Die Europäische Union blickt auf eine lange Geschichte der Vertiefung und Erweiterung zurück, die von Erfolgen, Stagnationsphasen und Konflikten geprägt war. Die Kodifizierung europäischen Rechts und die Schaffung der europäischen Institutionen haben die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Europa maßgeblich verändert. Dies impliziert auch erkennbare Veränderungen gesellschaftlicher Realitäten, die etwa im Bereich der Waren-, Arbeits- und Bildungsmärkte zu beobachten sind und bestehende Konsumgewohnheiten, Ausbildungsformen, Beschäftigungsverhältnisse und Einkommenslagen in Bewegung bringen. Diese Veränderungen können als Europäisierung oder europäische Öffnung bislang weitgehend nationalstaatlich strukturierter und eingehegter Räume verstanden werden. Es sind die grenzüberschreitenden Verflechtungen, Interaktionen und Diskurse, die gesellschaftliche Realitäten zunehmend innerhalb eines gesamteuropäischen Referenzrahmens positionieren und reorganisieren und gegenüber einem weltweiten Verflechtungs- und Interaktionsrahmen partiell abschließen.

Die Beiträge des vorliegenden Schwerpunktheftes zum Thema „Horizontale Europäisierung. Europa zwischen nationalstaatlicher und globaler Vergesellschaftung“ befassen sich mit diesem Öffnungs- und Veränderungsprozess. Sie präsentieren Ergebnisse der laufenden DFG-Forschergruppe „Europäische Vergesellschaftungsprozesse“ (Heidenreich et al. 2012). Den Arbeiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an diesem Forschungsschwerpunkt liegt die Annahme zugrunde, dass der europäische Integrationsprozess einen europäisierten Sozialraum entlang ausdifferenzierter Felder (u. a. Recht, Bürokratie, Wissenschaft, Wirtschaft und Arbeitsbeziehungen) formiert. Gesellschaften werden damit gleich mehrfach „zu den Seiten“ hin geöffnet, da lokale Unternehmen und Konsumenten, Gewerkschaften, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Hochschulen, Studierende und Forscher einem europäischen Kräftefeld des Wettbewerbs, der Kooperation und des Konflikts ausgesetzt werden. In empirischer Hinsicht sollte sich dies als eine erkennbare Zunahme grenzüberschreitender Verflechtungen, Interaktionen und Diskurse nachzeichnen lassen, die auf Europa als Referenzrahmen ausgerichtet sind.

Mit diesem Verständnis von Europäisierung grenzt sich das Schwerpunktheft von der politik-, rechts- und verwaltungswissenschaftlichen Europaforschung ab und entwickelt einen spezifischen analytischen Zugriff auf horizontale Vergesellschaftungsprozesse in Europa (Beck und Grande 2004; Mau 2015). Die Beiträge zum ersteren Strang der Europaforschung haben primär vertikale Europäisierungsprozesse im Blick, wenn sie sich beispielsweise mit dem Einfluss europäischer Regulierungen auf nationale Politiken (Risse und Börzel 2003; Graziano und Vink 2007) oder mit der Rolle lokaler, nationaler und europäischer Akteure bei der Entstehung und Durchsetzung politischer Entscheidungen befassen (Marks et al. 1996; Bache und Flinders 2004). Demgegenüber nehmen die Aufsätze dieses Schwerpunktes eine soziologische Perspektive auf gesellschaftliche Europäisierungsprozesse ein: Europa wird als neuartiger sozialer Raum verstanden, der durch eine „variable Geometrie“ horizontaler Verflechtungen und Verdichtungen innerhalb institutionalisierter Rahmenbedingungen ökonomischer, rechtlicher und politischer Art bestimmt ist.

Die Europäisierung national segmentierter Gesellschaften ist ein potenziell konflikthafter Prozess. Krisen und Konflikte sind der Geschichte der Europäischen Gemeinschaft bzw. Union bis heute inhärent, weil mit den Integrationsprozessen und der zunehmenden Verflechtung nationaler Gesellschaften auch die Zahl der handelnden Akteure und die potenziellen Reibungsflächen zugenommen haben. Diese Konflikte werden zweifelsohne auf der zwischenstaatlichen und supranationalen Ebene ausgefochten, da die mitgliedsstaatlichen und europäischen Akteure auf die Öffnungen oder Schließungen nationalstaatlicher Ordnungsrahmen und Regulierungen hinwirken. Ob und in welcher Weise sich nationale Gesellschaften in verschiedenen Bereichen aber europäisieren und durch europäisierte Praktiken, Denk- und Regulationsstrukturen neu konfigurieren, wird letztlich durch die grenzüberschreitenden Verflechtungen und Interaktionen bis auf die lokale Ebene und die transnationalen Macht- und Herrschaftsrelationen bestimmt.

Europa konzipieren wir als Feld von sozialen Feldern, das heißt von sozialen Sphären, die durch feldspezifische Handlungslogiken und Sinnstrukturen gekennzeichnet und durch (soziale, funktionale und territoriale) Fixierungen in Relation zu nationalen und globalen sozialen Räumen entstanden sind. Diese Sphären haben jeweils eigene, feldspezifische Kapitalien, Spielregeln und Positionierungen herausgebildet, die historisch zunächst im Nationalstaat einen Ordnungs- und Referenzrahmen fanden. Im Einflussbereich der Europäischen Union hat sich nun zunehmend ein europäisiertes „Feld der Macht“ herausgebildet (Bourdieu und Wacquant 1996; Bourdieu 2004, S. 317 ff., 2014; Kauppi 2013), in dem über die Ausgestaltung der (teilbereichsspezifischen) Felder neu gerungen wird. Diese Kämpfe sind nicht auf bestimmte (supranationale) Arenen beschränkt, denn die Öffnungen und Schließungen nationaler Sozialräume sind nicht nur Ergebnis der politischen Auseinandersetzungen zwischen staatlichen und korporativen Akteuren über die Vorrangstellung eines Integrations- oder Subsidiaritätsprimats. Sie sind immer auch geprägt durch soziale Konflikte zwischen organisierten und individuellen Akteuren mit spezifischen Interessen und Wertbindungen, die ihre jeweilige Position im sozialen Raum durch eine Integration oder Nationalisierung zu halten oder zu verbessern hoffen. Damit wird im europäisierten Feld der Macht auch ein Geltungskonflikt ausgefochten, denn bei der Öffnung oder Schließung nationaler Räume geht es um die Neugestaltung von Opportunitätsstrukturen (insbesondere die Bewertung und Verteilung von Ressourcen und Kapitalien), um die Neujustierung der Regeln einer Reproduktion von sozialen Positionen sowie um die Legitimierung spezifischer Raumstrukturen.

Die beschriebenen Entwicklungen wirken sich daher auch auf die sozialen Ungleichheitsrelationen innerhalb und zwischen den Ländern aus. Hier sind verschiedene Konfliktlinien zu nennen, etwa die zwischen Zentrum und Peripherie, Eliten und Bevölkerung sowie – allgemein gesprochen – zwischen Europäisierungsgewinnern und -verlierern. Wo diese Grenzen verlaufen, ist eine empirische Frage, der Jan Delhey und Emanuel Deutschmann in ihrem Beitrag anhand einer Untersuchung der grenzüberschreitenden Praktiken und Einstellungen der Bevölkerungen in den EU-27-Mitgliedstaaten nachgehen. Sie entwickeln ein Konzept relativer Europäisierung, das die europabezogenen Handlungen und Einstellungen der Bevölkerungen in Relation zu ihren Handlungen und Einstellungen mit nationalem und globalem Raumbezug setzt. Ihre Befunde zur Europabezogenheit der Handlungs- und Einstellungshorizonte geben Anlass, klassische Zentrum-Peripherie-Bilder zu hinterfragen. Während die Praktiken vor allem in wohlhabenderen und kleineren Ländern europazentriert sind, finden sich die europazentrierten Einstellungen vor allem in den postkommunistischen und jenen Staaten, die geografisch im Zentrum der EU liegen und nicht protestantisch geprägt sind.

Die territorialen und sozialen Disparitäten zwischen der „Eurokratie“ und den „Leuten“ und ihre mögliche Überwindung nehmen Sebastian Büttner, Steffen Mau und Lucia Leopold in ihrem Beitrag zur Bedeutung von EU-Experten in der professionellen Vermittlung von Europapolitik in den Blick. Dieser sehr heterogenen Gruppe von Intermediären kommt eine wichtige Scharnierfunktion zwischen den von der EU lancierten Themen und Programmen einerseits und den lokalen und nationalen Adressaten andererseits zu. Zugleich lassen sich in der professionellen Vermittlungsarbeit aber auch soziale Schließungsprozesse beobachten, weil ein großer Teil dieser Vermittlungsaktivitäten innerhalb von professionellen Netzwerken, Zirkeln und Kreisen stattfindet. Die Autoren weisen im Anschluss an Pierre Bourdieus Schriften zur Politik auf einen starken „professional bias“ in der Politikpraxis hin, der in der Europapolitik in Ermangelung von etablierten Institutionen der Interessenrepräsentation eine besondere Brisanz annimmt.

Über die Positionen von individuellen und kollektiven Akteuren im sozialen Raum und deren Beitrag zur Öffnung nationaler Gesellschaften und zur europäischen Schließung gegenüber dem globalen Sozialraum wird daher letztlich in sozialen Feldern entschieden. Politische Bemühungen der Europäischen Union – wie beispielsweise einen integrierten und wettbewerbsorientierten europäischen Forschungsraum zu etablieren – gewinnen erst dann an feldspezifischer Bedeutung, wenn etwa die Akteure und Akteurinnen im akademischen Feld selbst aktiv zu einer nationalstaatlichen Öffnung und einer in einem Spannungsverhältnis zur globalen Hegemonie der USA in Forschung und Wissenschaft stehenden europäischen Schließung beitragen. Der von Vincent Gengnagel, Nilgun Massih-Tehrani und Christian Baier untersuchten Förderpolitik des European Research Council und seiner Grants wird im Vergleich zu den schon länger etablierten europäischen Forschungsrahmenprogrammen eine besondere Affirmation der akademischen Elite zugeschrieben, weil sie sich meritokratischer Begründungen wissenschaftlichen Erfolgs bedient, zugleich aber wenig zur Integration der wissenschaftlichen Basis und peripherer Positionen beiträgt.

Der Frage, ob und in welcher Weise sozialräumliche und feldspezifische Strukturen und Praktiken umkämpft sind, gehen auch Susanne Pernicka, Vera Glassner und Nele Dittmar in ihrem Beitrag zur Emergenz europäischer „class cleavages“ nach. Während die Institutionalisierung des Konflikts zwischen Arbeit und Kapital in manifeste politische Ausdrucksformen wesentlich zur Staatenbildung westeuropäischer Demokratien beigetragen hat, lassen sich weder im europäischen noch im globalen Sozialraum entsprechende Institutionalisierungsprozesse finden. Eine Ausnahme bilden transnationale Felder der Arbeitsbeziehungen auf betrieblicher Ebene von global operierenden Unternehmen, die allerdings sehr unterschiedliche Formen von europäisierten Konfliktlinien hervorbringen.

In welcher Weise kollektive Akteure zu Europäisierungsprozessen beitragen, analysiert auch Christian Lahusen in seinem Beitrag zum europäischen Asylverwaltungsfeld. Er zeichnet nach, dass das Verwaltungshandeln auf der lokalen Ebene in ein europäisches Feld gemeinsamer Zuständigkeiten, Verfahrensabläufe und Wissensbestände eingebunden ist. Auf diese Weise formiert sich ein bürokratisches Feld, das keinesfalls auf eine Konvergenz des nationalstaatlichen Verwaltungshandelns hinausläuft. Es etabliert aber transnational verzahnte Verwaltungsverfahren und -praktiken, die das segmentäre und fraktale Feld bürokratischer Staatlichkeit transversal durchziehen. Unter dem Eindruck der wiederkehrenden Konflikte zwischen den Regierungen über die Ausgestaltung der europäischen Asylpolitik erstaunt es dabei vor allem, dass der Glaube an die Notwendigkeit einer Bürokratisierung Europas bei der Bewältigung dieses Problems weitestgehend unwidersprochen bleibt.

Die Beiträge des Schwerpunktheftes verdeutlichen die variable und multiple Geometrie des europäischen Integrationsprozesses, der zu einer Transformation nationaler Gesellschaften im erweiterten Handlungshorizont Europas geführt hat. Diese Entwicklungen finden aber nicht in allen gesellschaftlichen Teilbereichen in gleicher Weise und in gleicher Geschwindigkeit statt. Rückschläge sind prinzipiell nicht ausgeschlossen, und die Entwicklungen zu einer „ever closer Union“ bleiben revidierbar, wie die jüngste Entscheidung Großbritanniens über den „Brexit“ zeigt. Allerdings ist anzunehmen, dass der mögliche Austritt des Landes aus der politischen Union nicht notwendigerweise eine vollständige Herauslösung aus dem Wirtschafts-, Rechts- und Sozialraum Europas bedeuten dürfte. Europäische Spaltungsstrukturen, Integrations- und Desintegrationsprozesse werden unter dem Eindruck der aktuellen Entwicklungen einer erneuten Dynamik von Wettbewerb, Konflikt und Kooperation unterworfen. In jedem Fall aber ist anzunehmen, dass der europäische Integrationsprozess weiterhin gesellschaftliche Folgen generieren wird, die der Soziologie ein fruchtbares und noch vergleichsweise wenig erforschtes Gebiet eröffnen. Da die gesellschaftliche und wissenschaftliche Relevanz europäischer Vergesellschaftungsprozesse in den nächsten Jahren und Jahrzehnten innerhalb und über die Europäische Union im engeren Sinne hinaus aller Voraussicht nach noch weiter zunehmen wird, ergibt sich für Europasoziologinnen und Europasoziologen ein wachsendes Betätigungs- und Untersuchungsfeld.