Zusammenfassung
Der Beitrag nimmt Praktiken des Wahrnehmens auf dem schmalen Grad der Genese kunstvoller und kommerzieller Musik in den Blick und fragt, wann das Erzeugnis von Künstler*innen im Zusammenspiel der wahrnehmenden Sinne Kunst ist. Die Antwort wird aus einem Begleitforschungsprojekt zu einer Ausstellung über die Neue Deutsche Welle im Osthausmuseum der Stadt Hagen extrahiert. Aus dem empirischen Material werden Praxisformen des Wahrnehmens als Bedingungsformen von Populärkultur als Kunst herausgearbeitet. Neben avantgardistischen geraten verstärkt populärkulturelle Praktiken der Affizierung und deren physisch-materielle Praxisdimensionen in den Fokus und erhellen die fluide Grenzregion zwischen Kunst und Pop. Um dem künstlerischen Potential der Popmusikpraxis von Bands wie Extrabreit, Ideal aber auch Nena auf die Spur zu kommen, wird in praxistheoretischer Perspektive auf der Folie der Arbeiten von Reckwitz (2015), Liegl (2015) oder Seyfert (2012) insbesondere nach dem Stellenwert des Affektiven im Rahmen der spezifischen Vollzugspraxis gefragt und die These verfolgt, die Kunst begründende kritisch soziale Praxis offenen Ausgangs, liege insbesondere in der Affektivität popmusikalischer Praxis.
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Notes
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Neue Deutsche Welle – im Folgenden NDW – ist eine Bezeichnung für die deutschsprachigen Ausläufer von Punk und New Wave, die sich Ende der 1970er Anfang der 1980er Jahre in Deutschland zu einem eigenständigen Musikstil verselbstständigte.
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Ausstellung „Komm nach Hagen, … mach dein Glück! 01.09.–04.11.2018, Osthausmuseum Hagen.
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Denkt man beispielsweise an die frühe Thematisierung bei Marx, der die menschlichen Sinne im Vollzug der Praxis stets in Beziehung zur materiellen Welt dachte (Marx 1998), S. 19 f.).
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Das Antonym von Wahrnehmen ist dabei nun gerade nicht eine Praxis des „falsch gebens“, sondern die Praxis des Unbemerkt-Bleibens. Wie bereits angedeutet, setzt auch ein Ignorieren von Reizen, deren vorheriges Wahrnehmen voraus, da es sich um einen Prozess der Sperrung gegenüber einem wahrgenommenen Eindruck handelt, bei dem die Delle von machtvollen Diskursen lediglich wieder ausgebeult wird.
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Vgl. bspw. die Performances des Konzert Violinisten Joshua Bell in einem U-Bahn Bahnhof in Washington D.C., im Vergleich zu den Performances des Pianisten Henri Herbert und eines anonymen Pianisten, indem die Wahrnehmung der musikalischen Praxis als etwas Kunstvolles u. a. erst durch die Smartphones des Auditoriums hergestellt wird (PBS News Hour 2014; Herbert 2016; Phantom Piano 2018).
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Die als Avantgarde Band angekündigten „Einstürzende Neubauten“ bespielten die Elbphilharmonie Hamburg im Rahmen des Eröffnungsfestivals im Großer Saal am 21.01.2017.
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Dabei ist der vielfach begangene Fehler zu umgehen, aufgrund der Beobachtbarkeit am und im Körper Affizierungen als vorsozial zu fassen. Affizierungen ereignen sich bzw. werden erfahr- und beobachtbar im menschlichen Körper und machen Affekte somit zu Phänomenen des Visceralen. Wegen der Inkorporierung des Sozialen sind sie deshalb keineswegs vorsozial.
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Den Kontext zur Situation liefert eine Hausbesetzung in der Bismarckstraße in Hagen und ein Benefiz-Konzert von Extrabreit in der Sumpfblüte, dessen Erlös an die Hausbesetzer*innen übergeben wurde.
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Schäfer, F. (2021). Avantgarde oder Pop – Sinnliche Wahrnehmung und diskursive Verortung der Praxis der Neuen Deutschen Welle zwischen Kunst und Kommerz. In: Schürkmann, C., Zahner, N.T. (eds) Wahrnehmen als soziale Praxis. Kunst und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-31641-9_8
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