1 Einleitung

Die europäischen Parteiensysteme werden fragmentierter. In den Niederlanden etwa gibt es heute 13 Parlamentsparteien, von denen die größte gerade einmal 22 % der Sitze gewonnen hat. Auch in Deutschland hat die Fragmentierung zugenommen, wodurch die Bildung von Regierungen schwieriger wird (Bräuninger et al. 2018). Zudem führen neue Konfliktlinien häufig dazu, dass sich in Wahlkämpfen nicht mehr zwei klar erkennbare Lager gegenüberstehen – so wie in Deutschland früher Schwarz-Gelb und Rot-Grün. Welche Koalition sich nach der Wahl zusammenfindet, wie stabil sie ist, wie lange die Regierungsbildung dauert und ob sie überhaupt gelingt, hängt von den Kalkülen der Parteieliten ab. Die Bürger werden zwar vielfältig repräsentiert, können aber durch Wahlen keine Richtungsentscheidung über den Kurs einer künftigen Regierung treffen.

Diese Entwicklungen führen auch zu einer Neuauflage altbekannter Debatten über unterschiedliche Wahlsysteme und Demokratiemodelle (Powell 2000; Behnke et al. 2016, S. 59, 88–93). Die Stimmen für eine stärkere Orientierung an der Mehrheitswahl scheinen auch innerhalb der Politikwissenschaft wieder lauter zu werden (z. B. Rosenbluth und Shapiro 2018; mit Blick auf das deutsche Wahlsystem siehe z. B. Pappi und Bräuninger 2018; Best 2015, 2016; Strohmeier 2006, 2008; aber auch kritisch Behnke 2015; Linhart 2009; Schoen 2007).

Im Rahmen dieser Debatte plädieren wir dafür, die Analyse des Wahlsystemdesigns systematisch mit der des Regierungssystems zu verknüpfen. Der Grund ist einfach: Im parlamentarischen System wählen die Wähler als demokratischer „Prinzipal“ nur einen „Agenten“, das Parlament. Dessen Mehrheit wählt eine Regierung aus und muss diese zumindest durch Tolerierung im Amt halten.Footnote 1 Es gibt somit im parlamentarischen System nur einen institutionellen Ansatzpunkt, um die Fragmentierung des Parteiensystems zu justieren: das Wahlsystem des Parlaments. Regierungssysteme, in denen die Wähler zwei oder mehr Agenten wählen, haben dagegen mindestens zwei institutionelle Stellschrauben. Und deshalb ist es von politikwissenschaftlichem Interesse Wahlsystemreformen innerhalb des parlamentarischen Systems auch mit solchen zu vergleichen, die das Regierungssystem selbst umfassen. Zu diesem Vergleich möchten wir hier beitragen.

Unser Ausgangspunkt sind dabei Arbeiten, die bestimmte Wahlsysteme als optimalen Kompromiss zwischen den Prinzipien der Mehrheits- und der Verhältniswahl ansehen (Shugart 2001; Carey und Hix 2011). Diese Optimalitätsargumente beschränken sich nicht auf parlamentarische Regierungssysteme, aber sie sind für diese aus den genannten Gründen besonders bedeutsam. Diesen Argumenten zufolge sind Wahlsysteme optimal, wenn sie die Anzahl der (effektiven) Parteien beschränken und/oder die Bildung zweier konkurrierender Vorwahlkoalitionen fördern, ohne dabei die messbare Proportionalität des Wahlsystems stark einzuschränken.

Wir wollen aufzeigen, dass diese Optimalitätsargumente eine konzeptionelle Schlagseite zugunsten (sogenannter) majoritärer Demokratiekonzeptionen aufweisen, während die Ziele proportionaler Konzeptionen nur in äußerst beschränkter Weise Eingang finden.Footnote 2 Anspruchsvolle Varianten proportionaler Demokratiemodelle umfassen drei bedeutsame Ziele, die von den Optimierungsargumenten ausgeblendet werden: (1) die mechanische Proportionalität des Wahlsystems, (2) die unbeschränkte Dimensionalität der Parteipositionen sowie (3) die Möglichkeit des Regierens mit wechselnden Mehrheiten.

Diese drei Ziele lassen sich im parlamentarischen Regierungssystem nicht mit den Zielen der Mehrheitswahl vereinbaren. Wir zeigen dies empirisch für 22 demokratische Systeme in einem Zeitraum von 1995 bis 2015. Wir beziehen dabei parlamentarische, semi-präsidentielle und versammlungsunabhängige Regierungssysteme ein.Footnote 3 Die Länder mit vermeintlich optimalen Wahlsystem-Designs nehmen zwar eher mittlere Positionen auf einer empirisch ermittelten Zielkonfliktlinie zwischen majoritärer und proportionaler Demokratie ein, können dem grundlegenden Zielkonflikt aber nicht entkommen.

Angesichts dessen argumentieren wir, dass auch eine Reform des Regierungssystems in Betracht gezogen werden sollte. Durch diese ergäben sich für die Wahlsystemreform neue Optionen. Diesen Punkt buchstabieren wir hier primär für „semi-parlamentarische“ Systeme aus (Ganghof 2016b, 2018). Das Entscheidende ist dabei Folgendes: Die institutionelle Hürde, die das Wahlsystem für eine parlamentarische Repräsentation aufstellt, ist im parlamentarischen System per Definition identisch mit der Hürde für die Mitwirkung am Misstrauensvotum. Jede Partei, die parlamentarische Repräsentation erhält, gewinnt automatisch auch die formal gleiche Macht über das Überleben der Regierung. Das semi-parlamentarische System entkoppelt diese beiden Hürden. Es erlaubt somit, eine höhere Hürde für die Mitwirkung am Misstrauensvotum zu etablieren. Kleinere Parteien können eine faire Repräsentation im Diskussions- und Gesetzgebungsprozess erhalten, ohne unmittelbaren Einfluss auf die Bildung oder den Bestand der Regierung zu haben.

Wir fassen die Optimalitätsargumente im nächsten Abschnitt kurz zusammen und führen dann in Abschn. 3 unsere konzeptionelle Kritik aus. Abschn. 4 visualisiert die Zielkonflikte im parlamentarischen System. Abschn. 5 und 6 skizzieren semi-parlamentarische Reformoptionen bzw. diskutieren einige Kritikpunkte an ihnen.

2 Die Optimalitätsargumente in Kürze

Wir konzentrieren uns hier auf die vergleichenden Optimalitätsargumente von Shugart (2001) sowie Carey und Hix (2011). Unsere Kritik erstreckt sich aber teils auch auf verwandte Argumente im spezifischeren deutschen Kontext (z. B. Pappi und Bräuninger 2018).

Carey und Hix (2011) postulieren einen Zielkonflikt zwischen der Verantwortlichkeit von Regierungen und der fairen Repräsentation von Wählern. Sie argumentieren aber, dass dieser Zielkonflikt nicht linear ist und somit optimiert werden kann. Empirisch messen sie das Ziel der „Verantwortlichkeit“ durch die Anzahl der Parteien in der Regierung sowie der effektiven Anzahl der Parteien im Parlament (Laakso und Taagepera 1979). Sie nehmen also an, dass weniger Parteien zu mehr Verantwortlichkeit führen. Das Ziel der „Repräsentation“ messen sie zum einen durch die Disproportionalität des Wahlsystems auf der Verhaltensebene (Gallagher 1991) sowie durch eine Schätzung der inhaltlichen Distanz zwischen Regierungen und Wählern (Kim et al. 2010). Auf der Basis dieser Indikatoren versuchen sie zu schätzen, welche Wahlsysteme eine optimale Kombination der beiden Ziele erreichen können. Die zentrale Variable des Wahlsystems ist dabei die (effektive) Wahlkreisgröße. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Verhältniswahlsysteme mit kleinen durchschnittlichen Wahlkreisgrößen – drei bis acht Mandate pro Wahlkreis – optimal seien. Diese beschränkten die Anzahl der Parteien auf ein annehmbares Maß, ohne dabei die Proportionalität zu stark einzuschränken.

Shugart (2001) konzentriert sich dagegen auf die Möglichkeit unabhängiger Parteien, sich vor der Wahl zu zwei konkurrierenden Vorwahlkoalitionen zusammenzuschließen. Das zentrale Ziel des „majoritären“ Demokratiemodells ist bei ihm, dass die Wähler vor der Wahl eine klare Alternative zwischen zwei konkurrierenden Optionen für die Regierung erkennen können. Dies wird „Identifizierbarkeit“ genannt (Strøm 1990; Powell 2000; Ganghof et al. 2015). Das zentrale Ziel des proportionalen Demokratiemodells ist auch bei Shugart die faire Repräsentation der Wähler, und sie wird wie bei Carey und Hix durch die Proportionalität des Wahlsystems auf der Verhaltensebene gemessen. Die beiden Ziele lassen sich laut Shugart weitgehend miteinander vereinbaren, wenn mehrere unabhängige Parteien einerseits möglichst proportional repräsentiert werden, diese Parteien aber andererseits starke Anreize zur Bildung von zwei umfassenden und konkurrierenden Vorwahlkoalitionen haben. Die Wählerinnen bekommen dann idealerweise das Beste zweier Welten: die Wahl zwischen mehr als zwei Parteien und die Möglichkeit, mehr oder weniger direkt eine von zwei Regierungsalternativen auszuwählen. Die deutsche personalisierte Verhältniswahl galt lange als Beispiel für ein Wahlsystem, dass diese beiden Ziele in Einklang bringen kann.

Die beiden Optimalitätsargumente sind bereits empirischer Kritik unterzogen worden – wobei die Argumente von Carey und Hix (2011) im Vordergrund stehen und teilweise mit denen von Shugart (2001) vermischt werden. Der Hauptkritikpunkt ist, dass die Kombination von hohen Werten für Verantwortlichkeit und Repräsentation selbst in den vermeintlich optimalen Wahlsystemen nur selten erreicht wird. Die Wahrscheinlichkeit dafür liegt bei Wahlkreisen mit fünf Mandaten bei nur knapp 10 % (Carey und Hix 2011, S. 393). Die experimentelle Studie von St-Vincent et al. (2016) ermittelt eine Wahrscheinlichkeit von 15 %. Eine dritte Studie von Raabe und Linhart (2018) kommt auf Werte von 25 % für die Verhältniswahl mit moderaten Wahlkreisgrößen und 30 % für die personalisierte Verhältniswahl. Immer gilt: „the most likely outcome is still having either high representativeness or good accountability, not both“ (St-Vincent et al. 2016, S. 8). Raabe und Linhart (2018) betonen darüber hinaus die begrenzte Datenbasis aller entsprechenden Analysen sowie die Möglichkeit, dass die personalisierte Verhältniswahl unter bestimmten Bedingungen auch das Schlechteste beider Welten vereinen könne (Linhart et al. 2018).

3 Die konzeptionelle Kritik der Optimalitäts-Argumente

In diesem Abschnitt ergänzen wir die eben angeführte empirische Kritik an den Optimalitätsargumenten durch eine stärker konzeptionelle Kritik. Unser Ziel ist es zu zeigen, dass die genannten Optimalitätsargumente bereits eine konzeptionelle Schlagseite zugunsten eines eher majoritären Demokratiemodells haben. Der Grund ist, dass sie die anspruchsvollsten Ziele proportionaler Demokratiekonzeptionen von Beginn an ausblenden.

Mechanische Proportionalität

Erstens betrachten beide Argumente nicht die mechanische Proportionalität des Wahlsystems als eigenständiges Ziel. Um letztere geht es jedoch vielen Anhängern der Verhältniswahl. Es geht um die Proportionalität auf der Ebene der formalen Regeln, nicht um die Proportionalität, die erreichbar ist, nachdem die Wähler zu strategischem Verhalten veranlasst wurden. Dieser Fokus auf die Regeln basiert nicht zuletzt auf der Idee, dass demokratische Verfahren einen gewissen Eigenwert besitzen, weil sie die moralische und gesellschaftliche Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger zum Ausdruck bringen.

Ein Beispiel: Das Wahlsystem des niederländischen Unterhauses zeichnet sich durch hohe mechanische Proportionalität aus. Die Kammer wird in einem einzigen nationalen Wahlkreis gewählt und es gibt „keine weiteren technischen Elemente …, von denen ein mechanischer Disproportionalitätseffekt ausgeht.“ (Behnke et al. 2016, S. 97). Bürgern, denen der Tierschutz besonders wichtig ist, war es dadurch eher möglich für die Partei für die Tiere (Partij voor de Dieren) zu stimmen – ohne große Befürchtungen dadurch ihre Stimme zu verschwenden. Die Partei konnte sich dadurch im Parlament etablieren und nach der letzten Wahl fünf von 150 Mandaten erringen. In einem System mit höherer mechanischer Disproportionalität werden (potentielle) Wähler einer Tierschutzpartei dagegen mit größerer Wahrscheinlichkeit ihre Stimme entweder verschwenden oder sie strategisch einer anderen Partei geben oder aus Frust gar nicht zur Wahl gehen. All diese Wähler werden in einem bestimmten Sinne ungleich behandelt. Wählen sie strategisch oder werden zu Nichtwählern, kann die Proportionalität auf der Ebene des Verhaltens immer noch hoch sein. Darauf setzt ja das Optimalitätsargument von Carey und Hix (2011). An dem Verlust politischer Gleichheit ändert dies indes nichts.

Natürlich kann man die Idee eines Eigenwerts demokratischer Verfahren ablehnen. Sie ist in der politischen Philosophie durchaus umstritten (z. B. Wall 2007; Viehoff 2017). Ebenso umstritten ist, ob sich ein reines Verhältniswahlsystem aus dieser Idee ableiten lässt (siehe zuletzt: Wilson 2019). Entscheidend ist hier: Wenn man mechanische Proportionalität als Ziel ablehnt, hat man eine bestimmte Variante des proportionalen Demokratiemodells bereits aus normativen Gründen abgelehnt. Diese Variante kann also in den Optimalitätsargumenten gar keine Rolle mehr spielen. Es ist deshalb zu begrüßen, wenn Protagonisten der Optimierungsargumente ihre normativen Annahmen deutlich machen. Pappi und Bräuninger (2018, S. 202) tun dies, indem sie die Gleichheits-Rechtfertigung der Verhältniswahl explizit durch einen Fokus auf Responsivität ersetzen.Footnote 4 Auf dieser Basis plädieren sie für eine Stärkung der Mehrheitswahl-Komponente des deutschen Wahlsystems.

Es gibt noch ein zweites Argument für mechanische Proportionalität. Dieses ist auch dann von Bedeutung, wenn man die Demokratie als reines Werkzeug im Dienste guter Ergebnisse ansieht. Es basiert auf einer Kritik des gängigen Verständnisses von „Verantwortlichkeit“ in der Politikwissenschaft, das selbst aus der majoritären Konzeption der Demokratie abgeleitet ist. „Verantwortlichkeit“ ist demnach – wie bei Carey und Hix – am größten, wenn es nur zwei Parlamentsparteien sowie Mehrheitsregierungen einer Partei gibt. Das Problem dabei ist: Zwar können die Wählerinnen dann besonders gut sehen, wer für eine bestimmte Politik verantwortlich ist, aber sie können diese Partei nicht unbedingt effektiv sanktionieren. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die Oppositionspartei in zentralen Fragen dieselbe Position vertritt (man denke etwa an einen Kriegseinsatz oder die Euro-Rettungspolitik). Die Wählerinnen haben angesichts der mechanischen Beschränkung der Bildung neuer Parteien nicht unbedingt eine inhaltliche Alternative – und somit auch nicht unbedingt eine plausible Sanktionsmöglichkeit (McGann 2013; vgl. auch Quinn 2016). Wie das obige Beispiel der niederländischen Tierschutzpartei zeigt, kann es aber auch in einem Mehrparteien-System einen Mangel inhaltlicher Alternativen in Bezug auf bestimmte Themen-Dimensionen geben. Niedrige Eintrittsschranken für neue Partei sind aus dieser Sicht ein wichtiger Mechanismus, um die Verantwortlichkeit und (mehrdimensionale) Responsivität der bestehenden Parteien zu stärken (Ganghof 2016c).

Multidimensionale Repräsentation

Dieser Punkt leitet über zum zweiten vernachlässigten Ziel der Optimalitätsargumente. Aus Sicht einer anspruchsvollen proportionalen Konzeption der Demokratie sollte die Multidimensionalität der Parteipositionen durch das Wahlsystem nicht beschränkt werden (Christiano 1996). Inhaltlich trennbare Themen sollten auch programmatisch getrennt und nicht in eine dominante Links-Rechts-Achse eingedampft werden. Ein einfaches Beispiel: Die Haltung zu Europa und der europäischen Währung ist in vielen Parteiensystemen eine wichtige Konfliktlinie. Dieser Konflikt ist aber nicht kongruent mit dem Konflikt über linke oder rechte Wirtschaftspolitik. Es gibt von links wie von rechts Gründe gegen das Euro-Regime. Aus Sicht der entsprechenden Autoren wäre es deshalb, ceteris paribus, wünschenswert Euro-kritische Stimmen von links und von rechts im Parlament zu haben.

Niedrige Hürden für die Bildung oder Abspaltung von Parteien erleichtern solch eine multidimensionale Repräsentation. Die Optimalitätsargumente basieren hingegen explizit oder implizit auf einer Präferenz für eine niedrige Dimensionalität der Parteipräferenzen. Bei Carey und Hix (2011) wird dies durch die eindimensionale Messung der inhaltlichen „Kongruenz“ zwischen Wählerinnen und Regierung deutlich (vgl. auch Pappi und Bräuninger 2018, S. 211–215). Bei Shugart (2001) ist sie implizit, da die Bildung von breiten und thematisch integrierten Vorwahlkoalitionen in multidimensionalen Parteiensystemen unwahrscheinlicher ist (siehe empirisch: Ganghof et al. 2015). Shugarts Argument basiert darauf, dass sich Mehrparteiensysteme wie Zwei-Parteien-Systeme „verhalten“ sollen; und die Wahrscheinlichkeit dieses Verhaltens hängt nicht zuletzt von einer niedrigen Dimensionalität der Parteipositionen ab.

Themenspezifische Gesetzgebungskoalitionen

Das dritte Ziel anspruchsvoller proportionaler Konzeptionen der Demokratie, das von den Optimalitätsargumenten vernachlässigt wird, baut wiederum auf dem zweiten auf. Wenn sich nämlich – unbeschränkt durch das Wahlsystem – eine multidimensionale Struktur von Parteipositionen herausbildet, dann stellt sich auch die Frage der Mehrheitsbildung im Parlament anders. In einem eindimensionalen Konflikt zwischen zwei Parteien oder zwei Blöcken hat das Regieren mit wechselnden Mehrheiten einen sehr begrenzten demokratischen Mehrwert. Je eindimensionaler die Konfliktstruktur, desto stärker werden auch Minderheitsregierungen ohne festen Unterstützungspartner nach Möglichkeit mit Mehrheiten innerhalb des eigenen politischen Lagers regieren (Green-Pedersen und Hoffmann Thomsen 2005; Ganghof et al. 2019). Je mehrdimensionaler hingegen die Konfliktstruktur, desto plausibler wird die These, dass das Regieren mit wechselnden, themenspezifischen Mehrheiten stärker den Zielen der politischen Gleichheit und der fairen Repräsentation im Gesetzgebungsprozess entspricht (Ward und Weale 2010; Powell 2000).

Schon G. Bingham Powells „moderner Klassiker“ zum proportionalen Demokratiemodell hat darauf hingewiesen, auch wenn er diesen Aspekt des Modells empirisch nicht untersucht hat:

A third argument in favor of proportionalism is that policymakers should choose the policy desired by the citizen majority on each issue. Because many issues will be considered by the national government between every election and different sets of citizens will form the majority on different issues, it is important that the policy-making coalition not be locked into place by the immediate election outcome. … Although this is potentially an important argument for proportional approaches, it is not one that I am able to see how to explore empirically with available data. (Powell 2000, S. 256, Fn. 259)

Die Rolle wechselnder Mehrheiten lässt sich noch schärfer fassen, wenn wir mit dem Konzept des Median-Wählers arbeiten. In einem multidimensionalen Politikraum können unterschiedliche Parteien den Medianwähler auf unterschiedlichen Dimensionen repräsentieren (Powell 2000; Ganghof 2015). Uns sollte deshalb die „Kongruenz“ zwischen Medianpräferenz und tatsächlicher Politik – anders als bei Carey und Hix (2011) – auf diesen verschiedenen Dimensionen interessieren (siehe etwa Stecker und Tausendpfund 2016; Rosset und Stecker 2019; Dingler et al. 2019). Diese multidimensionale Kongruenz mag durch das Regieren mit wechselnden Mehrheiten eher erreichbar sein (Ward und Weale 2010; Weale 2019).

Der entscheidende Punkt hier ist, dass das Regieren mit wechselnden Mehrheiten logisch unvereinbar ist mit der glaubwürdigen und zuverlässigen Bildung von Vorwahlkoalitionen. Shugarts (2001) Optimalitätsargument beinhaltet deshalb implizit eine Ablehnung des Regierens mit wechselnden Mehrheiten.

Zusammenfassung

Je anspruchsvoller wir die proportionale Konzeption repräsentativer Demokratie ausbuchstabieren, desto mehr verflüchtigt sich das vermeintliche Optimierungspotential des Wahlsystems in parlamentarischen Regierungssystemen. Jeder Verlust an mechanischer Proportionalität führt dann zu einer Einschränkung zentraler Ziele dieser Konzeption:

  • formale politische Gleichheit (zumindest auf der Basis bestimmter normativer Annahmen),

  • „bottom-up“-Verantwortlichkeit durch Neubildung oder Abspaltung von Parteien,

  • multidimensionale Repräsentation von Wählerpräferenzen und

  • das Regieren mit wechselnden, themenspezifischen Mehrheiten.

4 Empirische Visualisierung der Zielkonflikte

Wir wollen die Zielkonflikte zwischen der „majoritären“ und der „proportionalen“ Konzeption parlamentarischer Demokratie in diesem Abschnitt zusammenfassen und visualisieren. Dazu operationalisieren wir beide Konzeptionen jeweils mit drei Zielen und stellen anschließend die empirische Konfliktlinie zwischen den beiden Konzeptionen dar. Die Details der Operationalisierungen finden sich im Anhang.

Wir beziehen bei allen Variablen direkt gewählte zweite Kammern (soweit sie existieren) ein. Üblicherweise werden die Parteiensysteme zweiter Kammern in vergleichenden Demokratiestudien ignoriert, zum Beispiel bei Lijphart (2012; siehe dazu Ganghof und Eppner 2019). Wir halten dies dann für gerechtfertigt, wenn diese Kammern aufgrund ihrer geringeren demokratischen Legitimierung der ersten Kammer eindeutig untergeordnet sind. Bei vollständig oder fast vollständig direkt gewählten Kammern ist dies unseres Erachtens jedoch nicht der Fall.

Die „majoritäre“ Konzeption parlamentarischer Demokratien operationalisieren wir zunächst über die beiden zentralen Konzepte von Shugart (2001) sowie Carey und Hix (2011): Identifizierbarkeit von Regierungsalternativen vor der Wahl und die Klarheit der Verantwortlichkeit nach der Wahl. Unser Indikator für Identifizierbarkeit kombiniert Informationen darüber, wie stark Wählerstimmen auf die zwei größten Parteien oder Wahlallianzen konzentriert sind und ob die Regierung aus einer einzelnen Partei bzw. Wahlallianz gebildet wird. Identifizierbarkeit ist somit in Ländern am größten, in denen regelmäßig ein Großteil der Wählerstimmen auf zwei Wahlbündnisse (oder Parteien) entfällt, sowie eine dieser Allianzen oder Parteien die Regierung stellt. Die Identifizierbarkeit sinkt beispielsweise, wenn viele Stimmen auf dritte, unabhängige Parteien entfallen oder wenn sich Bündnisse zum Zweck der Regierungsbildung nach der Wahl umstrukturieren. Da der Fokus auf parteibasierter Identifizierbarkeit liegt, werden Direktwahlen der Exekutive (vor allem Präsidenten in semi-präsidentiellen Systemen) vernachlässigt.

Unser Indikator für Klarheit der Verantwortlichkeiten basiert auf einer Rangordnung von Kabinettstypen, wobei wir auch den Mehrheitsstatus der Regierung in direkt gewählten zweiten Kammern beachten. Die Klarheit der Verantwortlichkeiten ist bei Einparteienregierungen mit Mehrheiten in allen direkt gewählten Kammern am stärksten, bei Koalitionen mit Minderheitsstatus in allen relevanten Kammern am schwächsten.

Anders als Shugart (2001) und Carey und Hix (2011), aber in Anschluss an Powell (2000) und Lijphart (2012), beziehen wir darüber hinaus die Regierungsstabilität mit ein. Wie Powell argumentiert hat, kann man Regierungsstabilität als Vorbedingung für klare Verantwortlichkeiten verstehen, und dasselbe gilt im Prinzip auch für die Identifizierbarkeit. Häufig wechselnde Regierungen unterminieren beide Ziele. Unser Indikator setzt die durchschnittliche Dauer von Regierungen zur verfassungsmäßig maximalen Dauer des jeweiligen Landes ins Verhältnis.

Die„proportionale“ Konzeption parlamentarischer Demokratie operationalisieren wir anhand der drei zentralen Konzepte unsere Kritik im vorangegangen Abschnitt. Die mechanische Proportionalität messen wir anhand der logarithmierten effektiven Wahlkreisgröße (vgl. auch Behnke et al. 2016, S. 99–101). Dimensionalität messen wir anhand der effektiven Anzahl der inhaltlichen Dimensionen (Ganghof et al. 2015). Dieser Indikator zeigt an wie stark die themenspezifischen Parteipositionen auf grundlegendere ideologische Dimensionen verdichtet werden können. Der Indikator ist nur eine Notlösung, da uns eigentlich interessiert, wie stark das Wahlsystem die Dimensionalität der Parteipositionen beschränkt. Unser Indikator fängt stattdessen auch Länderunterschiede in der politisierbaren Gesellschaftsstruktur ein.

Die legislative Flexibilität, also die Möglichkeit mit wechselnden Mehrheiten zu regieren, können wir ebenfalls nur grob messen. Wir machen sie daran fest, ob die Regierungsparteien eine fixe Mehrheitskoalition bilden – entweder eine Mehrheitsregierung oder eine Minderheitsregierung mit fester Unterstützung im Parlament. Bei Existenz direkt gewählter zweiter Kammern spiegeln die Werte jeweils die Kammer mit den höheren Werten wider.

Obwohl uns primär die Zielkonflikte interessieren, ist es hilfreich, zunächst alle sechs Variablen zu einer Skala zusammenzufassen, die von maximal „majoritärer“ zu maximal „proportionaler“ Orientierung reicht (Abb. 1).Footnote 5 Wie wir an anderer Stelle zeigen, hat diese Dimension starke Ähnlichkeit mit der „Exekutiven-Parteien-Dimension“ bei Lijphart (2012). Allerdings ist in unserer Konzeption ein Land wie Dänemark – anstatt der Schweiz – das polare Gegenmodell zum Westminster-System. Dieses Gegenmodell basiert nicht auf Konsens, sondern auch einer komplexeren Form der Mehrheitsfindung (Ganghof und Eppner 2019; Ganghof et al. 2018).

Abb. 1
figure 1

Demokratische Systeme zwischen „majoritärer“ sowie „proportionaler“ Ausprägung. Quelle: Eigene Darstellung. Erläuterung: Siehe Text und Anhang

Erwartungsgemäß stellt das Vereinigte Königreich das eine Ende des empirischen Spektrums in Abb. 1 dar und Dänemark das andere Ende. Die Schweiz hat ein etwas weniger „konsensuales“ Profil als bei Lijphart, da unser Indikator – auf der Basis der Daten von Benoit und Laver (2006) – eine eher eindimensionale Struktur der Parteipositionen ermittelt.

Um nun die Zielkonflikte in den Fokus zu nehmen, aggregieren wir die jeweils drei Variablen der beiden konkurrierenden Konzeptionen zu getrennten Dimensionen (Abb. 2). Diese Darstellung visualisiert den Zielkonflikt zwischen den jeweiligen Zielen durch die eingezeichnete Regressionslinie. Der OLS-Schätzung zufolge führt das bessere Erreichen der proportionalen Ziele um eine Standardabweichung zu einer Reduktion der majoritären Ziele um etwas weniger als 0,5 Standardabweichungen. Vermeintlich „optimale“ Wahlsysteme wie das deutsche (bei Shugart) oder das spanische (bei Carey und Hix) verhindern zwar extreme Positionen auf der Zielkonfliktlinie, sie ermöglichen es den jeweiligen Ländern aber nicht, hohe Werte entlang beider Dimensionen zu erreichen. Länder können eher nach unten „ausreißen“, wenn niedrige Werte auf der einen Dimension nicht durch entsprechend hohe Werte auf der anderen Dimension kompensiert werden. Dies ist nach unserer Messung vor allem in Israel der Fall.

Abb. 2
figure 2

Visualisierung der Zielkonflikte in parlamentarischen (sowie semi-präsidentiellen und versammlungsunabhängigen) Systemen. Quelle: Eigene Darstellung. Erläuterung: Siehe Text und Anhang

Unsere Konzeptualisierung und Operationalisierung der relevanten Ziele ist natürlich nicht alternativlos. Das Ziel unserer Analyse ist zum einen deutlich zu machen, dass jedes Optimalitätsargument von der Auswahl und Operationalisierung der relevanten Ziele abhängt – und dass diese bei Shugart und Carey/Hix offensichtlich angreifbar sind. Zum anderen wollen wir auf der Basis unserer umfassenderen Bestimmung des Zielsystems im Folgenden deutlich machen, welche neue Reformoption wir durch eine begrenzte Abkehr vom parlamentarischen Regierungssystem erhielten.

5 Semi-parlamentarische Reformoptionen

Die Grenzen der Wahlrechtsreform in parlamentarischen Regierungssystemen bilden schon seit längerem die Basis für die Rechtfertigung präsidentieller Regierungssysteme (vgl. Shugart und Carey 1992; Mainwaring und Shugart 1997; Cheibub 2006). Da die Wählerinnen im Präsidentialismus (mindestens) zwei getrennte Agenten wählen können – Präsident und Versammlung – gibt es auch mindestens zwei zentrale Stellschrauben des Demokratie-Designs. Die effektive Wahlkreishürde zur Erlangung exekutiver Macht kann getrennt von der effektiven Hürde parlamentarischer Repräsentation festgelegt werden. Dadurch können die beiden Konzeptionen der Demokratie gleichsam auf die beiden Agenten aufgeteilt werden. Die „majoritären“ und „proportionalen“ Ziele können somit durch das Design des Regierungssystems in eine bestimmte Balance gebracht werden.

Präsidentielle Regierungssysteme bringen aber den Nachteil mit sich, exekutive Macht stark in einer einzelnen Person zu konzentrieren (Linz 1994; Ganghof 2018). Daraus folgen viele Nachteile für das gesamte politische System. Die Direktwahl des Präsidenten hat tendenziell negative Auswirkungen auf die programmatische Kohärenz der Parteien sowie auf die Fraktionsdisziplin der Regierungsparteien (Samuels und Shugart 2010; Carey 2007). Darüber hinaus werden an vielen Stellen des Verfassungsdesigns Versuche notwendig, einer übermäßigen Machtkonzentration beim Präsidenten entgegenzuwirken, wodurch viele der vermeintlichen Vorteile des Präsidentialismus zumindest teilweise konterkariert werden. So gibt es zum Beispiel gute Gründe die Amtszeiten des Präsidenten zu begrenzen, allerdings wird dadurch in der letztmöglichen Amtsperiode des Präsidenten die elektorale Verantwortlichkeit sehr stark eingeschränkt. Gute Amtsinhaber können nicht wiedergewählt werden, schlechte nicht sanktioniert werden. Ohne Amtszeitbegrenzung wäre Barack Obama vielleicht Regierungschef der USA geblieben und Donald Trump als US-Präsidenten hätte es niemals gegeben.

Eine weniger personalistische Alternative zum Präsidentialismus stellen „semi-parlamentarische“ System dar. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass das Parlament aus zwei direkt gewählten Teilen besteht, von denen nur einer das Recht besitzt, den Regierungschef und sein Kabinett durch ein Misstrauensvotum abzuberufen (Ganghof 2016b, 2018). Dadurch können auch sie eine spezifische Balance zwischen konkurrierenden Design-Zielen finden, gleichzeitig aber die Machtkonzentration in einer Person vermeiden. Wir wollen diese Balance zunächst für die bestehenden semi-parlamentarischen Systeme visualisieren, die auf zwei direkt gewählten Kammern basieren. Anschließend diskutieren wir alternative semi-parlamentarische Designs.

Semi-Parlamentarismus mit zwei Kammern

Abb. 3 stellt die bereits bekannte Zielkonfliktgerade aus Abb. 2 dar und fügt nun die semi-parlamentarischen Systeme Australiens und Japans in die Grafik ein. Diese Systeme haben zwei direkt gewählte und somit im Grundsatz gleichwertig legitimierte Parlamentskammern. Anders als etwa in Italien kann aber nur die erste Kammer die Regierung in einem Misstrauensvotum abberufen (vgl. auch Taflaga 2018; Smith 2018). Die meisten dieser Systeme verwenden in der ersten (Vertrauens‑)Kammer die absolute Mehrheitswahl und in der zweiten (Gesetzgebungs‑)Kammer Verhältniswahl. Dadurch wird eine Kombination von Zielen erreichbar, die in einem reinen parlamentarischen System unmöglich ist. Die Wählerinnen können zwischen identifizierbaren Regierungsalternativen auswählen, und die Stabilität sowie die Klarheit der Verantwortlichkeit dieser Regierungen sind relativ hoch – wobei letzte natürlich durch die häufig fehlenden Regierungsmehrheiten in den zweiten Kammern ebenfalls eingeschränkt wird. In diesen Kammern müssen die Regierungen in der Regel als „Minderheitsregierungen“ agieren und themenspezifische Mehrheiten suchen.

Abb. 3
figure 3

Visualisierung der Zielkonflikte in semi-parlamentarischen Systemen. Quelle: Eigene Darstellung. Erläuterung: Siehe Text und Anhang. Die kleinen, unbeschrifteten Punkte entsprechen den Länderpositionen in Abb. 2

Die bikameralen Systeme des Bundesstaates sowie von Neusüdwales, Victoria (nach der Verfassungsreform von 2003) und Westaustralien sind in Abb. 3 deshalb positive Ausreißer: sie kombinieren hohe Werte bei den „majoritären“ Zielen mit mittleren bis hohen Werten bei den „proportionalen“ Zielen. Die anderen semi-parlamentarischen System zeigen hingegen, dass eine semi-parlamentarische Verfassung eine besondere Zielbalance keineswegs garantiert (ausführlicher: Ganghof et al. 2018).

Natürlich hängt die Zielbalance auch von der institutionellen Macht der zweiten Kammern ab, was in der Abbildung nicht berücksichtigt werden kann (vgl. Ganghof 2018). In Victoria zum Beispiel begünstigt das institutionelle Design stark die Regierungsmehrheit in der ersten Kammer, u. a. durch die Möglichkeit beide Kammern aufzulösen und Konflikte in einer gemeinsamen Sitzung zu entscheiden. Darüber hinaus hat das „Mandat“ der Regierung in Victoria Verfassungsstatus (Maier 2018; Stone 2008). In Neusüdwales dagegen fehlen diese Möglichkeiten; eine Auflösung von Gesetzgebungsblockaden ist nur durch ein Referendum möglich, bei dem beide Kammern ihr Vetorecht verlieren (vgl. auch Smith 2018). Das Profil von Neusüdwales ist stärker „proportional“, das von Victoria stärker „majoritär“. Die detaillierte Ausgestaltung des Verhältnisses der beiden Kammern ist also von großer Bedeutung und wirft weitergehende Fragen auf (vgl. auch Weale 2019, S. 75). Diese können hier nicht näher betrachtet werden (siehe Ganghof 2016a).

Klar ist indes, dass die bikamerale Form des semi-parlamentarischen Systems für viele bestehende Zweikammersysteme eine diskussionswürdige Reformoption darstellt. Weale (2019) buchstabiert diesen Punkt für das House of Lords im Vereinigten Königreich aus. Das semi-parlamentarische System „would replicate in two-chamber form some of the features of the single-chamber Nordic systems. The House of Lords would become a house of laws … It also provides a way in which some of the objections to the practice of so called ‚accountable‘ government in the Westminster system could be met“ (Weale 2019, S. 74–75). Aus der umgekehrten Richtung könnte das semi-parlamentarische System auch für Länder mit besonders stark fragmentierten Parteiensystemen, z. B. die Niederlande, eine interessante Reformoption sein. Es würde ihnen erlauben, die Ziele des majoritären Demokratiemodells zu stärken, ohne die des proportionalen Modells zu stark zu untergraben.Footnote 6

Semi-Parlamentarismus innerhalb einer Kammer

Wäre Semi-Parlamentarismus nur mit zwei Kammern möglich, wäre er für viele Demokratien sicher keine ernsthafte Reformoption. Reformer in Einkammersystemen dürften wenig geneigt sein, eine zweite Kammer neu einzuführen. Und Reformer in einem Land wie Deutschland, mit einer einigermaßen gut funktionierenden „föderalen“ zweiten Kammer, dürften kaum geneigt sein, diese zu ersetzen.

Semi-parlamentarische Demokratie benötigt aber auch kein „echtes“ Zweikammersystem. Entscheidend ist lediglich die Differenzierung der beiden institutionellen Hürden des Wahlsystems – die Hürde für die Repräsentation und die Hürde für die Mitwirkung am Misstrauensvotum. Diese Differenzierung ist auch möglich, ohne das Parlament explizit und generell in zwei Kammern aufzuteilen. Einige Möglichkeiten dieser Differenzierung werden im Folgenden skizziert.

Eine besonders einfache Option bestünde darin, eine explizite Sperrklausel für die „Abberufungsmacht“ festzulegen, so dass nur Parteien, die über x Prozent der Wählerstimmen gewinnen, das Recht erhalten am Verfahren des Misstrauensvotums teilzunehmen (Ganghof 2016b). Diese Parteien würden gleichsam einen großen „Vertrauensausschuss“ im Parlament bilden. In Bezug auf andere parlamentarische Verfahren, und insbesondere im Gesetzgebungsverfahren, wären indes alle Parteien formal gleichgestellt. Diese Option hat indes das Problem, dass jede Prozenthürde arbiträr ist – unabhängig davon, ob sie nur die Teilnahme am Misstrauensvotum oder auch den Zugang zum Parlament erschwert. Jede Hürde kann die Mehrheitsverhältnisse im Parlament oder im Vertrauensausschuss verschieben (von links nach rechts oder umgekehrt).

Eine systematischere Möglichkeit der Differenzierung von Abgeordnetenrechten könnte auf der Logik des deutschen Wahlsystems aufbauen. So könnte das Recht zur Mitwirkung am Misstrauensvotum auf die direkt gewählten Abgeordneten beschränkt werden. Diese würden wiederum einen großen „Vertrauensausschuss“ im Bundestag bilden und im Idealfall Mehrheitsregierungen aus einer Partei bzw. einer Fraktion ermöglichen. Auf diese Weise würde die „majoritäre“ Logik des Westminster-Systems auf die Regierungsbildung angewendet, aber in ein proportional gewähltes Gesamtparlament eingebettet. Solch eine Lösung stünde im Einklang mit der Sicht, dass es bei dem Mehrheitswahlsegment des deutschen Wahlsystems nicht nur – oder nicht einmal primär – um lokale oder personalisierte Repräsentation geht, sondern vielmehr um die Stärkung der Verantwortlichkeit der Regierung (Pappi und Bräuninger 2018).

Andererseits wird an dieser Stelle auch ein Grundwiderspruch der Mehrheitswahl in Einer-Wahlkreisen deutlich. Deren Ziele – personalisierte und lokale Repräsentation einerseits und Regierungsverantwortlichkeit andererseits – stehen in einem Spannungsverhältnis. Die Wahlentscheidung im Wahlkreis kann nicht gleichzeitig von lokalen und persönlichen Bedingungen und von der Performanz der Bundesregierung oder Bundesparteien abhängen (vgl. auch Rudolph und Däubler 2016). Ein semi-parlamentarisches System könnte helfen, diesen Widerspruch aufzulösen, in dem es die Erststimme von der lokalen Repräsentation löst und gezielt als „Kanzlerstimme“ ausgestaltet. Im Rahmen dieser Grundidee wären unterschiedliche Ausgestaltungen denkbar.

Eine dritte Option ergäbe sich, wenn wir bereit wären, die Idee lokaler Repräsentation durch Einer-Wahlkreise ganz aufzugeben. Dann bräuchte ein semi-parlamentarisches System nicht einmal zwei Stimmen. Wir könnten die Verhältniswahl in einem nationalen Wahlkreis mit der absoluten Mehrheitswahl (alternative vote) verbinden (Ganghof 2016a). Jede Wählerin könnte so viele Parteilisten wie gewünscht in ein Ranking bringen. Die Erstpräferenz wäre dann die Grundlage für die proportionale Repräsentation im Parlament. Durch die Rankings der Wähler würde dagegen ermittelt, welche beiden Parteien insgesamt die größte Unterstützung genießen. Dafür würden sukzessive die Parteien den geringsten Stimmen aussortiert und deren Stimmen entsprechen der Wähler-Rankings umverteilt. Dieser Prozess des sukzessiven Aussortierens würde solange fortgesetzt, bis nur noch zwei Parteien übrigblieben. Diese beiden Parteien wären dann im Vertrauensausschuss entsprechend ihrer Zwei-Parteien-Stimmanteile repräsentiert, während das Gesamtparlament weiterhin proportional gewählt wäre.

Soll am Ziel lokaler und persönlicher Repräsentation festgehalten werden, bestünde eine vierte Option darin, dieses Ziel gleichsam auf die Zweitstimme zu verschieben. Die Erststimme würde dann – wie eben beschrieben – dazu genutzt, in einem nationalen Wahlkreis die beiden Parteien des Vertrauensausschusses zu bestimmen. Dadurch würde die Erreichung der majoritären Ziele praktisch garantiert: identifizierbare, verantwortliche und stabile Regierungen. Die Zweitstimme könnte dagegen für eine Verhältniswahl in Wahlkreisen moderater Größe genutzt werden, um einen Ausgleich zwischen lokaler Repräsentation und Proportionalität zu finden. Darüber hinaus gibt es alternative Möglichkeiten die persönliche Verantwortlichkeit der Abgeordneten zu stärken, wie etwa offene Listen (Rudolph und Däubler 2016).

6 Kritik am semi-parlamentarischen Reformmodell

Natürlich kann auch am semi-parlamentarischen System Kritik geübt werden. Aus Platzgründen können wir hier nur auf ausgewählte Kritikpunkte eingehen.

Gesetzgebungsblockaden

Einer dieser Punkte ist die Sorge über mögliche Blockaden zwischen der Regierungsmehrheit in der Vertrauenskammer bzw. dem Vertrauensausschuss einerseits und der Gesetzgebungskammer bzw. dem Gesamtparlament andererseits. Die Literatur zum Präsidentialismus hat indes gezeigt, dass das Problem der Reformblockaden leicht übertrieben werden kann (Cheibub et al. 2004). Das zeigen auch die Erfahrungen der australischen Bundesstaaten (Pörschke 2019). Darüber hinaus lassen sich semi-parlamentarische Systeme im Vergleich zu präsidentiellen Systemen eher so ausgestalten, dass Blockaden vermieden werden, z. B. durch die Möglichkeit einer gleichzeitigen Auflösung beider Kammern („double dissolution“). In präsidentiellen Systemen laufen entsprechende Mechanismen der Blockadelösung immer Gefahr, die Macht einer einzelnen Person – des Präsidenten oder der Präsidentin – zu sehr zu stärken (vgl. Stykow 2019). Wir führen diesen potentiellen Vorteil des Semi-Parlamentarismus bei der Blockadelösung an anderer Stelle näher aus (Ganghof 2019a).

Ungleichheit zwischen Abgeordneten

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass durch das semi-parlamentarische System ein „Zweiklassenparlament“ geschaffen werde.Footnote 7 Bei der Antwort auf diesen Kritikpunkt müssen wir eine konzeptionelle und eine im engeren Sinne normative Ebene unterscheiden. Konzeptionell ist es nicht sinnvoll, den Status von Abgeordneten von ihrer Mitwirkung am Misstrauensvotum abhängig zu machen. Denn diese Mitwirkung ist ja Teil der Funktionslogik des jeweiligen Systems. Den Abgeordneten des US-Kongresses schreiben wir schließlich auch keinen geringeren Status zu als den Abgeordneten des Bundestags, weil erstere den US-Präsidenten nicht in einem Misstrauensvotum abberufen können. Die Differenzierung des Rechts zur Teilnahme am Misstrauensvotum im semi-parlamentarischen System ist eine funktional begründete Differenzierung und impliziert aus diesem Grund keinen Statusunterschied (vgl. dazu grundlegend Viehoff 2019). Dies zu behaupten, setzt die Anwendung der Funktionslogik des parlamentarischen Systems auf das semi-parlamentarische System voraus – und stellt mithin einen Kategorienfehler dar.

Gewiss kann man diesen Fehler vermeiden, wenn man den Einwand explizit normativ wendet und behauptet, dass das semi-parlamentarische System bestimmten moralischen Kriterien widerspricht. Florian Meinel (2019, S. 212) legt eine solche Sicht nahe, wenn er behauptet, dass der Semi-Parlamentarismus das „Prinzip der egalitären Repräsentation“ aufgebe. Die „Gleichheit zwischen den Abgeordneten“ werde aufgehoben, obwohl in dieser die „rechtliche Gleichheit innerhalb der bürgerlichen Nation anschaulich“ werde.

Auch dieser Kritikpunkt ist bei genauerer Betrachtung keineswegs eindeutig (zum Folgenden ausführlicher: Ganghof 2019b). Denn wir müssen sorgfältig trennen: (1) die Gleichheit der Abgeordneten von der Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger sowie (2) die Realität der egalitären Repräsentation im gesamten Verfassungssystem von deren symbolischer Veranschaulichung innerhalb des Parlaments. Unsere Sicht ist, dass es in der moralischen Bewertung von Verfassungen letztlich allein um die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger geht. Und diese kann durch ein semi-parlamentarisches System – im Vergleich mit konkreten Alternativen – durchaus gestärkt werden.

Nehmen wir als Beispiel die Sperrklausel des Wahlsystems. Wie oben ausgeführt, werden Wählerinnen und Wähler, die für nicht im Bundestag vertretene Parteien gestimmt haben oder ohne die strategischen Effekte der Sperrklausel gestimmt hätten, in gewisser Hinsicht nicht als Gleiche behandelt. Diese Ungleichheit wird mit Blick auf wünschbare Ergebnisse gerechtfertigt, z. B. mit Blick auf die Regierungsstabilität. Dass sie im Parlament gerade nicht mehr „anschaulich“ wird, weil die entsprechenden Wählerinnen und Wähler eben gar nicht oder nicht angemessen repräsentiert werden, macht sie moralisch nicht weniger bedeutsam.

Man kann deshalb fragen, ob ein semi-parlamentarisches System nicht ceteris paribus eine größere Gleichbehandlung der Bürger im demokratischen Verfahren erreichen kann. Ersetzten wir die Wahlrechts-Sperrklausel von fünf Prozent durch eine Sperrklausel zur Teilnahme am Misstrauensvotum in gleicher Höhe, wäre der kausale Effekt auf die Regierungsstabilität womöglich derselbe, die prozedurale Ungleichheit aber offensichtlich geringer. Die Anhänger kleiner und neuer Parteien hätten wenigstens einen formal gleichen Einfluss auf die Gesetzgebung; ihnen wäre nur ein direkterer Einfluss auf die Regierung verwehrt. Ihrem demokratischen Anspruch zur Teilhabe an der Meinungs- und Willensbildung wäre eher genüge getan. Es ist keineswegs eindeutig, dass wir dieses Mehr an bürgerlicher Gleichheit ablehnen sollten, nur um eine sichtbarere Ungleichheit zwischen Abgeordneten in Bezug auf das Misstrauensvotum zu vermeiden – zumal dann, wenn diese Ungleichheit eine sinnvolle funktionale Begründung hat.

7 Schlussbemerkung

Freilich müssen alle unsere Vorschläge im Detail auf ihre Wirkungen und unerwünschten Nebenwirkungen hin analysiert werden. Unser Punkt ist schlicht, dass jede institutionelle Reform, die nur das Wahlsystem umfasst, unsere Möglichkeiten beschränkt, konkurrierende Ziele auszutarieren. Der Grund ist, dass die institutionelle Hürde des Wahlsystems im parlamentarischen Regierungssystem gleichzeitig für die parlamentarische Repräsentation und die Teilnahme am Misstrauensvotum gilt. Die Hürde für die parlamentarische Repräsentation ist für die proportionale Konzeption der Demokratie entscheidend, die Hürde für die Teilnahme am Misstrauensvotum hingegen für die majoritäre Konzeption. Sind wir daher bereit diese beiden Hürden zu entkoppeln – und somit das Regierungssystem zu verändern – ergibt sich eine Vielfalt neuer Reformoptionen. Ob diese Optionen in der Praxis die Mühe und Risiken wert wären, ist eine wichtige Frage der Politikwissenschaft. Oder zumindest ist dies die These unseres Beitrags.