Zusammenfassung
Moderne Gesellschaften sind nicht nur in ihrer kulturellen, sondern auch in ihrer religiösen Zusammensetzung höchst heterogen. Dieser Umstand findet zwangsläufig auch Einzug in die Organisationen. Menschen mit verschiedenen religiösen aber auch säkularen Überzeugungen treffen aufeinander, was zu potentiell konflikthaften Situationen führt bzw. ein Problempotenzial in sich birgt. In Auseinandersetzung mit kulturanthropologischen und kulturtheoretischen Überlegungen fokussiert der Beitrag auf die lebensgestaltende Kraft und das grundsätzliche Konfliktpotential religiöser Glaubenssysteme und plädiert für eine Bewusstseinsbildung und die reflexive Beschäftigung mit dem Thema Religion und ihren sozialinteraktiven Folgen als eine notwendige Erweiterung des trainings- und beratungsbezogenen Arbeitens in interkulturellen, genauer gesagt multireligiösen Kontexten.
Abstract
Modern societies are highly heterogeneous not only in their cultural, but also in their religious composition. This fact is further evident inside of organizations, where people with different religious as well as secular beliefs meet, leading to potentially conflict situations. Following cultural anthropological and cultural theoretical considerations the article focuses on the life-shaping force and the inherent conflict potential of religious belief systems. In doing so, it calls for an awareness of and a reflective approach towards the issue of religion and its socially-interactive consequences as a necessary dimension for training and consulting in intercultural, more precisely, multi-religious contexts.
Notes
Aktuell zeigt sich ein solches religiöses Eifertum in großer Deutlichkeit im Zusammenhang mit dem sogenannten Islamischen Staat (IS), der sich in großen Teilen Syriens und dem Irak gewaltsam ausbreitet und bestrebt ist ein Kalifat zu errichten. Klare und einfache Verhältnissetzungen wie richtig-falsch, stark-schwach, gläubig-ungläubig usw. scheinen vor allem für labile junge Männer eine hohe Anziehungskraft zu haben, weshalb es den IS-Milizen sogar gelingt innerhalb vorwiegend marginalisierter Milieus in Europa Muslime für ihre Sache zu begeistern und zu rekrutieren.
Eine anders geartete Stoßrichtung, die hier nicht unterschlagen werden soll, ist aber auch die beobachtbare Fundamentalisierungsbereitschaft religiöser Gruppen (vorwiegend in der islamischen Welt, aber auch bei christlichen Bewegungen wie den Pfingstkirchen oder den Evangelikalen usw.), die sich mit wortgetreuen Auslegungen ihrer heiligen Schriften und einem Hochhalten offenbarter Überlieferungen gegen die Moderne richten (vgl. Habermas 2008, S. 35). Bei genauer Betrachtung ist dies aber ebenfalls als ein Modernisierungsphänomen zu verstehen, dieses Mal jedoch in keiner progressiven individualisierten, sondern psychologisch gesehen regressiven und politisch gesehen reaktionären Erscheinungsform. Als Gegenprogramme richten sich diese Bemühungen gegen als verkommen geglaubte Lebensweisen und versuchen mit religiöser Ideologie an die archaische Dimension der Vergemeinschaftung, Gruppensynthese und Kollektivierung anzuknüpfen, was sie als heilsversprechender erachten.
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Krainz, U. Religion und Konflikt: (K)ein Thema für Organisationen und ihre Beratung?. Gruppendyn Organisationsberat 46, 105–123 (2015). https://doi.org/10.1007/s11612-015-0279-1
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