Zusammenfassung
Emile Durkheim hat nur wenige soziologische Texte über die Demokratie geschrieben. Sie finden aber heute wieder Resonanz sowohl bei Theorien des Neorepublikanismus als auch der deliberativen Demokratie. Dieser Beitrag versucht, dieses Paradox durch eine Rekonstruktion der Durkheim’schen Konzeption der politischen Demokratie zu erklären. Der französische Soziologe beschreibt drei Kommunikationsflüsse: die Kommunikation innerhalb des Staates, zwischen dem Staat und der Zivilgesellschaft und innerhalb der Zivilgesellschaft. „Deliberation“ (im doppelten französischen Wortsinn als kollektive Diskussion und Entscheidung) findet sich nur beim ersten Typ von Kommunikation. Die paternalistische Sichtweise Durkheims wird besonders dann greifbar, wenn er die Pathologien der Demokratie thematisiert. Diese Sichtweise prägt auch den heutigen Neorepublikanismus. Der Fragestellung der deliberativen Demokratie nähert sich Durkheim durch die Entsubstanzialisierung des Demokratiebegriffs und die Anerkennung der wichtigen Rolle der Reflexion in der politischen Kommunikation, aber es fehlt bei ihm ein Konzept von Öffentlichkeit. Gleichwohl ermöglicht die Auseinandersetzung mit Durkheim, einige der Herausforderungen und der Schwierigkeiten der deliberativen Demokratie besser zu verstehen.
Abstract
Emile Durkheim has written only a few sociological texts on democracy, but they seem to remain important both for neo-republican theories and for the idea of deliberative democracy. The paper tries to explain this paradox through a reconstruction of Durkheim’s conception of political democracy, which implies three channels of communication: within the state, between the state and civil society and within civil society. The first one is the only one which rests upon deliberation, in the two meanings of this word in French (collective discussion and decision). The paternalist dimension of Durkheim’s conception clearly appears in the way he understands the typical pathologies of democracy. This paternalist dimension is also to be found in neo-republican theories. Conversely, the absence of the notion of public sphere distances Durkheim from the concept of deliberative democracy, even though he develops a non-substantialist notion of democracy and gives an important role to reflection in political communication. However, discussing Durkheim makes it possible to underline some of the problems and challenges which a conception of deliberative democracy has to face.
Résumé
Alors qu’Emile Durkheim a peu écrit de textes sociologiques sur la démocratie, ses travaux semblent trouver une actualité tant du côté des théoriciens néo-républicains que chez les tenants de la démocratie délibérative. Cet article entend expliquer ce paradoxe en reconstruisant la conception durkheimienne de la démocratie politique. Celle-ci implique trois canaux de communication démocratique, à l’intérieur de l’Etat, entre l’Etat et la société civile et à l’intérieur de celle-ci. Seul le premier implique une délibération, au double sens que ce terme revêt en français (discussion et décision). Le caractère paternaliste de la vision durkheimienne se révèle notamment dans la thématisation des pathologies propres à la démocratie. Il se retrouve dans les inspirations républicaines contemporaines. Si Durkheim se rapproche des théories de la démocratie délibérative par une vision désubstantialisée de la démocratie et par la place accordée à la réflexion dans le lien politique, il s’en éloigne en ne construisant pas de concept d’espace public. Le détour par Durkheim permet cependant de mettre en lumière une partie des difficultés et des défis auxquelles la démocratie délibérative est confrontée.
Notes
Gleichzeitig muss betont werden, dass Durkheims positive Einstellung zu berufsständischen Lösungen auf paritätischer Grundlage in einer Reihe von europäischen Ländern einen bleibenden Einfluss auf die Entwicklung sozialer Sicherungssysteme hatte, die gemeinsam von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen getragen werden (Esping-Andersen 1990).
Es wäre in dieser Hinsicht sicher nützlich, breitere gesellschaftsgeschichtliche Überlegungen über die Schlüsselkonzepte der Demokratie anzustellen. Hier könnte man dann beispielsweise folgender Hypothese nachgehen: Liegt nicht gerade in der Tatsache, dass Durkheims intellektuelle Sozialisation vor dem Aufkommen der Massenparteien stattgefunden hat, seine unerwartete Aktualität in der heutigen Zeit, in der die Rolle der Parteien in den Demokratien dauerhaft zurückzugehen scheint, nachdem sie über ein Jahrhundert für die Strukturierung des politischen Feldes bestimmend war? Hier ist nicht der Ort, diese interessanten Fragen zu diskutieren. Wir beschränken uns im Folgenden deshalb auf eine eng am Original bleibende textuelle Analyse, ohne die Anforderungen einer den Kontext einbeziehenden Ideengeschichte erfüllen zu können.
Die Vorlesung, aus denen später die Leçons de sociologie wurden, wurde zwar seit 1890 häufig wiederholt und wohl von Durkheim bis kurz vor seinem Tod (Durkheim 1990, S. 5) immer wieder aufgenommen, aber in den Formes élémentaires de la vie religieuse von 1912 wird der Staat bei der Analyse der Kollektivrepräsentationen nicht erwähnt, die ganz auf das Gegensatzpaar Religion – Wissenschaft fokussiert bleibt.
Der Begriff „Kommunikation“ wird im vorliegenden Artikel in einem generischen Sinn verwendet, d.h. also als Bezeichnung für die Gesamtheit des diskursiven und ideellen Austauschs auf den drei unterschiedlichen demokratischen Kanälen. Wir folgen hier also Durkheim nicht, der den Begriff auf den zweiten Kanal beschränkt.
Hier ist es nötig, kurz festzuhalten, dass die Entsubstanzialisierung der Politik durch Durkheim, die in seiner Zurückweisung der klassischen Theorien impliziert ist, durch seine scharfe Unterscheidung zwischen Staat und Verwaltung ergänzt wird: Auch wenn Letztere im Dienste des Ersteren steht, sind beide für Durkheim grundsätzlich verschieden. Der Staat denkt und entscheidet („l’Etat délibère“ in den beiden Bedeutungen des französischen Wortes), er „exekutiert gar nichts“. Die berühmte organizistische Metapher ist wohlbekannt, mit der Durkheim diese Unterscheidung wiedergibt: Sie erinnert ihn an den Unterschied, der „die Muskulatur“ vom „Zentralnervensystem“ trennt (Durkheim 1991, S. 76; abweichende Übersetzung). In einer solchen Perspektive ist dann der Staat „das Organ gesellschaftlichen Denkens“, gewissermaßen ein Gehirn, das in der Tat erst durch eine Rückkopplungsbewegung in die Lage versetzt wird, angemessen auf die Umwelt zu reagieren, wobei aber die Verwaltung nie zu einer Eigendynamik befähigt wird, sondern lediglich den Status eines Werkzeugs behält. Es ist müßig, bei Durkheim eine Analyse der Bürokratie zu suchen, wie sie von Marx skizziert und dann von Weber entwickelt wurde.
Bekanntlich behandelt Gabriel Tarde, der Zeitgenosse Durkheims, den Übergang von der „Masse“ zur „Öffentlichkeit“ (Tarde 1989).
Das folgende Argument erweitert die Darstellung von Hans-Peter Müller (1991, S. 324 ff.).
Jean Espilondo, Abgeordneter des Parti socialiste in der französischen Nationalversammlung, Protokoll der 2. Sitzung vom 14. Juni 2001.
Man sollte allerdings beachten, dass Durkheim selbst kein Verfechter der Dezentralisierung war, während die Quartiersräte deren Logik bis auf die mikrolokale Ebene verlängern. Aus Platzgründen analysieren wir hier nicht partizipative Einrichtungen, die in ihrer neokorporatistischen Logik an den zweiten Durkheim’schen Typus von Zwischeninstitutionen erinnern.
Für Deutschland sei hier an die Konzepte der Bürgerkommunen und der bürgernahen Verwaltung erinnert, die sich in eine vergleichbare Perspektive rücken lassen.
Darüber hinaus ist der Begriff im Deutschen sehr viel weniger verbreitet als im Englischen oder in den romanischen Sprachen. Eine Recherche auf google.de hat Mitte Januar 2009 40.000 Treffer für den deutschen Begriff „Deliberation“ ergeben. Eine Recherche zum gleichen Zeitpunkt ergab dagegen auf google.fr 2.700.000 Treffer für „délibération“ und auf google.com 3.460.000 Treffer für das englische „deliberation“.
Der Gebrauch des Begriffs „deliberative Demokratie“ in der politischen Theorie folgt also eng seiner Semantik im Englischen. Sein Gebrauch ist dort schwieriger, wo seine Bedeutung radikal von der Bedeutung in der Umgangssprache abweicht, so wie im Spanischen, Portugiesischen oder Italienischen einerseits und dem Deutschen andererseits. Das Französische befindet sich diesbezüglich in einer Zwischenposition.
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Sintomer, Y. Emile Durkheim zwischen Republikanismus und deliberativer Demokratie. Berlin J Soziol 19, 205–226 (2009). https://doi.org/10.1007/s11609-009-0063-6
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