Zusammenfassung
Warum schließen sich junge Europäer dem „heiligen Krieg“ der Muslime gegen den Westen an? Aufbauend auf einer Sichtung der interdisziplinären Forschungsliteratur zum Thema religiöse Radikalisierung diskutiert dieser Beitrag Bedingungen und Einflussfaktoren für die Übernahme eines islamisch-fundamentalistischen Weltbildes und entsprechender Praktiken, die mitunter die aktive Beteiligung an Gewaltakten gegen die sogenannten Ungläubigen beinhalten. In Auseinandersetzung mit dem Begriff der Jugendkultur wird dabei insbesondere der Frage nach der Relevanz dieses Phänomens für die Verfasstheit moderner westlicher Gesellschaft nachgegangen.
Abstract
Why do young Europeans join the “holy war” of Muslims against the West? Based on the international research literature on religious radicalization this article discusses conditions and influencing factors for adopting an Islamic fundamentalist worldview and the related practices, which may include the participation in acts of violence against the so-called infidels. Drawing on the concept of youth culture the article especially raises the question as to the relevance of this phenomenon for the constitution of modern Western society.
Notes
Beim vorliegenden Beitrag handelt es sich um die überarbeitete Fassung meines Habilitationsvortrags, den ich im Januar 2016 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster gehalten habe.
Islamismus und Dschihadismus als seine gewaltsame Spielart sind – selbstredend – darüber hinaus nicht identisch mit „dem“ Islam als zweitgrößter Religionsgemeinschaft (nach dem Christentum) weltweit.
Auch der Begriff „Dschihad“ bedeutet bekanntlich zunächst einmal nichts anderes als „Anstrengung“, und zwar bezogen auf die Herausforderungen, ein gottgefälliges Leben zu führen.
Zur „Sauerland-Gruppe“ siehe z. B. Malthaner und Hummel (2012). Die staatliche Reaktion auf die aufgedeckten Anschlagsvorbereitungen dieser Gruppe hatten eine Gesetzesverschärfung von § 89a StGB zur Folge. Seit 2009 ist damit bereits die Ausbildung in einem sogenannten Terrorcamp mit dem Ziel, eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorzubereiten, strafbar.
Vgl. hierzu und im Folgenden auch Dalgaard-Nielsen (2010) mit Hinweisen zu weiteren Forschungsarbeiten.
Ähnlich argumentiert auch Peter Waldmann (2014) mit seinem Analysemodell der „Diaspora-Radikalisierung“. Auch er hebt auf die spezifischen Herausforderungen struktureller und kultureller Art ab, mit denen die zweite (und dritte) Generation Einwanderer aufgrund ihrer „Zwischenstellung“ zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland konfrontiert ist. Für Waldmann ist die Abwendung vom Aufnahmeland und die Hinwendung zu einem idealisiert wahrgenommenen Herkunftsland und dessen Kultur, die im Extremfall die Form einer fundamentalistischen Bekehrung annehmen kann, eine von mehreren möglichen Arten des Umgangs mit dieser Situation (Waldmann 2014).
Im Rahmen einer empirischen Analyse zu politischen Einstellungen unter Muslimen in Deutschland von 2007 wurden z. B. Haltungen von Demokratiedistanz und Akzeptanz politisch-religiös motivierter Gewalt vor allem bei denjenigen Befragten festgestellt, die über wenig Möglichkeiten ökonomischer und sozialer Teilhabe verfügten, sowie bei denjenigen, die eigene Diskriminierungserfahrungen gemacht hatten und Muslime als besonders marginalisiert wahrnahmen (Brettfeld und Wetzels 2007, S. 191; zit. nach Herding 2013b, S. 28). Distanz zur Demokratie bzw. zu demokratischen Grundprinzipien war auch bei Schülerinnen und Schülern erkennbar, die persönliche Diskriminierungserfahrungen und kollektive Marginalisierungswahrnehmungen hatten; bei Studierenden hingegen traf dies nur im zuletzt genannten Fall zu (ebd.).
Vgl. hierzu insbesondere auch Snow und Benford (1988).
Claudia Dantschke von der Beratungsstelle Hayat des Berliner Zentrums Demokratische Kultur (ZDK) hat vor diesem Hintergrund den Begriff „Pop-Dschihad“ geprägt, um auf die Gefahren einer dschihadistischen Radikalisierung mit den Mitteln der Popkultur aufmerksam zu machen: z. B. Dantschke (2014). Dass muslimische Religiosität unter jungen Menschen auch in Deutschland bereits seit einiger Zeit „in“ ist und auf vielseitige Weise (pop-)kulturell praktiziert wird, darauf hat Julia Gerlach (2006) schon vor Jahren aufmerksam gemacht. Die von ihr beschriebenen „Pop-Muslime“ stehen für eine neuartige Verbindung von (westlich geprägter) Modernität und muslimischer Religiosität – unter eindeutiger Ablehnung von Gewalt – und verweisen darauf, dass die hier diskutierte dschihadistische „Jugendkultur“ nur eine von mehreren Spielarten gegenwärtiger muslimischer Stile und Praktiken ist, die heutzutage auch in Deutschland existieren.
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Leonhard, N. Dschihadismus als Jugendkultur? Ein Forschungsüberblick zu Erklärungsansätzen für religiöse Radikalisierung im Namen des Islam. Soz Passagen 8, 119–135 (2016). https://doi.org/10.1007/s12592-016-0227-0
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