Dieses Buch versammelt Beiträge zur Beschreibung von Trends in der Religionslandschaft der Schweiz. Die vergleichende Betrachtung der Texte zeigt, dass sich die in den früheren Studien beschriebenen Trends in den letzten zehn Jahren weitgehend fortgeschrieben haben. Es ist zu einer weiteren Säkularisierung und religiösen Individualisierung gekommen. Die religiöse Praxis, der religiöse Glaube, die religiöse Zugehörigkeit, wie auch die Kirchenbindung haben weiter abgenommen, während die Rede von einer persönlichen Spiritualität zunimmt. Insofern zeigt unser Buch zunächst viel Bekanntes.

Im Vergleich zu den früheren Studien zur Religionslandschaft der Schweiz sind jedoch auch neue Gesichtspunkte und Einsichten entstanden. Wir weisen nur auf folgende hin:

(1) Säkularisierung auf individueller Ebene sollte man sich nicht primär als eine Abnahme der Religiosität von Personen im Erwachsenenalter vorstellen (obwohl auch dies vorkommen kann). Wichtiger scheint vielmehr die Tatsache, dass jede neue Generation etwas weniger religiös ist als die bisherigen. Durch die Tatsache, dass ältere, religiösere Generationen wegsterben und neue, weniger religiöse Generationen nachrücken, wird die Gesellschaft weniger religiös, auch wenn (im Extremfall) die Individuen ihr Religiositätsniveau über die Zeit konstant gehalten haben. Dies bedeutet, dass ein zentraler Erklärungsfaktor der Säkularisierung darin besteht, dass Religiosität von Eltern nicht mehr in derselben Intensität wie anhin an die Kinder weitergegeben wird (Kap. 2, 4, 6).

(2) Die Säkularisierung der Gesellschaft wird nicht durch einen Aufschwung einer individualisierten Religiosität («believing without belonging») oder einer holistischen (ganzheitlichen, esoterisch orientierten) Spiritualität wettgemacht. Christliche Glaubensüberzeugungen und christliche Praxis nehmen in gleicher Weise ab. Holistische Spiritualität weist über den beobachtbaren Zeitraum eine starke Konstanz auf, ist aber gesellschaftlich nicht sehr verbreitet (Kap. 2).

(3) Spiritualität ist ein in der sozialen Realität sehr vielschichtig verwendeter Begriff. Er wird zunehmend nicht nur vom holistischen Milieu verwendet, sondern kommt auch in den christlichen Kirchen, bei distanzierten Christ:innen und sogar bei säkular orientierten Menschen vor. Der Spiritualitätsbegriff darf also nicht auf eine esoterische Spiritualität verkürzt werden (Kap. 3, 4).

(4) Die wachsende Gruppe der Religionslosen zeichnet sich nicht etwa vor allem durch starke religiöse Sozialisierung aus, von welcher sie sich entrüstet abgewandt hätten. Vielmehr findet man bei ihnen im Durchschnitt eine besonders schwache oder gar keine religiöse Sozialisierung (Kap. 4).

(5) Die Großkirchen weisen nach wie vor ein gutes Image in Bezug auf ihr diakonisches Wirken auf. Sie werden als Institutionen gesehen, die Gutes tun und daher eine wichtige gesellschaftliche Funktion haben. Gleichzeitig verlieren die Kirchen jedoch über die Zeit an Vertrauen, und zwar vor allem bei Konfessionslosen. Da Vertrauen in die Kirchen stark mit persönlicher Religiosität und Kirchenmitgliedschaft korreliert ist, ist zu erwarten, dass die Säkularisierung in Zukunft zu einem weiteren Vertrauensverlust für die Kirchen in der Gesellschaft führen wird (Kap. 5).

(6) Die Identifikation mit den Großkirchen wird insgesamt schwächer. Entfremdung und Distanzierung von kirchlicher Religiosität kommt in großer Bandbreite vor, ohne dass darin ein bestimmbarer Kippmoment in Richtung Abbruch der Kirchenzugehörigkeit feststellbar ist. Die auf die Familienphase mit Kindern und Jugendlichen bezogenen Ritualangebote der Kirche fördern keine nachhaltige, die gesamte Biografie prägende persönliche Identifikation mit kirchlich gefasster Religiosität mehr und führen nicht mehr zu dauerhafter Stabilität der Kirchenbindung (Kap. 6).

(7) Religion und religiöse Themen bleiben ein wichtiger politischer Faktor in der Schweiz. Hierbei sind es jedoch in abnehmendem Maße die alten konfessionellen Gräben, welche die politische Meinung und das Abstimmungsverhalten der Individuen bestimmen. Vielmehr erhalten spezifische religiöse Themen (z. B. Minarettinitiative, Burkaverbot, Religionsfreiheit, Verhältnis von Kirche/Staat, Konzernverantwortungsinitiative) und Religion als soziale Identität («der Islam» als Bedrohung der «christlichen Schweiz») ein neues politisches Gewicht. Die Konflikthaftigkeit von Religion und Religionspolitik speist sich in der Schweiz damit stärker aus der Politik selbst als aus dem religiösen Feld und der gelebten Religion im Alltag (Kap. 7).

Unsere Analysen haben auch zu weiteren Fragen Anlass gegeben und neue Forschungsdesiderata sichtbar gemacht. Ein wichtiges, von uns nur sehr am Rand behandeltes Thema ist Religion und Migration. Da die MOSAiCH Daten nur eine begrenzte Fallzahl aufweisen, sind Mitglieder von Immigrationsgruppen meist nur in zu kleiner Anzahl vertreten, als dass sinnvolle statistische Analysen möglich wären. Ein weiteres Forschungsdesiderat zeigt sich mit Blick auf eine genauere Analyse des Verhältnisses von individueller Religiosität und Spiritualität. Die Komplexität dieses Verhältnisses wurde in dieser Publikation deutlich sichtbar und verlangt in der Folge nach weiterer Differenzierung und Klärung.

Welche Bedeutung haben die vorliegenden Ergebnisse? Wir gehen abschließend auf aus unserer Sicht bedeutende Folgen für die Individuen, die Politik, die Zivilgesellschaft, und die Religionsgemeinschaften ein.

Für die Individuen bedeutet die ständig zunehmende religiöse Säkularisierung und Individualisierung, dass sie ihren Lebenssinn zunehmend aus anderen, nichtreligiösen Quellen schöpfen. Ob dies als positiv oder negativ gewertet wird, hängt von den Werten ab, welche man zugrunde legt. Säkularisierende Gesellschaften produzieren jedenfalls nicht zunehmendes individuell erfahrenes Unglücklich-Sein. Auch kommt es durch Säkularisierung nicht unbedingt zu einer Verminderung von prosozialen Werten (wie z. B. anderen helfen, nicht lügen, sich verantwortungsvoll verhalten), wobei langfristig angelegte Studien dazu für die Schweiz fehlen. Zudem muss man sagen, dass Individuen in Not viele Anlaufstellen verlieren, wenn die Kirchen immer schwächer werden. Deren umfangreiche diakonische Arbeit, welche oft ehrenamtlich geleistet wird, muss bei weiter zunehmender Säkularisierung durch andere, nichtreligiöse, im Zweifel staatliche Institutionen geleistet werden – oder sie wird entfallen.

Mit Blick auf die Politik bedeuten zunehmende Säkularisierung und religiöse Individualisierung, dass die staatliche Regulierung des Verhältnisses zu den Religionsgemeinschaften evtl. stärker angepasst werden muss. Das war schon ein wesentliches Ergebnis des Nationalen Forschungsprogramms 58 zu Religion in der Schweiz.Footnote 1 In der Schweiz ist das Kirche-Staat-Verhältnis bislang durch die Kantone geregelt, d. h. es ist in jedem der 26 Kantone mehr oder weniger unterschiedlich ausgestaltet. In einigen Kantonen herrscht eine stärkere Trennung vor (Genf, Neuchâtel), in der Mehrzahl zeigen sich jedoch weiterhin starke Verbindungen von Staat und den etablierten Religionsgemeinschaften. In den meisten Kantonen sind die Reformierte Kirche, die Römisch-Katholische Kirche und manchmal auch die Christkatholische Kirche und jüdische Gemeinschaften öffentlich-rechtlich anerkannt.Footnote 2 Wenn die Anzahl von religionslosen Personen und Mitgliedern von Religionen, die nicht anerkannt sind, ständig zunimmt, müssen Politik und Recht hierauf reagieren. Konkret sind in der Schweiz verschiedene Wege eingeschlagen worden. Einerseits wird das Verhältnis von Kirche und Staat vorsichtig gelockert (so etwa in den Kantonen Bern und Zürich geschehen); andererseits wird eine öffentlich-rechtliche Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften diskutiert (etwa im Kontext der Verfassungsrevision im Kanton Luzern) oder neu eine öffentliche oder kleine Anerkennung geschaffen, die dann auch nicht-christlichen Religionsgemeinschaften zuteil wird (Vorreiter ist hier der Kanton Basel Stadt). Schließlich zeichnen sich in der jüngeren Zeit zunehmend Bemühungen ab, unterhalb der Ebene der staatlichen Anerkennung produktive Beziehungen der kantonalen Behörden mit kleineren, und hier vor allem muslimischen Religionsgemeinschaften zu etablieren. Angedacht ist auch, dass der Bund, wie in anderen Politikfeldern, eine Art Rahmengesetzgebung zur Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften schafft, indem er den einschlägigen, mittlerweile wohl veralteten, weil ausschließlich christentumsbezogenen Art. 72,1 der Bundesverfassung reformiert. Welcher dieser Wege zielführender ist, ist eine offene Frage, aber es darf als sicher gelten, dass die Anpassung in der einen oder anderen Art und Weise in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen wird, denn die wachsende religiös-weltanschauliche Diversität der Schweiz erfordert weitere Schritte, um die gesellschaftliche Integration und den sozialen Zusammenhalt zu fördern.

Für die Zivilgesellschaft entsteht eine doppelte Frage. Erstens stellen Kirchen und Religionsgemeinschaften im Schweizer Kontext traditionell eine wichtige Gelegenheitsstruktur für Begegnung, Engagement und unbürokratische Hilfe dar. Wie bereits angesprochen, ist das Schwinden der Bindungen an die Landeskirchen nicht nur eine Frage der individuellen Präferenzen. Die Entkirchlichung hat auch Konsequenzen für die Zivilgesellschaft und das Sozialkapital der Schweizer Gesellschaft, deren Umfang und Reichweite freilich wissenschaftlich noch einmal genauer abzuschätzen wäre. Und zweitens wächst mit der Säkularisierung wie der gleichzeitig wachsenden, meist migrationsbedingten religiösen Diversität der Bedarf nach Verständigung zwischen Menschen unterschiedlichster, stärker oder schwächer identifizierbarer religiöser, spiritueller oder säkularer Identitäten. Vorstellbar ist, dass sich durch Säkularisierung zunehmend ein Graben zwischen religiösen und säkularen Menschen auftut. Es ist auch nicht auszuschließen, dass die zunehmende religiöse Pluralisierung zu Spannungen zwischen verschiedenen Religionen führt, insbesondere wenn berechtigte Anerkennungsansprüche von religiös-ethnischen Minderheiten nicht nur rechtlich, sondern vor allem auch sozial und politisch anhaltend verweigert werden. An dieser Stelle gibt es einen zunehmenden Bedarf für verschiedene Formen des ökumenischen, interreligiösen, und religiös-säkularen Dialogs.

Für die Religionsgemeinschaften, und insbesondere die Großkirchen, bedeuten zunehmende Säkularisierung und Individualisierung eine große Herausforderung. Einerseits können die Großkirchen zwar noch auf ein gutes Image in Bezug auf ihr diakonisches Handeln zählen, sie werden als Akteurinnen gesehen, die der Gesellschaft gute Dienste leisten, andererseits werden sie als zunehmend weniger wichtig eingeschätzt – und dies scheint sich mit jeder neuen Generation leicht zu verstärken. Bei kleineren Religionsgemeinschaften stellt sich die Situation anders dar. Sie stehen insbesondere bei einem Migrationshintergrund vor hohen Hürden im Blick auf Ressourcen für ihre Seelsorge wie für ihre soziale und rechtlichen Anerkennung.

Gerade für die Kirchen erweist sich Vertrauen als eine kostbare Ressource, die durch fehlende Nähe zu den Bedürfnissen der Gläubigen sowie Fehlverhalten der Entscheidungsträger:innen und kirchlichen Organe leicht verspielt werden kann. Auch wenn die Kirchen für sich selbst entscheiden, wie sie die Vertrauensressource pflegen möchten, sind sie doch auch Teil einer Umwelt, auf die sie nur geringfügig Einfluss nehmen können. Mit Blick auf die Kirchen geht es insbesondere um die Megatrends der Modernisierung sowie der Säkularisierung. Auch mit einer noch so guten Strategie und dank eines noch so sorgsamen Umgangs mit Vertrauen lassen sich diese Trends nicht umkehren. Dennoch kann man natürlich bessere oder weniger gute kirchliche Angebote machen. Erste Forschungen zeigen, dass die Kirchen auf die Einschränkungen der Covid-19-Pandemie durchaus auch innovativ reagiert und neue, digitale Formen ihrer Tätigkeit gefunden haben.Footnote 3 Und schließlich gilt, dass die bisher beobachteten Trends bei aller Nachhaltigkeit doch keine Naturgesetze sind. Die Zukunft wird zeigen, wie die Bevölkerung in der Schweiz über ihre Religionen befindet und somit darüber, wie die Trends sich weiterentwickeln und wo sie zukünftig vielleicht eine neue Richtung nehmen. Der Bedarf nach Sinn, Gemeinschaft und zivilgesellschaftlichem Engagement in einer ausdifferenzierten, individualisierten und vor allem zunehmend mediatisierten Gesellschaft wird eher steigen. Und falls die hier verfolgte wissenschaftliche Tradition wie geplant und erhofft fortgeführt wird, wird in zehn Jahren ein weiteres Buch in unserer Reihe darüber Auskunft geben können, wie es um Religion in der Schweizer Gesellschaft bestellt ist. Das vorliegende Buch unterstreicht in seiner Vielfalt an Perspektiven und Themen, dass die Religionssoziologie und ihre Nachbardisziplinen sowohl an diesen Wandel rückgebunden sind als auch Orientierungspunkte in einer komplexen Religionslandschaft Schweiz vermitteln können.