1 Einleitung: Anforderungen an eine Forschungsethik der Kommunikations- und Medienwissenschaft

Eine empirische Kommunikations- und Medienwissenschaft (KMW), die tragfähige und verantwortungsbewusste Antworten auf aktuelle Fragen rund um die digitale Mediengesellschaft anstrebt, steht vor konkreten forschungsethischen Herausforderungen (vgl. Prinzing et al. 2018). Dieser Aufsatz befasst sich mit Forschungsethik aus methodischer, rechtlicher und ausbildungsbezogener Sicht. Er will zur Beschäftigung mit vergleichbaren Fragestellungen und zu einem Erfahrungsaustausch in der wissenschaftlichen Gemeinschaft beitragen. Ziel des Beitrags ist es, anhand von Beispielen die Relevanz einer methodisch fundierten Ethikkompetenz für Forschende und Lehrende zu veranschaulichen und Möglichkeiten ihrer Vermittlung zu präsentieren, denn ethisch vertretbares Forschungshandeln ist ein zentraler Aspekt guter wissenschaftlicher Praxis (vgl. dazu DFG 2019, S. 14–22). Forschungsethik dient als „Orientierungsrahmen für Forschende zur Reflexion ihrer Praxis“ (RatSWD 2017, S. 15) und erhebt den Anspruch, „Praxis verändern zu wollen“ (Köberer 2015, S. 111). Diese Praxis betrifft drei Ebenen (vgl. Schlütz und Möhring 2016, S. 484–488): Auf der Makroebene wird Forschungsethik durch übergeordnete rechtliche Rahmenbedingungen wie z. B. die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen sowie die grundgesetzlichen Freiheitsrechte, aber z. B. auch die Datenschutz-Grundverordnung (EU-DSGVOFootnote 1) geprägt. Auf der Mesoebene sind Standesregeln von Bedeutung sowie geübte Praxis. Diese wurden im Idealfall diskursiv ausgehandelt. Für die KMW sind etwa die Ausführungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (2019), des Wissenschaftsrates (2015) sowie des Rates für Sozial- und Wirtschaftsdaten (2017) relevant. Außerdem spielen die Ethik-Kodizes der DGPuK (2017) sowie anderer Gesellschaften (z. B. APA 2017; BDP/DGPs 2016; DGS/BDS 2017) eine Rolle. Allerdings sind forschungsethische Aspekte hier oftmals nur nebensächlich. Auf der Mikroebene schließlich kommt die individuelle Verantwortung der Forschenden zum Tragen, rechtliche Vorgaben, standesrechtliche Normen und institutionelle ethische Richtlinien auf den Einzelfall anzuwenden. Hier besteht die Herausforderung, dass forschungsethische Fragen bislang kaum systematisch zur Förderung der Ethikkompetenz in die Aus- und Weiterbildung integriert sind (vgl. Rakebrand und Schlütz 2019, S. 188). Dies kann eine mangelnde Sensibilität für forschungsethische Aspekte im Allgemeinen bewirken, aber auch zu Schwierigkeiten bei der Bewältigung ethisch-methodischer Dilemmata führen (vgl. Schlütz und Möhring 2018). Befähigungen auf diesen Ebenen erzeugen Ethikkompetenz und damit Verantwortungsorientierung (vgl. Prinzing im Druck). Im Folgenden reißen wir zunächst anhand von drei Beispielen das Problemfeld an. Anhand von zwei empirischen Fallstudien, die den Umgang mit vulnerablen Personen in qualitativen Interviews (Abschn. 3) sowie die Wirkung informierter Einwilligungsprozesse auf die Teilnahmebereitschaft an Online-Befragungen (Abschn. 4) untersuchen, diskutieren wir forschungsethische Aspekte in der Forschungspraxis. Im fünften Abschnitt erörtern wir die sich ergebenden Konsequenzen für eine Vermittlung von Forschungsethik in der Lehre, um abschließend ein Fazit zu ziehen.

2 Problemaufriss: Forschungsethik als Querschnittsthema

Im Folgenden illustrieren wir Spannungsfelder, die sich im Rahmen empirischer Forschung ergeben können. Sie verdeutlichen die Forschungspraxis, in der häufig ethische Fragen zu bewältigen sind. Damit dies gelingt, bedarf es eines ethischen Selbstverständnisses des Faches, aber auch der einzelnen Forschenden. Um ein solches zu entwickeln, aber auch um es zu vermitteln, ist es notwendig, sich innerhalb der KMW noch stärker mit forschungsethischen Fragen auseinanderzusetzen, sie systematisch als Richtschnur in Forschungsprozesse zu integrieren und diese Aspekte in der Lehre zu berücksichtigen. Wir behandeln hier die Frage, wie man die theoretische Auseinandersetzung mit Werten und Normen, die in der KMW bereits seit langem ertragreich geführt wird (vgl. z. B. Publikationen aus der Fachgruppe Kommunikations- und Medienethik der DGPuK sowie aus dem wissenschaftlichen Netzwerk „Werte und Normen als Forschungsgegenstände und Leitbilder in der Kommunikationswissenschaft“, ferner Karmasin et al. 2013), mit Erfahrungswissen verbinden und systematisch in Forschung und Lehre überführen kann, um praktische Handlungsroutinen zu etablieren. Ziel ist es, forschungsethische Standards auf der Ebene der Korporationen, aber auch als Selbstbindungen im Sinne einer „moralischen Sozialisation“ zu etablieren, so dass sie kritisiert, eingefordert und begründet werden können (vgl. Debatin 1997, S. 298). Forschungsethik wird – in Abgrenzung zur Wissenschaftsethik (die z. B. die Gesellschaft als wichtiges Bezugsfeld erkennt) – in diesem Beitrag zwar als eine wissenschaftliche Praxis verstanden (vgl. Graumann 2006, S. 253; Bleisch und Huppenbauer 2014), aber sie geht über kollektiv vereinbarte, konsensuelle Regeln und Standards nebst darin eingeschlossenen Wertannahmen hinaus. Sie umfasst auch die normative Begründung. Moralische Überzeugungen bezogen auf wissenschaftliches Handeln zum Beispiel werden begründet anhand einer informierten Reflexion, die auf ein philosophisches Fundament aufbaut (vgl. Debatin 2010, S. 318–327; Rath 2017, S. 46–49 bezogen auf Datenschutz). Und sie schließt Selbstbeobachtung, Verantwortungsbereitschaft und eine Sensibilität für die Wirkung sozialethischer Strukturbedingungen ein (vgl. Altmeppen 2016, S. 114–116; Heise 2017, S. 766–778).

2.1 Informationelle Selbstbestimmung und Privilegien beim Umgang mit Daten

Informationelle Selbstbestimmung, Datenschutz, Datenerhebung und Datenschutzfolgeabschätzung werden im Prinzip zwar geregelt, aber trotz der im Mai 2018 in Kraft getretenen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO, u. a. §35) ist dies für die Forschungspraxis weiterhin unzureichend. „Interferenzen“ zum Beispiel sind nicht geregelt: Kombinierte Datensätze und daraus gezogene Rückschlüsse werden nicht als personenbezogene Daten aufgefasst und daher nicht vergleichbar reguliert (vgl. Wachter und Mittelstadt 2018). Eine durchgängige, informierte Einwilligung von Versuchspersonen ist auch deshalb kompliziert, weil Daten oft geteilt werden (etwa für Sekundärauswertungen). Dies führt zu ethischen Grundsatzfragen: Wann ist von wem und wofür eine Einwilligung notwendig (vgl. Custers 2016)? Müssen Social Media-User stets damit rechnen, dass ihre Inhalte (Bild und Wort) beforscht und sie demzufolge weder in Kenntnis gesetzt noch um Zustimmung gebeten werden? Braucht es „Opt-Out“-Optionen auf Plattformen, durch die User sich bewusst gegen eine Integration ihrer Posts in Datensätze aussprechen (vgl. Fiesler und Proferes 2018)? Ist also ein dem Informant*innenschutz vergleichbarer „Proband*innenschutz“ nötig? Bedarf es eines Schutzes für Forschende, eines Privilegs zur Zeugnisverweigerung wie im Journalismus? Im Forschungsdatenmanagement zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab, hin zu stärker nutzerzentrierten Ansätzen und zu einer Weiterentwicklung „zugunsten von mehr Kollaboration und einer dynamischen, bedarfsgetriebenen und nachhaltigen Ausrichtung von Diensten“ (RFII 2018, S. 4). Diese gilt es auch systematisch auf Forschungsprozesse der KMW zu übertragen.

2.2 Kinder als vulnerable Forschungssubjekte

Der Schutz Minderjähriger ist ein Beispiel für den Umgang mit vulnerablen Personengruppen in Forschungsprozessen. Die Entscheidung, ob es ethisch verantwortbar ist, solche Gruppen zu beforschen, hängt von verschiedenen Aspekten ab: Übersteigt der Nutzen der Teilnahme (für andere Kinder, für die minderjährigen Proband*innen...) das damit einhergehende Risiko? Wird die Würde des Kindes angetastet oder ihm sonst ein Schaden zugefügt? Die Kriterien der Schaden-Nutzen-Abwägung sind allerdings nicht objektiv, sondern hängen vom Einzelfall und den zugrundliegenden Urteilsprinzipien ab: So ist es einerseits geboten, zu für andere nützlichen Erkenntnissen beizutragen; für minderjährige Proband*innen ist es zudem aus erzieherischen Gründen sinnvoll, Normen wie Solidarität und Altruismus zu folgen. Andererseits ist das Verbot bedeutsam, Kinder für fremde Zwecke zu instrumentalisieren. Zudem entscheiden die Eltern als Interessenvertreter des Kindes über die Zumutbarkeit der Teilnahme (Proxy-Consent). Lehnt das Kind selbst seine Mitwirkung ab, ist es im Prinzip zwar geboten, diese Entscheidung zu respektieren und ihr Folge zu leisten, zugleich besteht aber gar kein Einvernehmen darüber, wann und für welche Situation ein Kind die Tragweite selbst erfassen kann (vgl. EECERA 2015). Aktuelle Reflexionen zum Kindeswohl und dem Zusammenspiel von Selbstbestimmung, Fürsorge und Befähigung als den drei zentralen Säulen der Kinderrechte legen weitere Abwägungen nahe: Sieht man Kinder als „beings“, also nicht nur als zukünftige Erwachsene, dann ist eine paternalistische Haltung grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig. Kindern ist also vielmehr zu ermöglichen, Selbstbestimmung als eine sich lebenslang entwickelnde Autonomiekompetenz auszubilden (vgl. Stapf 2019, S. 74–77). In der KMW, die das Aufwachsen in mediatisierten Lebenswelten ausdrücklich thematisiert, kann dies sogar unmittelbar ein Forschungsanliegen sein: Will man beim Heranwachsen Schutz, Befähigung und Selbstbestimmung im kindlichen Interesse angemessen verzahnen, liegt es nahe, Kinder aktiv am Forschungsprozess partizipieren zu lassen und „Theorien, Verfahren, Prozesse und die Forschung auch vom Kind her zu denken“ (Stapf 2019, S. 81). Diese Überlegungen sind auch auf andere vulnerable Gruppen übertragbar.

2.3 Bildmaterial als multiple ethische Herausforderung

In der visuellen Kommunikationsforschung sind die Vorstellungen von Privatheit auch im Umgang mit Bildmaterial sehr verschieden (vgl. Lobinger et al. 2019). Die Anonymisierung ist dabei eine besondere Herausforderung: Wird Bildmaterial überhaupt verpixelt, d. h. durch Software unkenntlich gemacht? Wer wird verpixelt und wie? Lassen sich Plätze und Räume wirklich anonymisieren? Wann ist Re-Enactment, also das Nachstellen einer Szene, sinnvoll und erkenntnisreich? Auch ist ungeklärt, ob das Darstellen potenziell traumatisierend wirkender Bilder zumutbar ist oder nicht. Wie wird mit weiteren Personen auf dem Bild und deren informationeller Selbstbestimmung umgegangen? Wird das Projekt bereits zu Beginn der Datenerhebung an die Abgebildeten kommuniziert oder erst wenn die Publikation gesichert ist? Wo sind die Grenzen zu ziehen, die Abgebildeten zu informieren? Wie groß die Herausforderungen bzw. Erwartungen hier sind, legt eine Studie über Twitter-Quotes nahe: 67 % der Befragten fänden nicht gut, wenn einer ihrer Tweets ohne ihre Kenntnis in einer Studie verwendet oder sogar zitiert würde, und jeder zweite auch nicht, wenn er es im Nachhinein erführe (vgl. Fiesler und Proferes 2018, S. 8).

Datenmanagement, vulnerable Zielgruppen und Umgang mit Bildmaterial sind Beispiele, die zeigen, wie vielfältig die forschungsethischen Herausforderungen in diversen Anwendungsfeldern der KMW sind. Sie verdeutlichen den Stellenwert von Forschungsethik als Querschnittsthema, das im gesamten Forschungsprozess verankert sein muss – von der Begutachtung (Fairnessprinzip, offene Reviews, Reviews von noch nicht promovierten Forscher*innen), über die Studienanlage und -durchführung bis hin zur Selbstprüfung im Forschungs- und im Publikationsprozess. Dieser Punkt unterstreicht aus unserer Sicht die Relevanz eines solchen Kulturwandels in der Scientific Community, wie er bereits bei Karmasin et al. (2013) sowie bei Zillich et al. (2016) eingefordert wird: Um das Ziel zu erreichen, wird nämlich nicht auf externe Regulation (und damit auf mehr Bürokratisierung) gesetzt, sondern auf individuelle Verantwortung und Selbstreflexion – allerdings eingebunden in eine diskursive Fachkultur. Ethische Prinzipien sind Gebote, sie basieren auf Einsicht und Bereitschaft zur Selbstregulierung. Eine in diesem Sinn „vernünftige“ Forschungsperson ist bereit zur Reflexion und will aus Fehlern lernen, um möglichst verantwortungsbewusst zu forschen. Verantwortung wird zum Qualitätskriterium bzw. zum regulativen Leitprinzip (vgl. Funiok 2007, S. 78). Wie dies konkret in Forschung und Lehre umgesetzt werden kann, zeigen die folgenden Beispiele eines qualitativen Forschungsprojektes und einer quantitativen Erhebungsmethode sowie die anschließende exemplarische Ausarbeitung von Didaktikbausteinen für die Lehre.

3 Fallbeispiel 1: Die Smartphone-Nutzung syrischer Geflüchteter

Die forschungsethisch herausgeforderte empirische Migrations- und Fluchtforschung bedient sich vielfach qualitativer Interviews (vgl. Fedyuk und Zentai 2018, S. 171; Block et al. 2012, S. 71). Allerdings tritt die Auseinandersetzung mit ethisch-methodischen Fragen in Publikationen zugunsten der Darstellung der Studienergebnisse oftmals in den Hintergrund (vgl. van Liempt und Bilger 2012, S. 453), obwohl sich gerade über diese „Wege des Wissensgewinns“ (Averbeck-Lietz und Sanko 2016, S. 129) insbesondere der wissenschaftliche Nachwuchs den Forschungsprozess als ethisches Handeln erschließen könnte. Dieser Abschnitt beleuchtet daher ethisch-methodische Herausforderungen und Dilemmata anhand einer Fallstudie mit syrischen Geflüchteten zu ihrer Smartphone-Nutzung auf der Flucht nach Österreich sowie nach der Ankunft in Wien (zu den Ergebnissen vgl. Kaufmann 2016, 2018a; ausführlich zu den forschungsethischen Entscheidungen im Forschungsprozess vgl. Kaufmann 2018b).

Im Herbst 2015, auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise, schienen Menschen auf der Flucht mit Smartphones in den Händen medial omnipräsent zu sein. Allerdings existierten zu diesem damals neuartigen Phänomen der „connected refugees“ (Smets 2017, S. 113) noch keine fundierten Erkenntnisse darüber, wofür diese Menschen ihre mobilen Geräte tatsächlich einsetzten. Antworten sollte ein Forschungsprojekt bringen mit der forschungsleitenden Frage: Wie nutzen Geflüchtete ihr Smartphone auf der Flucht nach Österreich und nach der Ankunft in Wien? Das Vorhaben erwies sich v. a. aus zwei Gründen als herausfordernd: Zum einen ging es um den heiklen Forschungsgegenstand der Flucht, zum anderen zielte es auf eine vulnerable, potentiell traumatisierte Gruppe. Die ethisch-methodischen Herausforderungen zogen sich durch den gesamten Forschungsprozess. Bereits der Zugang zur syrischen Community in Wien und die Rekrutierung von Gesprächspartner*innen erwiesen sich als große Hürde, zumal ein gewisses Vertrauensverhältnis nötig war, um Details der irregulären Flucht zu erfahren. Erfolgreich war nur eine Schneeballrekrutierung über gemeinsam bekannte Dritte, wobei sich die Beteiligung eines syrischen Praktikanten mit eigener Fluchterfahrung im Forschungsprojekt als Schlüssel zur Community der Geflüchteten erwies.

Als Erhebungsmethode kamen insbesondere qualitative Einzelinterviews infrage, da sie es ermöglichten, sich ausführlich auf die jeweilige Person einzulassen. Um dem in das Forschungssetting eingeschriebenen Machtgefüge entgegenzuwirken (vgl. Block et al. 2012, S. 71), galt es u. a. zunächst, die Sprachwahl für die Interviews abzuwägen: Ein Austausch in den Muttersprachen Deutsch und Arabisch mit einer Übersetzerin wäre sicherlich sprachlich zuverlässig gewesen, hätte allerdings zu einer zusätzlichen Distanz zwischen den Gesprächspartner*innen geführt. Daher wurde Englisch als Interviewsprache gewählt, das zwar nur Vermittlungssprache war und zu methodischen Einschränkungen führte. Allerdings brachte Englisch wichtige Vorteile, da der Austausch in der gemeinsamen Fremdsprache auf Augenhöhe geschehen konnte. Zusätzlich half der syrische Forschungspraktikant als befähigter „Laienübersetzer“ bei Verständnisproblemen (Enzenhofer und Resch 2011, Abs. 26).

In der Interviewsituation galt es vor allem, das bestehende – für Menschen auf der Flucht überlebenswichtige – Misstrauen zu überwinden (vgl. van Liempt und Bilger 2012, S. 458). Die Darstellung des Ziels, mit der Studie über die von Vorurteilen geprägte Nutzung und die tatsächliche Relevanz des Smartphones für Geflüchtete aufklären zu wollen, lieferte den Gesprächspartner*innen dabei offenbar eine zufriedenstellende Antwort auf die Frage des „Why do you want to know this?“ (van Liempt und Bilger 2012, S. 456). Auch die informierte Einwilligung in die Interview-Teilnahme und die Audio-Aufzeichnung des Gesprächs war ein wichtiger Schritt zur Umsetzung forschungsethischer Anforderungen. Sie erfolgte bewusst nur mündlich, weil Formulare und Unterschriften kontraproduktiv auf die zugesicherte Anonymität und das fragile Vertrauensverhältnis gewirkt hätten. Auch im Verlauf der Interviews war die erkennbare Wahrung von Anonymität ein zentrales Anliegen, weshalb keine Fragen zu Religiosität, Ethnizität, politischer Einstellung, Asylstatus, Herkunftsorten usw. gestellt wurden.

Eine wesentliche forschungsethische Herausforderung der Interviews mit aus Kriegsgebieten geflüchteten Personen war außerdem der Umgang mit (Re‑)Traumatisierung (vgl. BenEzer und Zetter 2015, S. 301). Sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen ist manchen Betroffenen ein Bedürfnis und kann ihnen zur Verarbeitung und Selbsterkenntnis verhelfen. Daher setzte der Rekrutierungsprozess gänzlich auf eine Selbstselektion derer, die ihre Geschichte erzählen wollten. Die Interviews fanden in möglichst angenehmer, ruhiger Atmosphäre statt. Die Wertschätzung den Studienteilnehmenden gegenüber wurde mit Gesten der Gastfreundlichkeit unterstrichen, und sie bekamen Zeit, ihre Erlebnisse zu schildern. Im Verlauf der Gespräche kam es immer wieder zu „ethisch wichtigen Momenten“ (Guillemin und Gillam 2004, S. 262), in denen das Dilemma zwischen Nachfragen, die methodisch geboten sowie inhaltlich aufschlussreich gewesen wären, und einem ethisch verantwortungsvollen, sensiblen Umgang mit den Betroffenen angesichts ihrer bestürzenden Erlebnisse greifbar wurde. Die erhebliche Kluft zwischen der Erfahrungswirklichkeit der Beforschten und der Forschenden sowie das interkulturelle Setting verstärkten die Dringlichkeit eines forschungsethisch sensiblen Handelns (zu Insider-Outsider-Konstellationen im Forschungsprozess vgl. Lohmeier 2018). Entsprechend wichtig war die Rolle des syrischen Forschungspraktikanten im Projekt. Im Sinne eines „Hanging out“ (Rodgers 2004, S. 48) gab er einen umfassenden Einblick in die Biografie und den Alltag eines syrischen Geflüchteten in Österreich, stand kontinuierlich zur kommunikativen Validierung zur Verfügung und half so auch den Forschenden, die belastenden Interviews selbst besser zu verarbeiten.

Das skizzierte Beispiel zeigt den Zwiespalt zwischen ethischem Anspruch und methodischer Notwendigkeit und zugleich deren Untrennbarkeit in empirischer Forschung (vgl. die Diskussionen bei Markham et al. 2018; Schlütz und Möhring 2018). Oftmals bleibt dieses Ringen mit ethisch-methodischen Dilemmata in der späteren Darstellung einer Studie unerwähnt, sei es, weil es vermeintliche Angriffsflächen offenbaren würde oder weil das konstruktive Interesse an diesem Prozess im Fach zu gering erscheint. Dabei braucht es für die weitere Entwicklung eines forschungsethischen Selbstverständnisses in den KMW die Auseinandersetzung über die konkrete Anwendung von Forschungsethik auf der Mikroebene und auch eine entsprechende Nachwuchsschulung (vgl. auch Abschn. 5). Dieser Bedarf beschränkt sich nicht auf qualitativ forschende KMW, sondern umfasst z. B. auch ethisch-methodische Konsequenzen beim Einsatz mobiler, digitaler Technologien (vgl. Kaufmann 2020) sowie in quantitativen Forschungsansätzen. Auf Letzteres geht das folgende Fallbeispiel ausführlich ein.

4 Fallbeispiel 2: Auswirkungen der informierten Einwilligung in Online-Befragungen

Die standardisierte Online-Befragung hat sich als Methode in der empirischen KMW etabliert. Eine zunehmende Zahl medialer und kommunikativer Phänomene spielt sich online ab, und ihre Erforschung erfolgt entsprechend mit digitalen Methoden, die sich jedoch im Spannungsfeld von Recht, Ethik und Methodik befinden (vgl. Schlütz und Möhring 2018): Methodische Gütekriterien wie Reliabilität und Validität sollen nach Möglichkeit nicht beeinträchtigt werden, aber zugleich sind allgemeine (datenschutz-)rechtliche Vorgaben einzuhalten und die forschungsethischen Standards des Fachs (bspw. APA 2017; DGPuK 2017) zu berücksichtigen.

Insbesondere bei Online-Umfragen zählt hierzu in erster Linie die informierte Einwilligung. Sie klärt über die Teilnahmebedingungen auf und informiert u. a. über die Freiwilligkeit der Teilnahme oder die Verwendung der erhobenen Daten (vgl. APA 2017; Döring und Bortz 2016, S. 124–127). Ihr Einsatz ist in den für die KMW relevanten Ethikkodizes und Leitlinien sowie in Methodenhandbüchern (z. B. Döring und Bortz 2016, S. 124–127; Möhring und Schlütz 2019, S. 1–3) und im Datenschutzgesetz (§ 51 BDSG) festgehalten und wird somit nicht ohne Grund von Schlütz und Möhring (2016, S. 489) als „zentrales Mittel forschungsethischen Vorgehens“ bezeichnet. Dennoch ist ihre Implementierung in der Forschungspraxis nicht eindeutig geklärt: Die aufgeführten Kodizes und Handbücher unterscheiden sich z. T. In den notwendigen Aspekten der Einwilligung sowie darin, ob diese explizit zu erfolgen hat. Ein Großteil der empirischen Online-Befragungen bedient sich unserer Beobachtung nach der impliziten Einwilligung, welche die Zustimmung der Proband*innen zur Teilnahme aus eben jener Teilnahme selbst ableitet (vgl. Schlütz und Möhring 2018, S. 45). Ob in solchen Fällen jedoch tatsächlich das Einverständnis mit der Datenerhebung und -auswertung vorliegt und die Bedingungen, unter denen die Teilnahme stattfindet, von den Befragten verstanden wurden, bleibt ungeklärt (vgl. Perrault und Nazione 2016).

Als zentrales Argument gegen explizite Einwilligungsprozesse wird die Befürchtung geäußert, ein solches Prozedere könne die Zahl der Teilnahmeverweigerungen erhöhen und damit die ohnehin schon geringen Ausschöpfungsquoten kommunikationswissenschaftlicher Befragungsstudien weiter beeinträchtigen (vgl. Dutwin et al., 2015; Messingschlager 2012, S. 123–124; Schlütz und Möhring 2018, S. 45). Inwiefern diese Bedenken empirisch belegbar sind, bleibt allerdings offen – auch weil ein Großteil der Untersuchungen zu wissenschaftlichen Einwilligungsprozessen bisher entweder in den Medizinwissenschaften stattfand (z. B. Furness und Nicholson 2004; Länsimies-Antikainen et al. 2010), in denen in der Regel deutlich schärfere und umfangreichere rechtliche und ethische Rahmenbedingungen gelten, und/oder sich in erster Linie mit Befragtenpopulationen des globalen Südens auseinandersetzt (z. B. Barsdorf und Wassenaar 2005; Manafa et al. 2007). Erste explorative Ergebnisse zur Wirkung der expliziten informierten Einwilligung in kommunikationswissenschaftlichen Online-Befragungen deuten allerdings darauf hin, dass das grundsätzliche Vorhandensein eines solchen Einwilligungsprozesses tendenziell keine oder nur sehr geringfügige negative Effekte auf die Ausschöpfungsquoten entsprechender Studien hat, in gewissen Fällen sogar positiv auf die Teilnahmebereitschaft potentieller Proband*innen wirkt (vgl. Kreissl im Druck). Hieraus kann die KMW erste Schlüsse ziehen, die nahelegen, bei empirischen Befragungsstudien zukünftig Verfahren zur expliziten informierten Einwilligung insbesondere dann konsequent einzusetzen, wenn möglichst kurz und präzise über die Teilnahmebedingungen aufgeklärt werden kann (siehe hierzu auch die „C’s of Consent“ nach Szala-Meneok 2009, S. 512). Kreissls (im Druck) Ergebnisse implizieren außerdem, dass Teilnahmeentscheidungen oft primär vom genannten Thema bzw. vom Zweck der Befragung abhängen. Zudem werden sie offenbar von altruistischen Motiven und habitualisierten Verhaltensweisen der Proband*innen beeinflusst und somit häufig bereits vor dem Kontakt mit etwaigen Einwilligungsprozessen gefällt. Im Einklang mit Schnell (1997) sowie Groves et al. (2009) legt dies nahe, dass die explizite informierte Einwilligung eine eher untergeordnete Rolle im Entscheidungsprozess spielt, was jedoch gleichermaßen verdeutlicht, dass ihr konsequenter Einsatz womöglich weniger abträglich für die Ausschöpfungsquote ist als befürchtet. Dennoch bleibt der dringende Bedarf an weiterführenden empirischen Untersuchungen zur Wirkung der informierten Einwilligung in Online-Befragungen bestehen, auch da insbesondere von Personen, die die Teilnahme verweigern, oftmals keine Daten vorliegen, die Aufschluss über Gründe und Motive für diese Entscheidung liefern könnten (vgl. Dutwin et al. 2015, S. 4–5; Kreissl im Druck). Messingschlager (2012, S. 122) spricht vor diesem Hintergrund von der „doppelten Unsichtbarkeit“ dieser Fälle.

Auch auf der inhaltlich-konzeptuellen Ebene sind noch nicht alle Fragen und Probleme des Einsatzes expliziter Einwilligungsprozesse geklärt: So weist Custers (2016, S. 3–5) darauf hin, dass die einmal gegebene Einwilligung in die Studienteilnahme keineswegs von zeitlich unbegrenzter Gültigkeit ist – sie kann sogar noch während der Teilnahme selbst zurückgezogen werden. In diesem Fall entsteht auch die (von der Anonymität der Befragten verstärkte) Herausforderung, solche bewussten Ausstiege im Verlauf der Studie von anderen Formen des Studienabbruchs (z. B. aus Desinteresse, technischen oder Zeitgründen) zu unterscheiden, so wie es auch Dutwin et al. (2015, S. 13) fordern. Zumindest jedoch gilt es, im Rahmen des Einwilligungsprozesses nicht nur darauf hinzuweisen, dass der Rückzug der Teilnahmeeinwilligung jederzeit möglich ist, sondern auch darüber aufzuklären, was im Falle eines Studienabbruchs mit bereits erhobenen Daten passiert. Die Ergebnisse von Kreissl (im Druck) deuten darauf hin, dass eine einleitende Information darüber, trotz der initialen Einwilligung könne jederzeit aus der Befragung ausgestiegen werden, auch tendenziell zu höheren Studienabbrüchen führt. Das gilt insbesondere, wenn eingangs in Aussicht gestellt wird, dass selbst im Falle eines Abbruchs bereits erhobene Daten in die Datenauswertung einfließen können. So erscheint es nicht nur notwendig abzuwägen, inwiefern solche methodischen Einschränkungen in Kauf genommen werden können, sondern gegebenenfalls auch technische Lösungen zu entwickeln, die den jederzeitigen bewussten Ausstieg aus einer Online-Befragung explizit ermöglichen (z. B. ein „Ich möchte nicht mehr teilnehmen“-Button inkl. anschließender Abfrage, ob bereits erhobene Daten weiterverwendet werden dürfen).

Mit einer steigenden Anzahl solcher Einwilligungserklärungen wächst allerdings auch das Risiko, dass diese gar nicht oder nur unvollständig gelesen werden (vgl. Arcand et al. 2007). Es ist deshalb auch Aufgabe der KMW, ihre potentiellen Forschungssubjekte für ethisch verantwortungsvolle Forschung zu sensibilisieren, sie zu ermutigen und zu befähigen, (Befragungs‑)Studien entsprechend einzuordnen und zu verhindern, dass der Einwilligungsprozess zum „Selbstverständlichkeits-Klick“ wird. Entscheidend ist darüber hinaus, dass die genannten empirischen Erkenntnisse ebenso wie Anregungen zur forschungsethischen Reflexion in die Ausbildung des KMW-Nachwuchses einfließen.

5 Forschungsethik in der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Ausbildung

Dieser Beitrag plädiert dafür, Ethikkompetenz als Querschnittsaufgabe in der Hochschullehre zu implementieren. Im Sinne einer lehr-lern-theoretischen Begründung verweisen wir mit Beck (2017, S. 85–86) auf das Ethos- sowie das Verantwortungsparadigma als notwendige Gegenstände der wissenschaftsinternen Reflexion, und zwar explizit auch von Nachwuchswissenschaftler*innen. Da Kontrollmechanismen der Wissenschaftsgemeinschaft dafür nicht ausreichten, fordert Beck (2017, S. 85–86) mit Bezug auf Dietrich (2011), dass ein Modell des impliziten und praxisinduzierten Lernens am Vorbild – also etwa am konkreten wissenschaftlichen Arbeiten des Hochschulpersonals – durch ein Modell des expliziten und systematischen Lernens in kritischer Auseinandersetzung mit den bestehenden Standards ergänzt werden müsse. Aus dieser Erkenntnis leitet er – wie auch schon andere Autor*innen vor ihm – spezifische Kompetenzdimensionen ab. Ethikkompetenz umfasst dabei die Fähigkeit von Wissenschaftler*innen, ethische Konflikte im Forschungsprozess erkennen, beurteilen und integer auflösen zu können (vgl. Beck 2017, S. 90; Sponholz 2012, S. 7–8 sowie den Herausgeberband von Fehling 2009). An Forscher*innen wird der Anspruch gestellt, für ethische Aspekte sensibilisiert sowie befähigt zu sein, bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit zwischen (standes-)rechtlichen Bestimmungen, institutionellen Ethikrichtlinien und individuell reflektierten Handlungsentscheidungen auf der einen sowie empirischen Qualitätskriterien auf der anderen Seite abzuwägen (vgl. Rakebrand und Schlütz 2019, S. 189 mit Bezug auf Markham und Buchanan 2012; McKee und Porter 2009; Schlütz und Möhring 2018). Forschungsethische Inhalte sind daher unerlässlich für die Aus- und Weiterbildung in der KMW. Sie lassen sich bildungstheoretisch und forschungspraktisch fassen und didaktisch über die vieldiskutierte Lernform des forschenden Lernens gestalten (vgl. Brinkmann 2020). Diese Art zu lernen verknüpft Verstehen, Verständigung und methodisierte Forschung und übt intersubjektive (ethische) Praxis und Urteilskraft ein, auch im Umgang mit widerstreitenden Sichtweisen, und sie kann qualifizieren, eine professionelle sowie eine distanzierende und reflektierende forschende Haltung zu entwickeln (vgl. Brinkmann 2020).

Forschungsethische Praxis als Thema in die Hochschulausbildung zu integrieren und nicht nur im Rahmen von Weiterbildungen aufzugreifen, wird sowohl innerhalb der Scientific Community gefordert (z. B. RatSWD 2017) als auch explizit in der KMW-Gemeinschaft (z. B. Ethik-Kodex der DGPuK 2017, S. 1; Schlütz und Möhring 2016, S. 492; Heise 2017, S. 772–774; Rakebrand und Schlütz 2019, S. 188). Letztere weisen darauf hin, dass die Inhalte zwar durchaus gelehrt werden, jedoch kaum systematisch (oder zumindest nicht sichtbar) in den Curricula des Fachs verankert sind. Inhaltliche Kernelemente einer didaktischen Umsetzung sind unseres Erachtens v. a. forschungsethische Richtlinien und Rechtsvorschriften sowie Prinzipien inkl. ihrer handlungsleitenden Maßnahmen, eine ethische Auseinandersetzung mit empirischen Forschungssettings sowie ein integrer Umgang mit Forschungsergebnissen. Darüber hinaus dienen die zuvor beschriebenen konkreten forschungsethischen Herausforderungen in der KMW als Art „Blaupause“ für eine Thematisierung von Forschungsethik in der Hochschullehre. Eine solche systematische Integration in die KMW-Ausbildung erfordert allerdings, das Thema auf allen drei Ebenen (Makro, Meso und Mikro) bzw. als in Kontexte eingebetteten Gegenstand zu betrachten. Eine forschungsethisch abgewogene Methodenausbildung gehört ebenso dazu wie institutionelle, philosophische und theoretische Fragen in Bezug auf das Selbstverständnis des Fachs. Hierfür schlagen Rakebrand und Schlütz (2019, S. 192–201) Didaktikbausteine vor, die auf explizit formulierten Lernzielen beruhen. Sie basieren auf eigenen Lehrerfahrungen zum Thema Forschungsethik im Studiengang Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Leipzig sowie einer Auseinandersetzung mit Lehr-Lern-Konzepten und Literatur. Wir greifen hier das Modul eines Bausteins heraus und illustrieren eine mögliche didaktische Umsetzung der forschungsethischen Herausforderungen anhand der oben dargestellten Fallbeispiele.

5.1 Lernziele und Didaktikbausteine forschungsethischer Lehrveranstaltungen

In der KMW haben sich zwar Standesregeln etabliert – z. B. in Form des Ethik-Kodexes der DGPuK (2017) –, aber diese sind nicht im Sinne eines Regelkatalogs zu verstehen, den Studierende bloß auswendig zu lernen bräuchten. Denn Forschungsethik ist ein in Kontexte bzw. auf Makro‑, Meso- und Mikroebene eingebetteter Lehr-Lern-Gegenstand. Entsprechend weisen die bei Rakebrand und Schlütz (2019, S. 190–191; angelehnt an Fehling 2009; Sponholz 2012 und Beck 2017) formulierten Lernziele eine komplexe Taxonomie auf, die bei der Konzeption von Lehrveranstaltungen zu beachten ist. Diese Lernziele sind:

  1. 1)

    der Erwerb von Basiskenntnissen zu Forschungsethik in der KMW einschließlich eines Überblicks der forschungsethischen ‚Landschaft‘ der Disziplin;

  2. 2)

    die Fähigkeit, aktuelle Herausforderungen, Konfliktlagen und Debatten innerhalb des Fachs wahrzunehmen und zu erläutern;

  3. 3)

    die kritische Auseinandersetzung mit Forschungsethik in der KMW einschließlich der Reflexion des eigenen Ethikverständnisses als Studierende;

  4. 4)

    die Fähigkeit, diese Erkenntnisse in Studium und Weiterqualifizierung abzuwägen und anzuwenden.

Entlang dieser Lernzieltaxonomie lassen sich Lehrveranstaltungen systematisch konzipieren, wobei nicht jedes Lernziel in jeder Veranstaltung integriert oder gleichermaßen umfassend berücksichtigt sein muss. Entsprechend unterteilen Rakebrand und Schlütz (2019, S. 191) in Lehrveranstaltungen mit Forschungsethik als Schwerpunkt (z. B. im Rahmen eines Anwendungsseminars, in dem eigene forschungsethische Prinzipien aufgestellt und reflektiert werden) oder als Querschnittsthema bzw. Einzelaspekt (z. B. im Rahmen eines Methodenseminars). Statt ein Curriculum auszuarbeiten, schlagen die Autor*innen flexibel einsetzbare Didaktikbausteine vor (siehe Tab. 1).

Tab. 1 Didaktikbausteine. (Vgl. Rakebrand und Schlütz 2019, S. 192–201)

5.2 Beispiel: Modul Input zu und Diskussion von forschungsethischen Prinzipien

Im Folgenden illustrieren wir anhand der oben diskutierten Fallbeispiele, wie sich forschungsethisch relevante Phänomene der KMW mit Hilfe der Didaktikbausteine konkret umsetzen lassen. Als Beispiel dient das Modul „Input zu und Diskussion von forschungsethischen Prinzipien“, ein Element des Bausteins „Forschungsethik als Abwägungsprozess“. Dieser zielt darauf ab, bei ethisch-methodischen Dilemmata im Forschungsprozess zwischen alternativen Handlungsoptionen abzuwägen (vgl. Rakebrand und Schlütz 2019, S. 198). Das Modul beinhaltet entsprechend eine Auseinandersetzung mit den drei forschungsethischen Prinzipien Selbstbestimmung, Schadensvermeidung und Gerechtigkeit. Aus ihnen ergeben sich folgende handlungsleitende Maßnahmen: informierte Einwilligung, Schaden-Nutzen-Abwägung sowie gerechte Auswahl der Untersuchungspersonen, interkulturelle Sensibilität usw. Für die didaktische Umsetzung bieten sich zwei Varianten der Thematisierung an (vgl. Rakebrand und Schlütz 2019, S. 199): anhand eines Forschungsprojekts (siehe Fallbeispiel 1) sowie anhand einer Forschungsmethode (siehe Fallbeispiel 2).

  • Umsetzung des Prinzips der Schadensvermeidung am Beispiel eines Forschungsprojektes: Im Fall des Forschungsprojekts zur Smartphone-Nutzung von Kriegsgeflüchteten zum Zeitpunkt ihrer Flucht benötigen Studierende zunächst Vorwissen über empirische Forschung generell sowie über die spezifische, vulnerable Zielgruppe. Es bietet sich daher an, vorab das Modul „Input und Diskussion zur Empirie“ didaktisch umzusetzen, also die Forschungsschritte und vorliegende wissenschaftliche Kenntnisse über Kriegsgeflüchtete zu thematisieren. Erst dann kann sinnvoll eine kritische Auseinandersetzung anhand des Prinzips der Schadensvermeidung erfolgen. Die Studierenden können daraufhin einen Input zum Design des konkreten Forschungsprojekts erhalten und im Anschluss eine eigene Schaden-Nutzen-Abwägung vornehmen. Das bedeutet, sie stellen auf der einen Seite den Nutzen des Projekts heraus (hier also z. B. wissenschaftliche Erkenntnisse zur Smartphone-Nutzung von Kriegsgeflüchteten und ihre politische Relevanz), auf der anderen Seite die potenziell schädigenden Folgen für die Beteiligten (hier also z. B. eine mögliche Re-Traumatisierung). Die Abwägung kann in einzelnen Schritten erfolgen, etwa Rekrutierung, Erhebung und Dissemination (vgl. Rakebrand und Schlütz 2019, S. 198–201). Dabei sollen die Studierenden selbst zu einer ethisch reflektierten Entscheidung über konkrete Forschungsschritte gelangen bzw. eigene Ideen entwickeln. Dahinter steht zudem die Frage, welchen Limitationen Forschende unterliegen (hier also z. B. unzureichende eigene psychologische Kenntnisse).

  • Umsetzung des Prinzips der Selbstbestimmung am Beispiel einer Erhebungsmethode: Für eine didaktische Auseinandersetzung mit dem Nutzen und der Wirkung einer informierten Einwilligung und ihrer Inhalte auf die Teilnahmebereitschaft von Untersuchungspersonen bietet sich die Online-Befragung als konkrete empirische Erhebungsmethode an. Die forschungsleitende Frage der zugrundeliegenden Studien kann – auch in modifizierter Form – als Anreiz für moderierte Diskussionen formuliert werden. Studierende können etwa diskutieren, wann eine informierte Einwilligung geboten ist und wann auf sie verzichtet werden kann (etwa bei „risikolosen Studien“; vgl. Döring und Bortz 2016, S. 125) bzw. ob und wann sie eine abschreckende oder eine gegenteilige Wirkung auf die Bereitschaft zur Teilnahme haben könnte. Dazu bietet sich an, den Studierenden vorab Auszüge wissenschaftlicher Literatur oder Studienergebnisse an die Hand zu geben, damit sie nicht im luftleeren Raum argumentieren. Zu empfehlen ist außerdem die Vermittlung aktueller datenschutzrechtlicher Aspekte (vgl. Rakebrand und Schlütz 2019, S. 200).

6 Fazit

Ziel dieses Aufsatzes war es, die Relevanz von Forschungsethik als Querschnittsthema in der KMW zu verdeutlichen und die damit einhergehenden Herausforderungen der praktischen Vermittlung einer Ethikkompetenz bzw. eines forschungsethischen Selbstverständnisses in der Lehre herauszustellen. Der Problemaufriss, die Fallbeispiele und die Vorschläge zur systematischen Integration des Themas in die Ausbildung verdeutlichen, dass gute wissenschaftliche Praxis impliziert, im gesamten Forschungsprozess Fragen nach gesellschaftlicher und individueller Verantwortung und Verhältnismäßigkeit zu stellen. Das bedeutet zum einen, Forschungsethik als deliberativen Prozess in der KMW zu implementieren. Zum anderen muss Forschungsethik als Teil der Forschungskompetenz zum obligatorischen Thema für Aus- und Weiterbildung werden. Dieser Einbezug in KMW-Lehre über Lernziele, durch die die Komplexität des Themas fassbar wird, verlangt von Dozierenden u. a. auch, die eigene Rolle im Wissenschaftssystem zu reflektieren (z. B. Machtposition, eigenes normatives Verständnis, situiertes Wissen; vgl. Haraway 1988) und gegebenenfalls eigene Reflexionskompetenz zu erweitern (z. B. Training, ethisch relevante Fragen zu stellen, moralische Probleme zu erkennen und sie philosophisch einordnen, konzeptionell analysieren und beurteilen zu können; vgl. Bleisch und Huppenbauer 2014).

Daran knüpft die Reflexion von Forschungsethik in der KMW (vgl. Averbeck-Lietz und Sanko 2016) an, die auch eine Selbstverständnisdebatte anstößt: Inwiefern beeinflusst das Verhältnis Forschender zur sie umgebenden Scientific Community die Forschungsprozesse, also die in ihr übliche Vorstellung von Forschungsleistung, von den Akteur*innen und von deren Bezug zu Gesellschaft und (Wissenschafts‑)Politik – und was muss sich hieran verändern? Können bisherige ethische Kriterien – von der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit des Prozesses von Wissenschaftsproduktion bis hin zur Legitimationspflicht gegenüber der Gesellschaft – heutige Forschungsprozesse hinreichend steuern? Diese Selbstverständnisdebatte sollte auch das Thema forschungsethische Kompetenz einschließen, etwa hinsichtlich des Anwendungswissens über Theorien und Methoden, der Gestaltung des Prozesses einer Forschung (z. B. möglichst sparsam personenbezogene Daten erheben), der Fähigkeit zur Forschungskommunikation (z. B. Ergebnisse nicht überinterpretieren) und der Kenntnis grundlegender juristischer Vorgaben (vgl. Fehling 2009). Werden neue (digitale) Methoden entwickelt, müssen systematisch die dabei aufgeworfenen ethischen Fragen behandelt werden. Ähnliches gilt für die Erweiterung des Methoden-Portfolios auf Settings, die speziell für eine die KMW als „Öffentliche Wissenschaft“ verstehende Forschungspraxis nützlich sind (vgl. Prinzing im Druck).

Schließlich werfen all diese Überlegungen die Frage nach einer Anlaufstelle für forschungsethische Fragen auf, die als Selbstregulierungseinrichtung für den Wissenschaftsbetrieb dient. Diese könnte z. B. vorliegende Handreichungen, Leitfäden und Informationsmaterial sammeln und zur Verfügung stellen, um selbstreflexive Prozesse anzuleiten und dafür zu sensibilisieren, wo in einem Forschungsvorhaben ethische „Fallstricke“ zu beachten sind. Eine solche Anlaufstelle könnte darüber hinaus Fallbeispiele und Lösungsvorschläge für ethisch-methodische Herausforderungen der KMW sowie erprobte Lehrkonzepte bereithalten. Zudem könnte sie eine Diskussionsplattform bereitstellen, die einen forschungsethischen Diskurs in der KMW sichtbar macht und ihn damit befördert.