit über mehr als zwölf Monate nachgewiesen werden, ohne dass es Anzeichen für ein Silencing des Transgens oder eine klonale Expansion gab.

5.4 Hämoglobinopathien

Hämoglobinopathien sind Erbkrankheiten, die durch Mutationen und/oder Deletionen in α- oder β-Globin-Genen gekennzeichnet sind und zu einer fehlerhaften oder instabilen HämoglobinsyntheseFootnote 41 führen. Die beiden Hauptgruppen der Hämoglobinopathien sind die autosomal rezessiven Thalassämie-Syndrome und die Sichelzellanämie sowie die autosomal dominanten Hämoglobinstörungen. Hämoglobinopathien sind vor allem in Ländern des globalen Südens verbreitet, werden in Deutschland infolge der Zuwanderung aber inzwischen häufiger diagnostiziert (Kohne und Kleihauer 2010). Früher war die allogene HSCT die einzige Heilungsmöglichkeit für Hämoglobinopathien, aber mittlerweile gibt es mehrere Gentherapiestudien für Patienten, für die es keinen geeigneten HSCT-Spender gibt. Mindestens drei von der Firma Bluebird Bio gesponserte Studien, bei denen lentivirale Vektoren zur Transduktion autologer hämatopoetischer Zellen ex vivo eingesetzt werden, wurden bzw. werden weltweit (inkl. Deutschland) durchgeführt. Eine laufende Studie ist beispielsweise eine multizentrische Studie zur Behandlung von transfusionsabhängigen β-Thalassämie-Patienten, die mit Gentherapie behandelt wurden, u. a. an der Medizinischen Hochschule Hannover (Magrin et al. 2022).Footnote 42 Alle vier behandelten Patienten sind 4,6 bis 7,9 Jahre nach der Gentherapie transfusionsfrei geblieben, ohne dass behandlungsbedingte Nebenwirkungen aufgetreten sind.

Eine weitere, an mehreren Standorten durchgeführte Phase-3-Studie untersuchte die Wirksamkeit und Sicherheit der Gentherapie mit LentiGlobin BB305 (Betibeglogene autotemcel, Zynteglo®) bei transfusionsabhängigen β-Thalassämie-Patienten im Alter von ≤ 50 Jahren, die verschiedene Genotypen haben.Footnote 43 Zu den Standorten in Deutschland gehörten die Medizinische Hochschule Hannover und die Universität Heidelberg.

Eine weitere Phase-3-Studie mit mehreren Standorten (einschließlich der Medizinischen Hochschule Hannover) bewertete die Wirksamkeit und Sicherheit der Gentherapie mit einem lentiviralen βA-T87Q-Globin-Vektor bei transfusionsabhängigen β-Thalassämie-Patienten, die ≤ 50 Jahre alt sind und keinen β0/β0-Genotyp haben.Footnote 44 Die Transfusionsunabhängigkeit wurde bei 20 von 22 auswertbaren Patienten erreicht. Allerdings hatten vier Patienten mindestens ein unerwünschtes Ereignis, das als mit der Gentherapie in Zusammenhang stehend angesehen wurde, darunter ein schwerer Fall von Thrombozytopenie (Locatelli et al. 2022). Zynteglo® hat vor Kurzem die Marktzulassung durch die EMA erhalten,Footnote 45 wurde dann aber durch die Firma freiwillig vom Markt genommen, da keine Einigung mit den Kostenträgern über die Erstattung erreicht werden konnte.Footnote 46 In den USA kostet die Behandlung mit Zynteglo® 2,8 Mio. US$, ein Mehrfaches der ebenfalls kurativen allogenen Stammzelltransplantation (siehe auch Alex/König, Kap. 22).

5.5 Junktionale Epidermolysis bullosa (JEB)

JEB ist eine Hautadhäsionsstörung zwischen Epidermis und Dermis,Footnote 47 die durch Ablösung der obersten Hautschicht und der Schleimhäute aufgrund von Mutationen in Genen wie COL17A1, ITGB4, LAMA3, LAMB3 oder LAMC2 gekennzeichnet ist. Die Durchführbarkeit und Sicherheit einer Gentherapie zur Behandlung eines erwachsenen Patienten mit LAMB3-defizientem JEB, die durch eine Mutation des LAMB3-Gens verursacht wurde, wurde schon vor mehr als 15 Jahren in Italien nachgewiesen (Mavilio et al. 2006). Primäre Keratinozyten des Patienten wurden mit einem LTR-getriebenen gammaretroviralen Vektor transduziert, der die LAMB3-cDNA in voller Länge exprimiert. LAMB3 war funktional, und die transplantierte Haut blieb während der einjährigen Nachbeobachtungszeit stabil, ohne Blasen, Infektionen, Entzündungen oder Immunreaktionen (Mavilio et al. 2006). Zur zweiten Anwendung dieser Form der Gentherapie kam es in Deutschland mit dem Ziel, das Leben eines siebenjährigen Kindes zu retten, das an einer schweren Form von JEB litt, die Blasen und Hauterosionen auf etwa 80 % seiner gesamten Körperoberfläche verursachte (Hirsch et al. 2017). Der oben beschriebene LTR-gesteuerte gammaretrovirale Vektor (MLV-RV) wurde zur Expression von LAMB3-cDNA verwendet, und die durch diesen Gentherapieansatz erzeugte transplantierte und regenerierte Haut war vollständig funktional und resistent gegenüber mechanischer Belastung. Untermauert wurde dies durch das Fehlen von Blasen oder Hauterosionen über 21 Monate. Inzwischen zeigte die langfristige Nachbeobachtung dieses Patienten, dass die transgene Epidermis 5 Jahre und 5 Monate nach der Transplantation der gentherapeutisch veränderten autologen epidermalen Transplantate stabil und funktional waren (Kueckelhaus et al. 2021), und damit die Grunderkrankung weitgehend kurativ behandelt worden war.

6 Gentherapie für erworbene Krankheiten

6.1 Selektions- und Eliminationsansätze in der Gentherapie

Die allogene HSCT ist zwar die einzige kurative Behandlung für verschiedene bösartige und nicht bösartige Erkrankungen, sie ist jedoch häufig mit potenziell lebensbedrohlichen Nebenwirkungen wie schweren Infektionen und der Graft-versus-Host-Disease (GvHD)Footnote 48 verbunden. Um das GvHD-Risiko zu minimieren und zugleich die erwünschten spenderimmunzellvermittelten EffekteFootnote 49 beizubehalten, wurden die Spender-T-Zellen mit einem „Suizidgen“ modifiziert. Solche Suizidgene ermöglichen eine induzierbare Entfernung der genmodifizierten allogenen T-Zellen, falls beim Patienten schwere GvHD-Reaktionen auftreten sollten (Bonini et al. 1997; Tiberghien et al. 2001).

Eine Phase-1/2-Studie zur Evaluierung der Transplantation von CD34-angereichertenFootnote 50 peripheren Blutstammzellen, die mit dem HSV-TK-SuizidgenFootnote 51 modifiziert wurden, wurde bei einem MDS(Myelodysplastische Syndrom)- und zwei CML(Chronische Myeloische Leukämie)-Patienten in Hamburg durchgeführt (Fehse et al. 2004a) (siehe Abb. 3.3). Es wurden keine akuten Toxizitäten beobachtet, und bei allen drei Patienten kam es nach der Transplantation zu einer raschen Rekonstitution. Bei einem Patienten entwickelte sich eine akute GvHD Grad II der Haut, die nach Induktion des Suizidgens durch Ganciclovir-Gabe vollständig abklang und mit einem raschen Verlust der genmodifizierten T-Zellen einherging. Bei einem weiteren Patienten wurden die modifizierten T-Zellen abgestoßen. Bei beiden Patienten, die die genetisch modifizierten T-Zellen verloren hatten, kam es anschließend zu einem sekundären Transplantatversagen, was auf die Bedeutung der Spender-T-Zellen für das langfristige Anwachsen des Transplantats hinweist.

Abb. 3.3
figure 3

Strategie zur Eliminierung genveränderter Zellen im Falle unerwünschter Ereignisse

Zellen können genetisch so modifiziert werden, dass sie „Suizidgene“ wie die Thymidinkinase des Herpes-Simplex-Virus (scHSV-tk) oder davon abgeleitete, effizientere Varianten (z. B. TK.007) exprimieren. Dieser Ansatz ermöglicht eine spätere Eliminierung modifizierter Zellen, falls diese entarten, unerwünschte Immunreaktionen hervorrufen oder einfach entfernt werden sollen, nachdem die klinische Krankheit abgeklungen ist. Die retroviralen Partikel wurden mit Biorender.com erstellt

Für besagten Suizidgenansatz, aber auch andere Gentherapien, ist es wichtig, dass dem Patienten möglichst ausschließlich genetisch modifizierte Zellen infundiert werden. Um dies zu erreichen, werden mit dem Vektor neben dem therapeutischen auch spezielle „Markergene“ eingebracht, die eine Anreicherung der modifizierten Zellen ermöglichen. Zum Beispiel wurde in Hamburg für die Anreicherung gentechnisch veränderter primärer menschlicher T-Zellen eine verkürzte Form von CD34 (tCD34) entwickelt, wodurch eine hohe Reinheit (> 95 %) erreicht werden kann (Fehse et al. 2000) (siehe Abb. 3.4). Diese Expressionskassette wurde dann mit einer Variante des Ganciclovir-induzierbaren Selbstmordgens Herpes-Simplex-Virus-Thymidinekinase (scHSV-tk) gekoppelt, um ein tCD34-scHSV-tk-Fusionsprotein zu erzeugen, das von dem gammaretroviralen Hybridvektor MP71 exprimiert wird, der die MPSV-LTR und die MESV-Leader-71-Sequenz enthält (Fehse et al. 2002). Der in Deutschland entwickelte Vektor erwies sich bei einer in London durchgeführten klinischen Studie bei drei Kindern, die T-Zell-depletierte CD34-positive-HSC von nicht passenden Spendern erhielten, als praktikabel und sicher (Zhan et al. 2013).Footnote 52

Abb. 3.4
figure 4

Genetische Modifikation von therapeutischen Zellen für deren Aufreinigung

Therapeutische Zellen können mit retroviralen Vektoren modifiziert werden, die die Expression spezifischer Formen von Rezeptorproteinen ermöglichen, wie z. B. verkürzte Formen von CD34 (tCD34) oder des Nervenwachstumsrezeptors mit niedriger Affinität (ΔLNGFR). Gegen diese Oberflächenmoleküle gerichtete Antikörper können dann für eine In-vitro-Anreicherung genetisch modifizierter Zellen verwendet werden. Die retroviralen Partikel wurden mit Biorender.com erstellt

Eine multizentrische Phase-1–2-Studie mit einer klinischen Prüfstelle an der Medizinischen Hochschule Hannover untersuchte die Infusion von mit HSV-TK transduzierten Spenderlymphozyten bei 50 Hochrisiko-Leukämiepatienten nach haploidenterFootnote 53 Stammzelltransplantation (Ciceri et al. 2009).Footnote 54 Die Spenderlymphozyten wurden mit dem gammaretroviralen Vektor SFCMM-3 modifiziert, der das HSV-tk-Gen über den LTR exprimiert und ein anderes Markergen enthält, den „low affinity nerve growth factor“-Rezeptor (LNGFR). Dessen intrazelluläre Domäne wurde entfernt (ΔLNGFR), um die Aktivierung der Signalkaskade zu inhibieren, aber dennoch die Selektion der transduzierten Zellen über die extrazelluläre Domäne zu ermöglichen (siehe Abb. 3.4). Das Ausbleiben akuter oder chronischer unerwünschter Ereignisse beweist die Sicherheit dieses Gentherapieansatzes. Die Infusion von TK-modifizierten Lymphozyten schien die Immunrekonstitution zu beschleunigen, und die Induktion des Selbstmordgens kontrollierte erfolgreich die GvHD bei zehn Patienten mit akuter GvHD und einem Patienten mit chronischer GvHD (Ciceri et al. 2009; Weissinger et al. 2015). Obwohl das SFCMM3-basierte ATMP im Jahr 2016 eine bedingte Marktzulassung (CMA) in Europa (als Zalmoxis®) erhielt, wurde die parallele Phase-3-Studie abgebrochen und die CMA auf Antrag der Firma (MolMed) aus kommerziellen Gründen Ende 2019 zurückgezogen.

Um eine schnellere Eliminierung der veränderten Zellen bei niedrigeren Ganciclovir-Konzentrationen zu ermöglichen und somit die unspezifische Toxizität zu verringern, wurden von verschiedenen Gruppen optimierte Versionen des HSV-TK-Suizidgens entwickelt, wie z. B. TK.007, das in einer Kooperation zwischen dem UK Hamburg-Eppendorf, der Goethe-Uni in Frankfurt und dem Karolinska-Institut in Stockholm entstanden ist (Preuss et al. 2010, 2011).

6.2 Gentherapie bei Krebserkankungen

Um Krebserkrankungen mithilfe retroviraler Vektoren gezielt zu bekämpfen, macht man sich verschiedene der oben genannten Mechanismen zunutze. So wurde gezeigt, dass lentivirale Vektoren, die mit dem Glykoprotein des lymphozytären Choriomeningitis-Virus (LCMV) pseudotypisiert sind, bestimmte Arten von Hirntumoren (Gliome) und infiltrierende Tumorzellen effizient und selektiv transduzieren (Miletic et al. 2004). Diese Eigenschaft kann mit der Besonderheit des HSVtk-Suizidmechanismus gekoppelt werden, der sich nur gegen Zellen richtet, die sich teilen. Tatsächlich führte die Behandlung mit lentiviralen HSV-tk-Vektoren, die mit LCMV-G pseudotypisiert waren, zu einer vollständigen Remission von soliden Tumoren in einem Glioblastom-Xenograft-Modell (Huszthy et al. 2009).

Ein weiteres aktuelles und vielsprechendes Gebiet der Krebsgentherapie sind chimäre Antigenrezeptor(CAR)-Immunzellen, die Dennis Harrer und Hinrich Abken in diesem Themenband behandeln (siehe Kap. 10), weshalb diese hier nicht detailliert aufgeführt werden.

6.3 Gentherapie gegen die HIV-1-Infektion

Die Entdeckung der Mechanismen des Eindringens von Viren in Zielzellen kann auch dazu genutzt werden, Zellen vor Virusinfektionen, wie z. B. HIV-1, zu schützen. Das Hüllglykoprotein gp120 von HIV-1 bindet an die Rezeptoren der Zielzellen und bestimmt so das Wirtszellspektrum des Virus, wobei die Untereinheit gp41, das ein C-Peptidregion enthält, die Verschmelzung der Membranen von Virus und Zielzelle vermittelt (Wild et al. 1994). Dorothee von Laer konnte in Hamburg zeigen, dass die LTR-gesteuerte Expression einer membranverankerten Version vom C-Peptid T20 Zelllinien vor einer HIV-Infektion schützte, indem der Eintritt von HIV-1 in die Zelle wirksam durch Hemmung der Fusion der viralen Lipidmembran mit der Plasmamembran der Zielzelle blockiert werden konnte (Wild et al. 1994; Hildinger et al. 2001). Diese Strategie wurde noch weiter optimiert, um immunogene Nebenwirkungen zu minimieren, und die membranverankerten C-Peptide T20 (C36) und C46 hemmten die HIV-1-Infektion menschlicher primärer Blutlymphozyten, wobei C46 den Eintritt von C36-resistenten HIV-1-Varianten wirksam blockierte (Egelhofer et al. 2004). Die weltweit ersten klinischen Studien, in denen der C46-Vektor zur Modifikation autologer T-Zellen und Blutstammzellen benutzt wurde, wurden in Hamburg durchgeführt.Footnote 55

Von amerikanischen Kollegen wurde der von gp41 abgeleitete HIV-1-Eintrittsinhibitor in einen lentiviralen SIN-Vektor kloniert, der einen CMV-Promotor verwendet, um membrangebundenes C46 zu exprimieren. Dieses Konstrukt schützte primäre menschliche T-Zellen vor einer Infektion mit dem CXCR4-tropischen HIV-Stamm BK132 (Perez et al. 2005).

Eine präklinische Studie an einem Primatenmodell für HIV-1 und eine chimäre Infektion mit dem Affen-Immundefizienz-Virus (SIV)/HIV-1 zeigte, dass die Verwendung eines SFFV-promotorgesteuerten lentiviralen Vektors zur Modifizierung von HSC für die Transplantation in AIDS-Patienten, die sich einer Chemotherapie unterziehen müssen, durchführbar ist (Trobridge et al. 2009). Zusätzlich wurde eine mutierte Methylguanin-Methyltransferase (MGMTP140K) mit übertragen, um modifizierte HSC und ihre Nachkommen resistent gegen Chemotherapie zu machen. Damit konnte eine In-vivo-Anreicherung der genmodifizierten HIV-resistenten Zellen erreicht werden (Trobridge et al. 2009) (siehe Abb. 3.5).

Abb. 3.5
figure 5

Die genetische Modikation von Zellen schützt die Zellen vor einer Infektion

Die Expression oder der Knockout (KO) von Zelloberflächenmolekülen sind Strategien, die zum Schutz von Zellen vor einer HIV-Infektion eingesetzt werden können. So kann z. B. der Knockout der Zellrezeptoren CCR5 und CXCR4 Zellen vor einer HIV-1-Infektion schützen. Darüber hinaus kann die Modifizierung von Zellen zur Expression kleiner membrangebundener C-Peptide wie T20 und C46 ebenfalls eine HIV-1-Infektion modifizierter Zellen verhindern. Die retroviralen Partikel wurden mit Biorender.com erstellt

Die Beobachtung, dass drei HIV-Patienten (in Berlin, Düsseldorf und London) nach einer Transplantation mit hämatopoetischen Stammzellen, denen der HIV-Korezeptor CCR5 fehlt,Footnote 56 geheilt wurden, unterstützt nachdrücklich die Entwicklung weiterer neuartiger zell- und gentherapeutischer Strategien zur Behandlung von HIV-Patienten (Hutter et al. 2009; Jensen et al. 2023) (siehe Abb. 3.5). Solche Ansätze könnten therapeutisch wichtig sein, um die derzeitigen Herausforderungen wie die Nebenwirkungen der derzeitigen Standard-HIV-Behandlungen (antiretrovirale Therapie, ART), zunehmende Resistenzen gegen ART sowie die Kosten für das Gesundheitssystem zu überwinden, da die Zell- und Gentherapie eine einmalige Behandlung mit potenzieller Heilung bieten könnte. Deutsche Forschergruppen haben auch gezeigt, dass es möglich ist, spezifische Sequenzen in den LTRs des integrierten HIV-1-Provirus anzusteuern und HIV-1 aus infizierten Zellen zu entfernen (Hauber et al. 2013; Karpinski et al. 2016).

7 Ausblick: Retrovirale Gentherapie

Eine systematische Nutzen-Schaden-Bewertung wird auch weiterhin eine wichtige Komponente für die Umsetzung jeglicher retroviraler Gentherapieansätze sein. Retrovirale Vektoren wurden zur Behandlung von mehr als 400 Patienten mit monogenen Erbkrankheiten und von mehreren tausend Krebspatienten, z. B. mit CAR-T-Zellen, eingesetzt und weisen in vielen Fällen (wie z. B. in HSPC bei SIN-Vektoren) eine sehr gute Sicherheit und Wirksamkeit auf. Die klinischen Erfolge der Gen- und Zelltherapien führten zu einer gemeinsamen Erklärung des FDA-Kommissars Scott Gottlieb und des Direktors des Center for Biologics Evaluation and Research Peter Marks (CBER), die vorhersagten, dass ab 2025 jährlich 10 bis 20 neue Zell- und Gentherapieprodukte von der FDA zugelassen werden.Footnote 57

Die Entwicklung präziserer Instrumente zur Genomveränderung und Fortschritte in der biomedizinischen Technologie, einschließlich DNA/RNA-Sequenzierung und Proteomanalysen, schaffen neue Möglichkeiten zur Erkennung und Behandlung erworbener und vererbter Krankheiten. Mit der weiteren Unterstützung nationaler und internationaler Kooperationsnetzwerke zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung kritischer Infrastrukturen werden in Zukunft neue Therapieoptionen entstehen, die sichere und wirksame Gentherapien zur Heilung unheilbarer Krankheiten einschließen (siehe Abb. 3.6).

Abb. 3.6
figure 6

Überblick über aktuelle und potenzielle Anwendungen von Gen- und Zelltherapien

Mit retroviralen Vektoren (hier ein lentiviraler Vektor) können somatische Zellen wie hämatopoetische Stammzellen und Immunzellen verändert werden, die dann für eine Vielzahl klinischer Anwendungen in Patienten transplantiert werden können, darunter die Behandlung von monogenen Erbkrankheiten, Infektionen, Krebs, Fibrose, Autoimmun- und degenerativen Krankheiten