Zusammenfussang
Achter, Felsrouten, Sloper oder Technik – das Vokabular der Sportkletterszene ist reichhaltig, die damit verbundene Wertung nicht immer offensichtlich. Die hier vorgestellte Szene ist ein spannendes Phänomen, da Menschen freiwillig und aus hedonistischen Gründen partizipieren, obwohl (oder weil) sie einem Wertungsregime unterliegen.
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Notes
- 1.
Unter „Szene“ verstehe ich modernisierungstheoretisch und in Anlehnung an Hitzler/Niederbacher (2010) posttraditionale Gesellungsgebilde, denen Menschen weniger aufgrund von traditionalen Verpflichtungen, sondern vielmehr aufgrund von posttraditionalen ‚Verführungen‘ angehören.
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- 3.
Während Bohrhaken verlässlich, fest und dauerhaft in einer Felswand fixiert werden, können sogenannte „mobile“ Sicherungsgeräte, die symptomatisch beim „traditionellen“ Klettern verwendet werden, unter Belastung verrutschen oder herausbrechen. Da „traditionell“ Kletternde mit ebendieser Herausforderung agieren wollen, werfen sie Sportkletternden mitunter fragwürdige Werte und eine mangelhafte Moral vor. Hierzu ausführlich: Bogardus 2012.
- 4.
Der vorliegende Aufsatz weist einige Parallelen zu anderen von mir verfassten Publikationen auf. Bereits thematisiert habe ich den Umgang mit materialen Artefakten und Bilddaten (Kirchner 2019a), die Differenzierung nach Akteurstypen und Geschlechterkategorien (Kirchner 2019b) sowie das szenespezifische Körperhaben und Leibsein (Kirchner 2018a). Die umfangreichste Darlegung meiner Forschungsarbeit findet sich in Kirchner 2018b.
- 5.
Mein Datenkorpus umfasst leitfadengestützte Interviews, quasinatürliche Text- und Bilddaten, Beobachtungsdaten und Erlebensdaten. Laut eigener Angaben klettern die drei von mir befragten Frauen und die drei befragten Männer bereits seit mehreren Jahren und verorten sich selbst – mehr oder minder explizit – über dem Anfängerniveau. Die Zusammensetzung meines Samples hat sich zum einen über das ‚Schneeballprinzip‘, d. h. über Empfehlungen von Feldkontakten, ergeben. Zum anderen habe ich absichtlich keine ‚Neulinge‘ befragt, weil bereits in ersten Gesprächen auffiel, dass sie nicht über diejenigen Wissensbestände verfügen, um das feldrelevante Können zu reflektieren und zu verbalisieren.
- 6.
Als Feld verstehe ich (im ethnographischen Sinne) einen sozialen – für die beforschten Menschen „natürlichen“ – Kontext, in dem Menschen spezifische Handlungs- und Deutungsmuster als relevant setzen und/oder diese als selbstverständlich erachten. Menschen eines Feldes teilen außerdem spezifische Werte und Normen. Das hier thematisierte exemplarische Feld ist – in Anbetracht der wenig regulierten und formalisierten Zugehörigkeitskriterien – als ‚Szene‘ zu bezeichnen. Während ich also den Feldbegriff nutze, um mein Untersuchungsphänomen für methodische und methodologische Überlegungen abzustecken, beinhaltet der Szenebegriff bereits eine von mir vorgenommene soziologische Theoriegenese.
- 7.
Als erfolgreicher „Durchstieg“ wird die Begehung einer Route bezeichnet, die weder durch Fallen noch durch unerlaubte Pausen unterbrochen wurde.
- 8.
Das Klettern am „langen“ Arm wird oft mit dem kraftsparenden Tragen von Einkaufstaschen verglichen. Da die Muskulatur beim Klettern wie auch beim Tragen mit angewinkelten Armen rasch ermüdet, ist der „lange“ Arm die effizientere und auch angesehenere Haltung.
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Reiner Keller und Michael Meuser (2011) verstehen unter „Körperwissen“ das Wissen vom Körper und das Wissen des Körpers. Unter Letzterem werden reflexartige Körperreaktionen gefasst wie das Verengen der Pupillen bei Lichteinfall oder das Abstützen der Hände beim Fallen. Auch das reflexartige Greifen, das beim Klettern genutzt wird, zählt zum Wissen des Körpers.
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Offizielle Ranglisten existieren im Feld des Kletterns ausschließlich in den höchsten Schwierigkeitsgraden. Da ich in den nunmehr zehn Jahren meiner Feldteilhabe keine grundsätzliche Relevanz der Weltbesten für das je individuelle Tun feststellen konnte, verzichte ich auf eine Betrachtung dieser gesonderten Form der Wertung.
- 11.
Das ‚fremde‘ Bewegen ist nicht zwingend fremdartig. Hiermit möchte ich lediglich auf die Differenz zwischen je eigenem Tun und dem Tun von anderen Menschen hinweisen. Während das Individuum das eigene Tun auch erleben kann, kann es das ‚fremde‘ Tun lediglich (mittels visueller und akustischer Wahrnehmung und in Gesprächen) erfahren, nicht aber leiblich spüren.
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Kirchner, B. (2021). Wertungskompetenz in Szenen. Dimensionen und Paradoxien der Wertung im Sportklettern. In: Berli, O., Nicolae, S., Schäfer, H. (eds) Bewertungskulturen. Soziologie des Wertens und Bewertens. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-33409-3_6
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