Einleitung

Das 22q11.2-Mikrodeletionssyndrom (22q11.2DS) gilt als das häufigste beim Menschen auftretende Mikrodeletionssyndrom [1, 2] und betrifft (je nach Schätzung) ca. 1 von 2000–6000 Lebendgeborenen [3]. Pathophysiologisch besteht eine hemizygote, zumeist 3 Megabasen umfassende Mikrodeletion am langem Arm von Chromosom 22 [2, 3]. Die phänotypische Ausprägung variiert stark und kann dezente, kaum auffällige Manifestationen bis hin zu lebensbedrohlichen Zustandsbildern umfassen [4, 5]. Klinisch beschriebene Syndrome, denen die Mikrodeletion 22q11.2 zugrunde liegt, sind das velokardiofaziale Syndrom, das DiGeorge-Syndrom und das Syndrom der konotrunkalen Anomalie mit Gesichtsdysmorphie [13]. Insgesamt sind in der Literatur über 180 verschiedene Auffälligkeiten in Verbindung mit der Mikrodeletion 22q11.2 beschrieben [3]. Häufig beobachtbar sind konotrunkale Herz-Anomalien, Anomalien des Gaumens, Hypoparathyreoidismus und Hypokalzämie, sowie (oftmals nur geringgradig ausgeprägte) faziale Dysmorphien [4]. Als Kinder zeigen Betroffene häufig motorische und sprachliche Entwicklungsverzögerungen sowie Lernschwächen [2, 4] und der Großteil der PatientInnen hat einen Intelligenzquotienten im grenzwertig-unterdurchschnittlichen Bereich [6].

Aus psychiatrischer Sicht besonders erwähnenswert ist, dass das 22q11.2DS mit einem im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung erhöhten Auftreten verschiedener neuropsychiatrischer Erkrankungen einherzugehen scheint [4]. Häufig beschriebene psychiatrische Erkrankungen bei PatientInnen mit 22q11.2DS sind Angststörungen, affektive Erkrankungen, ADHD und Autismus [24]. Weiters gilt die Mikrodeletion 22q11.2 als der stärkste molekulargenetisch bekannte Risikofaktor für die Entwicklung einer psychotischen Erkrankung [4], wobei in einer rezenten, groß angelegten Untersuchung bei über 40 % der über 25 Jahre alten PatientInnen mit 22q11.2DS eine Schizophrenie-Spektrum-Störung festgestellt werden konnte [4]. Basierend auf diesen Beobachtungen wird das 22q11.2DS als Modellerkrankung für die Pathophysiologie verschiedener neuropsychiatrischer Krankheitsbilder intensiv untersucht [7].

Der folgende Fallbericht beschreibt die Erstdiagnose eines 22q11.2DS im Rahmen eines neu aufgetretenen psychotischen Zustandsbildes bei einem 22 Jahre alten Patienten in Österreich und diskutiert sich aus dieser genetischen Erkrankung ergebende Implikationen für die psychiatrische Praxis.

Kasuistik

Herr X., ein 22-jähriger Patient, wurde an unserer Station aufgrund eines seit 8 Monaten bestehenden produktiv-psychotischen Zustandsbildes aufgenommen. Psychopathologisch im Vordergrund standen zum Zeitpunkt der Aufnahme optische Halluzinationen, akustische Halluzinationen in Form imperativer Stimmen, paranoide Wahnideen, sowie Ich-Störungen in Form von Gedankenausbreitung und Gedankeneingebung. Weiters zeigten sich ein deutlich parathymer Affekt, eine depressive Stimmungslage mit Antriebsreduktion, sowie Schlafstörungen mit beeinträchtigtem Tag-Nacht-Rhythmus.

Im Rahmen der Außenanamnese mit der Mutter ließen sich folgende weitere Informationen erheben: Die Geburt erfolgte mittels Notsectio mit normalen Apgar-Scores (9/10/10). Nach der Geburt wurden beim Patienten ein persistierendes Foramen ovale sowie ein Ventrikelseptum-Defekt – beide jedoch ohne Interventionsbedarf – diagnostiziert. Auffällig war weiters, dass der Patient als Kind Entwicklungsverzögerungen in Motorik und Sprache gezeigt hatte und stets ungewöhnlich wenig soziale Interaktion mit anderen Kindern gesucht hatte.

Familienanamnestisch ließen sich keine psychiatrisch relevanten Auffälligkeiten erheben. Aus der medizinischen Vorgeschichte bekannt waren eine Arachnoidalzyste rechts temporo-parietal, sowie mehrmalig auffällige elektroenzephalographische Befunde mit einzelnen, generalisierten Spike-Wave-Komplexen. Epileptische Anfälle ließen sich anamnestisch jedoch nicht erheben. Der Patient gab weiters seit Jahren bestehende, chronisch rezidivierende Kopfschmerzen an.

Klinisch auffällig war das physiognomische Erscheinungsbild des Patienten, mit Hypertelorismus, Epikanthus, relativ breiter Nasenwurzel, dysmorpher Nasenspitze, sowie verkürzt anmutendem Philtrum. Weiters auffällig waren eine näselnde Sprache mit relativ hoher Stimme, eine Gynäkomastie, sowie insgesamt relativ spärlich ausgeprägte Körperbehaarung.

Zur organischen Abklärung erfolgte eine Schädel-MRT-Untersuchung, in welcher sich multiple, bis zu 6 mm messende, überwiegend subkortikal lokalisierte, FLAIR hyperintense Läsionen des Großhirn-Marklagers zeigten, sowie – im radiologischen Befund als anatomische Normvarianten beschrieben – ein Cavum septi pellucidi und ein Cavum vergae. Aufgrund des zentrifugalen Verteilungsmusters der hyperintensen Läsionen des Großhirn-Marklagers wurde von radiologischer Seite eine vaskuläre Genese vermutet und der Verdacht auf das Vorliegen einer Vaskulitis geäußert. Eine daraufhin erfolgte labordiagnostische Vaskulitis-Abklärung fiel negativ aus. Zum Ausschluss anderer allfälliger Pathologien erfolgte weiters eine Standard-Liquordiagnostik sowie eine Untersuchung von Liquor und Serum auf Vorliegen von onkoneuralen Antikörpern (inkl. Anti-NMDA-Rezeptor-Antikörpern), welche ebenso unauffällige Befunde ergaben. Die labordiagnostischen Standarduntersuchungen ergaben das Vorliegen eines Vitamin-D-Mangels. Im transthorakalen Echokardiogramm konnten keine Auffälligkeiten – insbesondere kein PFO und Ventrikelseptum-Defekt – nachgewiesen werden. Die klinisch-psychologische Testung neurokognitiver Funktionen ergab den Befund einer unterdurchschnittlich ausgeprägten intellektuellen Leistungsfähigkeit.

In Zusammenschau dieser Befunde ergab sich der Verdacht auf das Vorliegen eines 22q11.2DS. Aus diesem Grund erfolgte eine gezielte genetische Abklärung mittels Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH), welche schließlich das Vorliegen einer Mikrodeletion 22q11.2 bestätigte.

Therapeutisch erfolgte eine antipsychotische Therapie mit Aripiprazol (Tagesdosis 40 mg), sowie mit Prothipendyl (Tagesdosis 40 mg) aufgrund der Schlafstörungen. Zur Stabilisierung der depressiven Stimmung erfolgte außerdem eine antidepressive Therapie mit Sertralin (Tagesdosis 100 mg). Unter dieser Medikation kam es zu einer weitgehenden Rückbildung der produktiv-psychotischen Symptomatik sowie des depressiven Zustandsbildes. Der Patient begann sich von seinen Wahnideen zu distanzieren und zeigte keinen Hinweis mehr auf das Vorliegen von Halluzinationen. Zur weiteren psychopathologischen Stabilisierung wurde der Patient schließlich in eine tagesklinische Betreuung und im Anschluss in eine therapeutische Wohngemeinschaft eingebunden. Zur weiteren genetischen Beratung erfolgte eine Zuweisung zu einem Facharzt für Humangenetik.

Diskussion

Der hier beschriebene Fall veranschaulicht deutlich den Stellenwert, welcher einer sorgfältigen Anamnese und einer genauen körperlichen Untersuchung bei der Abklärung von erstmalig aufgetreten psychotischen Erkrankungen zukommt, damit seltenere, mit der psychotischen Symptomatik in ursächlichem Zusammenhang stehende Pathologien nicht übersehen werden. Wie aus unserem Fallbericht ersichtlich, kann ein 22q11.2DS bei verhältnismäßig milder Ausprägung in Kindheit und Jugend lange Zeit unerkannt bleiben und dann erstmalig im Erwachsenenalter im Rahmen einer psychotischen Erkrankung klinisch auffällig werden. Unter Berücksichtigung von Leidensdruck und Prävalenz zählen neuropsychiatrische Erkrankungen vermutlich zu den häufigsten Gründen, weshalb bislang nicht diagnostizierte Betroffene von 22q11.2DS medizinische Hilfe suchen [1]. Dem/der klinisch tätigen Psychiater/in kann damit unter Umständen eine entscheidende Rolle für die korrekte Diagnosestellung eines 22q11.2DS zukommen, welche nicht nur medizinisch-theoretischen Wert besitzt, sondern auch entsprechende weitere klinisch-praktische Schritte wie humangenetische Beratung und Abklärung möglicher anderer Organmanifestationen nach sich ziehen sollte [1, 2].

Momentane Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 1–2 % aller PatientInnen mit Schizophrenie eine Mikrodeletion 22q11.2 aufweisen [5, 7]. Trotz dieser durchaus beachtenswerten Anzahl gibt es derzeit keinen klaren, empirisch begründeten (psychiatrischen) Konsens, unter welchen Umständen bei PatientInnen mit psychotischen Symptomen eine Abklärung auf 22q11.2DS stattfinden sollte. Anhand der psychopathologischen Charakteristika alleine lässt sich ein 22q11.2DS bei PatientInnen mit schizophrenieartiger Psychose, soweit bisher bekannt, nicht klar erkennen [1, 8]. Aus klinisch-praktischer Sicht dürfte eine humangenetische Abklärung daher am ehesten bei Vorliegen einer psychotischen Symptomatik sowie zumindest ein bis zwei weiteren für 22q11.2DS typischen Auffälligkeiten gerechtfertigt sein [2, 9]. Unklar ist jedoch, welche der zahlreichen möglichen Ausprägungen des 22q11.2DS (siehe Bassett et al. [2] für eine detaillierte Auflistung) hier unter welchen Umständen Berücksichtigung finden sollten. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass Hyperintensitäten der weißen Substanz, sowie das Vorliegen eines Cavum septi pellucidi und eines Cavum vergae – wie auch in unserem Fall beschrieben – bei PatientInnen mit 22q11.2DS generell neuroradiologisch gehäuft beobachtbar zu sein scheinen [10].

Angesichts der hohen Rate an psychotischen Erkrankungen bei PatientInnen mit 22q11.2DS stellt sich bei diesen PatientInnen natürlich auch die Frage nach der optimalen psychiatrischen Behandlung. Derzeitige Leitlinien für die medizinische Betreuung von Betroffenen des 22q11.2DS empfehlen bei Auftreten von Schizophrenie eine antipsychotische Standard-Therapie [1]. Da es Hinweise auf ein erhöhtes Auftreten von epileptischen Anfällen unter Clozapin-Therapie bei PatientInnen mit 22q11.2DS gibt [1, 11], kann ein vorsichtiges Einschleichen der antipsychotischen Medikation sowie gegebenenfalls eine begleitende antikonvulsive Abschirmung unter Umständen sinnvoll sein [1]. Leider fehlen bisher groß angelegte, empirische Untersuchungen zur Wirksamkeit und Sicherheit antipsychotischer Therapie bei 22q11.2DS.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das 22q11.2DS bei der differentialdiagnostischen Abklärung psychotischer Zustände Berücksichtigung finden sollte. Wie unser Fall deutlich zeigt, können PatientInnen mit 22q11.2DS durchaus auch mit vorderrangig psychiatrischer Symptomatik, wie z. B. schizophrenieartiger Psychose, erstmalig auffällig werden. Zukünftige Forschungsbemühungen sollten klare Kriterien etablieren, wann bei PatientInnen mit Psychose auf das Vorliegen einer Mikrodeletion 22q11.2 getestet werden sollte, und wie psychotische Symptome im Rahmen eines 22q11.2DS optimal behandelt werden können.