Die Beobachtung, dass durch Definitionsprozesse bestimmt wird, was als ein soziales Problem gilt und dass die Durchsetzbarkeit jeweiliger Definitionen von Definitionsmacht abhängt, gehört zu den Kernbeständen der Soziologie sozialer Probleme. Die Bedeutung dieser Einsicht für die Thematik des vorliegenden Themenschwerpunkts ist offenkundig: Nationalstaatliche und europäische Grenzen sind das Ergebnis politischer Festlegungen, denen Definitionen legitimer Zugehörigkeit zur Staatsbevölkerung und daran gebundene Privilegierungen und Benachteiligungen entsprechen. Der moderne Flüchtlingsbegriff, der Staaten auffordert, auch Nicht-Staatsangehörigen bestimmte Rechte zu gewährleisten, ist höchst selektiv, historisch und aktuell, und zugleich höchst wirkmächtig. Er erfasst per definitionem nur einen Teil der weltweit aus unterschiedlichen Gründen fliehenden Menschen. Denn ersichtlich ist es keineswegs selbstevident, warum absolutes Elend im Unterschied zu politischer Verfolgung keinen Anspruch auf Schutz begründen soll. Denjenigen, denen die politische und rechtliche Anerkennung als Flüchtling im Sinne der politischen und rechtlichen Definitionen verweigert wird, wird damit jedoch zugleich Aufnahme und Schutz verwehrt.

Moderne Staatenbildung, Versuche staatlich-politischer Regulierung von Fluchtmigration und die Herausbildung des modernen Flüchtlingsbegriffs stehen historisch und systematisch in einem engen Zusammenhang. Noch in der preußischen Polizeiverordnung von 1932 wurde jedem Ausländer ein Aufenthaltsrecht zugestanden, „solange er die in diesem Gebiet geltenden Gesetze und Verwaltungsvorschriften befolgt“. Es bestand hier noch kein Anlass, zwischen nach Migrationsgründen unterschiedenen Gruppen kategorial zu unterscheiden. Die Verfolgungen und Vertreibungen in der Zeit des 2. Weltkriegs und des Nationalsozialismus führen dann aber zu einer politischen und rechtlichen Festschreibung der Flüchtlingskategorie. Liisa Mallki (1995, S. 498) schreibt dazu in ihrer wegweisenden kulturanthropologischen Studie:

(…) As far as has been possible to determine, it is in the Europe emerging World War II, that certain key techniques for managing displacements of people first became standardized and then globalized. This does not mean there were no refugees or techniques for managing them before World War II (…). People have always sought refuge and sanctuary. But ‚the refugee‘ as a special social category and legal problem of global dimension did not exist in its full modern form before this period.

Die heutige wirkungsmächtige Kategorie Flüchtling ist insbesondere das Resultat von Menschenrechtspolitiken und ihrer Kodifizierung in der allgemeinen Menschenrechtserklärung sowie in der Genfer Flüchtlingskonvention und den darauf folgenden Protokollen. Ausgangspunkte waren die Verankerung des Asylrechts in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEDM) von 1948 als Reaktion auf verweigerten Schutz politisch und rassistisch Verfolgter in der Zeit des Nationalsozialismus sowie die zunächst auf innereuropäische Vertriebene begrenzte Deklaration von Flüchtlingsrechten in der Genfer Konvention, die 1954 in Kraft getreten ist. In keinem dieser Dokumente wird jedoch das Recht von Staaten, den Zugang zur ihrem Territorium zu regulieren, prinzipiell in Frage gestellt. Sie waren und sind Ausdruck eines Völkerrechts, für das staatliche Souveränität auch das Recht umfasst, zu entscheiden, wer sich auf dem Staatsgebiet aufhalten darf. Dies gilt auch für das Asylrecht der AEDM: Dem Recht, Asyl zu suchen, entspricht bereits dort keine verbindliche Pflicht der Einzelstaaten, dieses auch zu gewähren.

Rechtliche und politische Definitionen des Flüchtlingsbegriffs und die daraus resultierenden Anforderungen an staatliche Politik sowie der staatlich-politische Umgang mit erzwungener Migration wurden und werden in der gesellschaftlichen Kommunikation kontrovers diskutiert. Dies geschieht – wie in der folgenden Beiträgen deutlich wird - vor dem Hintergrund einer divergierenden politischen und normativen Rahmung: Zwischen Menschen- und Staatsbürgerschaftsrechten existiert ein Spannungsverhältnis. Beide folgen verschiedenen Rechtfertigungsordnungen. Denn Menschenrechte sollen für jede/n unabhängig auch von „nationaler oder sozialer Herkunft“ (AEDM, § 2) allein aufgrund des Menschseins gewährleistet werden; Nationalstaaten hingegen organisieren den Zugang zu nationalstaatlich geltend Rechten weitgehend exklusiv für ihre Staatsbürger_innen. Gleichzeitig sind es jedoch Staaten, welche die Menschenrechte gewährleisten sollen, auch wenn diese in einem Gegensatz zu nationalstaatlich gefassten Interessen und staatbürgerlichen Privilegien stehen. Die Auflösung dieser Widersprüche wäre „eine soziale und internationale Ordnung, in er die in dieser Erklärung ausgesprochenen Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können“ (AEDM, § 28). Von einer globalen Durchsetzung der Menschenrechte, auch der wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte, kann jedoch ersichtlich nicht die Rede sein.

Zentraler Ausgangspunkt der Problematisierung von Flucht, des Festhaltens an einer eng gefassten Definition legitimer Fluchtgründe und von Forderung nach Begrenzung der Zuwanderungszahlen ist ein nationalstaatlich gerahmtes Verständnis von Gesellschaft, das auf dem Souveränitätsanspruch des Nationalstaates und der Beanspruchung der Legitimität national definierter partikularer Eigeninteressen beruht. Dagegen geht die Problematisierung des staatlich-politischen Umgangs mit Flüchtlingen, der Zwangsmaßnahmen, die zur Kontrolle und Migration unerwünschter Zuwanderung angewandt werden, vom normativen Referenzrahmen des Völkerrechts bzw. der universellen Menschenrechte aus. Dies führt zu Forderungen nach einer angemessenen Umsetzung menschenrechtlicher Grundsätze und nach einem erweiterten Verständnis legitimer Fluchtgründe. Darüber hinaus finden sich Positionen, die grundsätzlich das staatliche Recht auf Konditionierung des Zugangs zum des Aufenthalts auf dem Staatsgebiet infrage stellen.

Die folgenden Beiträge unternehmen den bescheidenen Versuch, empirisch und theoretisch begründetes Wissen über die Formen und Folgen von Migrationsregimen für Flüchtlinge verfügbar zu machen. Dazu werden unterschiedliche Praktiken des Umgangs mit Flüchtlingen – an den Außengrenzen, bei der Unterbringung in Flüchtlingslagern sowie bei der Begründung und Rechtfertigung von Abschiebungen in den Blick genommen. Zudem werden Praktiken der Kritik von Abschiebungen untersucht sowie ungleichheitssoziologische Überlegungen zum Spannungsfeld von Menschenrechten und nationalstaatlichen Kontrollinteressen vorgestellt.

In den Blick genommen werden damit Aspekte der Situation einer sozialen Gruppe, die in besonderer Weise auf den Schutz ihrer Rechte durch aufnehmende Staaten angewiesen ist, der aber der Zugang zu diesen Rechten nicht garantiert ist. In zugespitzter Form deutlich wird dies an den vielfach tödlichen Folgen der Bemühungen der Europäischen Union, ihre Außengrenzen abzuschotten. Flüchtlinge können deshalb als eine in besonderer Weise vulnerable Gruppe charakterisiert werden.

Ein Verständnis sozialwissenschaftlicher Forschung als wertfreie Generierung von Tatsachenwissen ist damit erneut infrage gestellt. Pointiert deutlich wird dies in einer Formulierung von David Turton: „Es gibt keine Rechtfertigung, die Gründe menschlichen Leids zu studieren und zu versuchen zu verstehen, wenn das Ziel der eigenen Studien nicht ist, Wege zu finden, das Leid zu vermindern und zu verhindern.“ (Turton 2003, zit. nach Kleist 2015, S. 164).

Gesellschaftlich erheblich kontroverser als die nach dem Standort der Sozialwissenschaften sind aber die Fragen, wer in einem vertretbaren Sinne des Begriffs als Flüchtling gelten soll, der ein begründeten Anspruch auf Aufnahme und Schutz geltend machen kann sowie ob das Wohlergehen von Flüchtlingen politisch und moralisch für nationalstaatliche Politik gleichermaßen relevant sein soll und kann wie das Wohlergehen von Staatsbürger/innen.

Sozialwissenschaftliche Forschung über die Situation von Flüchtlingen den Umgang mit Flüchtlingen ist nicht jenseits solcher Kontroversen situiert. Denn ein politischer Konsens über diese und weitere Fragen kann auch unter Wissenschaftler/innen nicht vorausgesetzt und auch nicht durch Deklarationen verordnet werden. Gleichwohl gehen die Beiträge des vorliegenden Themenschwerpunkts davon aus, dass Wissensproduktion kein Mittel zur Optimierung staatlicher Migrationsregime, ihrer Kontroll- und Sanktionsinstrumentarien, sondern eine Wissensgrundlage für Anstrengungen zur Kritik von Strukturen und Praktiken sein soll, die zur politischen und rechtlichen Anerkennung grundlegender Menschenrechte von Flüchtlingen beitragen.