FormalPara Steckbrief

Unternehmen

ANDREAS STIHL AG und Co. KG, Waiblingen

Maschinenbau, ca. 17.000 Mitarbeiter weltweit

Bereich Forschung und Entwicklung,

Erprobung & Mess- und Prüfstandstechnik

Auftrag

Zuverlässige Bedienung und lokale Systembetreuung einer neu eingeführten automatisierten Messsoftware und -hardware an drei Standorten

Rollen

Lernende: Versuchs-Ingenieure und -Mechaniker der drei Standorte

Begleitende:

• Fachliche Begleiter: vier Versuchs-Ingenieure und -Mechaniker des Hauptstandorts, später jeweils zwei lokale Administratoren

• Methodische Begleitung: pro Lernprojekt ein methodischer Begleiter, unternehmensintern. Insb. in der Vorbereitungsphase methodische Unterstützung durch unternehmensexterne Begleiterin

Auftraggebende: Übergreifend die Leiter der Erprobung weltweit, für die Anwender-Trainings zudem die lokalen Entwicklungsleiter

Ablauf

Das agile Lernen fand in Vollzeit statt, um rechtzeitig vor dem Roll-Out des Messsystems fertig zu werden.

Schritt 1: Administratoren-Training am Hauptstandort in 6 Lernetappen à 1,5 Tage innerhalb von 2 Wochen

Schritt 2: Lokale Anwender-Trainings an drei Standorten durch die in Schritt 1 ausgebildeten Administratoren: 3 Lernetappen à 1,5 Tage innerhalb von 1 Woche. Anschließend lokale und arbeitsintegrierte Follow-Up-Schleifen zur Vertiefung.

Technik

• Analoges Kanban-Board zur Abbildung der Lernaufgaben

• Sharepoint zur zentralen Ablage von Lernunterlagen und relevanten Unternehmensdateien/-vorschriften etc.

Besonderheiten

• Übertragung des Train-The-Trainer Konzepts auf agiles Lernen

• Alle beteiligten Rollenträger intern besetzt und dezentral organisiertes agiles Lernen

• Sehr heterogene Lernteams: Multinational und berufsgruppenübergreifend

1 Umsetzung

Anlass und Vorgeschichte

Im Rahmen der Produktentwicklung erprobt STIHL Prototypen an mehreren Standorten. Eine am Hauptstandort entwickelte und bereits viel genutzte Ausrüstung für Prüfkabinen sollte an drei weiteren Standorten eingeführt werden. Die Ausrüstung umfasste eine neue Messsoftware und -hardware, welche eine automatisierte Durchführung von Produkttests und Versuchen ermöglicht. Wichtig dabei waren einheitliche Prozesse, zuverlässige Ergebnisse und eine hohe Datenqualität über die vier Standorte hinweg, weil die Messergebnisse und Auswertungen aller Standorte am Hauptstandort zusammengeführt werden. Auf Basis dieser Ergebnisse werden wichtige Entscheidungen zur Beurteilung der Produkte gefällt und es wird über Marktfreigaben entschieden.

Um eine einheitlich hohe Mess- und Datenqualität an allen Standorten zu erreichen, ist entscheidend, dass das neue System korrekt bedient und betreut wird. Dazu mussten die Versuchsingenieure und -mechaniker in die Lage versetzt werden, das System produkt- und versuchsabhängig korrekt anzuwenden. Dazu gehören präzise Einstellungen und eine vorschriftsmäßige Versuchsbetreuung mit dem neuen System. Zudem mussten die Abläufe so verstanden werden, dass bei neu zu prüfenden Produkten eigenständiges Transferwissen abrufbar war und nicht bei jeder neuen Anforderung der Hauptstandort um Unterstützung gebeten werden musste. Alle Bediener mussten den Arbeitsprozess rund um die Anwendung des Systems verinnerlicht haben, um eine hohe Datenqualität zu gewährleisten.

Außerdem musste das System an den einzelnen Standorten zuverlässig betreut werden. Dazu zählten Fehlerbehebungen am System, Wartung, Installationen etc., welche nicht alle von den Spezialisten des Hauptstandortes durchgeführt werden können. Deshalb wurden pro Standort zwei Versuchsingenieure als Administratoren des neuen Systems benannt. Für diese zukünftigen System-Administratoren stellte die neue Verantwortung eine Erweiterung ihrer bisherigen beruflichen Rolle dar und sie benötigten entsprechende Kompetenzen.

Vorbereitung des Lernens

Zunächst wurde überlegt, mit welcher Besetzung und mit welchen Ressourcen das agile Lernen aufgesetzt werden sollte. Wer sind wirklich die Experten für das System? Wer schult wen? Diese Überlegungen fanden bereits frühzeitig und mit Blick auf die Planung des System-Rollouts statt. Das Ergebnis: Das agile Lernen sollte in zwei Schritten durchgeführt werden.

  • Schritt 1: Die zukünftigen Administratoren der drei anderen Standorte kommen an den Hauptstandort. Sie lernen das neue System zu bedienen und zu betreuen und werden auf ihre neue Rolle vorbereitet. Zudem vernetzen sie sich. Die fachliche Expertenrolle soll mehrfach besetzt werden: Einerseits erfahrene Versuchs-Ingenieure und -Mechaniker der deutschen Erprobungsabteilung, welche den Teil Systembedienung abdecken und andererseits spezialisierte Messtechniker, die für das Rollout und die weltweite Betreuung des Systems zuständig sind.

  • Schritt 2: Die nun ausgebildeten Administratoren nehmen die Rolle des fachlichen Begleiters für das agile Lernen an ihrem Standort ein. In diesen lokalen Runden durchlaufen ihre Kollegen (jeweils 1–2 Lernteams) das agile Lernen zur Systembedienung. Alle sollen dazu in der Lage sein, die automatisierte Messsoftware am eigenen Standort im Alltag zu bedienen und in unterschiedlichsten Kontexten zur Anwendung zu bringen.

Die inhaltliche Vorbereitung für das Administratoren-Training erfolgte am Hauptstandort. Gemeinsam mit der externen Begleiterin haben die Experten die Bedienung des Systems entlang der Arbeitsprozesse analysiert. Welche Schritte gibt es bei der automatisierten Versuchsdurchführung? Worauf ist jeweils zu achten? Welches Erfahrungswissen bringen die Beteiligten des Hauptstandortes wie selbstverständlich ein – müssen es an den drei anderen Standorten aber erst noch aufbauen? Diese und andere Fragen wurden strukturiert beantwortet. Darauf aufbauend wurden die Lernaufgaben mit anwendungsorientierten Akzeptanzkriterien definiert. Neben Aufgaben zum reinen Wissensaufbau gab es zahlreiche Anwendungssituationen und -beispiele, für die die Lernenden die Messsoftware in den Versuchskabinen des Hauptstandortes bedienten. An den Messsystemen, die später an die einzelnen Standorte versendet wurden, führten die Lernenden verschiedene Messungen und zahlreiche Versuche durch. Zu den praxisorientierten Lernaufgaben gehörte u. a. eine Versuchskabine sowie die Maschine für einen Versuch vorzubereiten oder Grenzwerte für die bevorstehende Messung zu bestimmen und einzustellen. Die fachlichen Begleiter simulierten darüber hinaus Systemfehler, die die Lernenden im Rahmen von weiteren Lernaufgaben beheben mussten. Das agile Lernen hatte damit einen äußerst hohen Praxisbezug, weil es die Lernenden in hohem Maße zum praktischen Anwenden aufforderte. Außerdem deckten die Lernaufgaben das Einüben der neuen Rolle als Systembetreuer vor Ort ab. Insgesamt entstanden daraus 69 Lernaufgaben, welche von den zukünftigen Administratoren im Rahmen des Administratoren-Trainings abzuarbeiten waren. Abb. 3.1 zeigt eine beispielhafte Lernaufgabe zur Temperatur- und Drehzahlmessung mit dem neuen System (Jungclaus et al. 2019).

Abb. 3.1
figure 1

Beispielhafte Lernaufgabe aus dem agilen Lernen zur Messsoftware bei STIHL (entnommen aus Jungclaus et al. 2019)

2 Los geht’s: Administratoren-Training am Hauptstandort

Obwohl die Teilnehmer des Administratoren-Trainings sich überwiegend nicht kannten und aus drei Nationen stammten, fanden sie sich sehr schnell als Team und identifizierten sich mit gemeinsamen Zielen. Hierfür schienen die Durchführung des Trainings in Vollzeit und Präsenz, die praxisnahen Lernaufgaben sowie die hohe Eigenaktivität der Lernenden besonders förderlich gewesen zu sein. Die selbstgestaltete Lernzeit war von hohem Ehrgeiz geprägt. Die Lernstrategien wurden dabei laufend reflektiert und angepasst.

So erkannten die Lernenden in der ersten Etappe einen zu hohen Anteil an Erklärungen des fachlichen Begleiters. In der zweiten Etappe nahmen sie sich daher vor, konsequent auf den fachlichen Begleiter zu verzichten und sich ausschließlich an den vorhandenen Lernunterlagen zu orientieren. Hierbei stellten sie jedoch fest, dass sie zu wenig Vorwissen in diesem speziellen Thema hatten und passten ihr Vorgehen in Etappe 3 abermals an. Sie wollten bei jeder Lernaufgabe zunächst ausprobieren, ob sie die Akzeptanzkriterien mit Hilfe der vorhandenen Dokumentationen und ihrem Vorwissen erfüllen können. Erst dann sollte die fachliche Begleitung auf Anfrage hinzugezogen werden, jedoch mit einem Zeitlimit, um sich die Lösungen am Ende selbst zu erarbeiten und Ergebnisse zu dokumentieren.

In allen weiteren Etappen waren die Teilnehmer äußerst zufrieden mit der gefundenen Mischung aus Unterstützung und Selbststeuerung und behielten diese Strategie bei. Die Lernenden sahen das Review als einen der wertvollsten Bestandteile im agilen Lernen: Hier gewannen sie Sicherheit in den Inhalten und konnten sich gezielt mit den fachlichen Begleitern austauschen. Die Lernform agiles Lernen wurde erstaunlich schnell und gut angenommen und umgesetzt (Abb. 3.2).

Abb. 3.2
figure 2

Das multinationale Lernteam arbeitete mit einem analogen Kanban-Board

Lokale Anwender-Trainings

Direkt vor der Inbetriebnahme des Systems im jeweiligen Land fanden lokale Anwender-Trainings statt. Hierfür schlüpften alle ehemaligen Lerner in die Rolle des fachlichen Begleiters. Dafür wurden insgesamt 36 Lernaufgaben aus den bereits definierten und erprobten Lernaufgaben zur Systembedienung ausgewählt und in die jeweilige Landessprache übersetzt. Während des agilen Lernens für Administratoren hatten die Lernteams standortspezifische Dokumentationen zur Messsoftware erstellt – ebenfalls in ihrer Muttersprache –, welche in den Anwendertrainings als weitere Lernunterlagen zur Verfügung standen. Alle Anwendertrainings dauerten eine Woche, in der die Lernaufgaben in drei Lernetappen zu je 1,5 Tagen bearbeitet wurden. Dadurch, dass die jeweiligen Administratoren zuvor selbst in der Rolle des Lernenden gewesen waren, konnten sie den Anwendern neben der fachlichen Unterstützung auch Tipps zur Herangehensweise an bestimmte Lernaufgaben geben.

Wie in den Administratoren-Trainings wurde auch in den lokalen Anwender-Trainings positiv hervorgehoben, dass die zu lernenden Aufgaben große Arbeitsplatznähe hatten und passgenau auf die Versuchsdurchführung konzipiert worden waren.

Vertiefung und Verankerung durch geplante Wiederholungen im Alltag

Im Anschluss an die Anwender-Trainings wurde die Messsoftware am jeweiligen Standort in Betrieb genommen. Die Versuchs-Ingenieure und -Mechaniker fühlten sich durch das intensive und praxisorientierte Lernen in Vollzeit gut auf die Bedienung der Messsoftware vorbereitet. Allerdings konnten sie im Rahmen des Anwender-Trainings noch keine Routine entwickeln. Aus diesem Grund wurden lokale Follow-Up-Schleifen in Form von arbeitsintegriertem agilen Lernen aufgesetzt. Sie dienten der Vertiefung und Verankerung durch geplante Wiederholungen und dem Austausch im Alltag. Abb. 3.3 zeigt die Struktur des Anwender-Trainings eines Standorts.

Abb. 3.3
figure 3

Struktur und Ablauf des Anwender-Trainings

Das Vollzeit-Lernen fand im November 2018 statt. Im Dezember trafen sich die Anwender, die fachliche und die methodische Begleitung zur Planung des ersten Follow-Ups. Das Team wählte aus den 36 Lernaufgaben insgesamt sieben Aufgaben aus, die sie in der anschließenden vierwöchigen Lernetappe selbstorganisiert im Arbeitsalltag wiederholen wollten. In diesem Follow-Up wurde außerdem eine zusätzliche Lernaufgabe bearbeitet, die im Vollzeit-Training noch nicht bearbeitet werden konnte, weil dazu benötigtes technisches Equipment noch nicht verfügbar war. Das zweite, achtwöchige Follow-Up erfolgte ebenfalls arbeitsintegriert. Das Lernteam setzte sich zum Ziel, alle praxisorientierten

Lernaufgaben zur Messsoftware erneut durchzuführen. Diese Lernaufgaben wurden nun mit einer Motorsäge durchgeführt (im Vollzeit-Training wurde eine Motorsense verwendet).

Es hat sich gezeigt, dass das agile Lernen sich äußerst gut zur Vertiefung und Wiederholung im Alltag eignet. Die Lernenden haben die Messsoftware im Anschluss an das Vollzeit-Training in ihren Projekten bedient. Durch die Follow-Up-Schleifen setzten sie sich darüber hinaus in strukturierter Form mit den Inhalten auseinander und reflektierten ihre Ergebnisse gemeinsam.

3 Beobachtungen und Lessons Learned

Agiles Lernen, Qualitätssicherung und Organisationslernen

Bereits während der Vorbereitungsphase am Hauptstandort waren Potenziale zur Prozessoptimierung für die Forschung und Entwicklung identifiziert worden.

Zur Definition der Lernaufgaben war es erforderlich, den Prozess zur Gerätemessung – wie er typischerweise am Hauptstandort gelebt wird – ausführlich zu dokumentieren. Dies führte auch zu einer Verbesserung der Arbeitsabläufe am Hauptstandort, denn der systematische und extern begleitete Austausch zeigte mehrere Optimierungspotenziale für die Abläufe und Prozesse auf.

Im sich anschließenden agilen Lernen – sowohl am Hauptstandort als auch an den anderen beiden Standorten – wurden die Prozesse aus der Perspektive der Administratoren und der lokalen Anwender durchlaufen. In dieser Schulungsphase taten sich weitere Optimierungsmöglichkeiten auf. Diese wurden während und nach der Lernphase im neu entstandenen Expertennetzwerk zur Systembetreuung, d. h. zwischen den System-Administratoren aller Standorte ausgetauscht und systematisch angegangen. Durch den Übertrag der Prozesse des Hauptstandortes an die anderen Standorte und die Möglichkeit, Erfahrungswissen auszutauschen, trug das agile Lernen zur unternehmensweiten Qualitätssicherung bei.

Agiles Lernen macht Heterogenität nutzbar

Das Beispiel der automatisierten Messsoftware zeigt, dass es hilfreich ist, Lernteams möglichst gemischt zusammenzusetzen: Im Administratoren-Training gab es nicht nur verschiedene Nationalitäten, die sechs Lernenden waren außerdem Akademiker und Nicht-Akademiker. Sie hatten alle einen technischen Hintergrund, jedoch völlig unterschiedliche Schwerpunkte und Vorerfahrungen. Lernteammitglieder mit einer gewerblichen Ausbildung im elektronischen Bereich hatten es mit Lernaufgaben zur Fehlerbehebung im Messsystem leichter, wohingegen beispielsweise ein Industriemechaniker bereits ausgiebige Kenntnisse im Umgang mit Versuchsmaschinen und Prototypen einbrachte.

Das führte dazu, dass sich die Teilnehmer im Lernen gegenseitig unterstützen konnten. Sie wuchsen als Lernteam schnell zusammen und legten damit den Grundstein dafür, auch später im Arbeitsalltag enger zusammenzuarbeiten und etwaige Probleme mit der Messsoftware standortübergreifend zu lösen.

Ein Aufwand, der sich lohnt

Der Zeitaufwand für das agile Lernen war in der ersten Phase sehr hoch. So investierten die vier fachlichen Begleiter des Hauptstandorts zusammen 140 Stunden in die Vorbereitung des agilen Lernens. Dieses Zeitbudget umfasste die Prozessanalyse, die Erstellung der 69 Lernaufgaben und die Erstellung weiterer Lernunterlagen. Die Durchführung des Administratoren-Trainings war mit insgesamt zwei Wochen Vollzeit ebenfalls umfangreich, doch der Output rechtfertigte dies: Die Administratoren lernten die neue Messsoftware zu betreuen und situationsabhängig zu bedienen; sie lernten, die neue Rolle als Administrator anzunehmen, und sie konnten ihr neu erworbenes Wissen – im anschließenden agilen Lernen an den Standorten – an die Kollegen vor Ort weitergeben. Auf diese Weise wurde in der Folge viel Arbeitszeit eingespart, die ansonsten für häufige Rückfragen an den Hauptstandort zur Problemlösung angefallen wäre.

Die Vorbereitungsarbeiten kamen auch den lokalen Anwender-Trainings zu Gute und dienen fortan als gemeinsame Grundlage zum Austausch über die automatisierte Messsoftware. Darüber hinaus war das Erkennen der Optimierungspotenziale von Abläufen und Prozessen ein wertvoller Zusatznutzen für das Unternehmen.

Fazit

  • Agiles Lernen kann standortübergreifende Roll-Outs zielgenau unterstützen.

  • Es hat dann auch das Potenzial, Organisationslernen anzustoßen.

  • Die Übertragung des Train-The-Trainer-Konzepts auf das agile Lernen funktioniert und lohnt sich.

  • Agiles Lernen fördert die Selbstlernkompetenz.