Die Problematik der Gehirnerschütterung wird in der deutschsprachigen Literatur nur unzureichend betrachtet, während in Nordamerika ausgiebige Untersuchungen zur Primär- und Sekundärbehandlung seit mehreren Jahrzehnten erfolgen. Aktuell wird auch in Deutschland zunehmend in den Alltagsnachrichten auf die Problematik der Gehirnerschütterung eingegangen [20, 23, 25].

Definition

Die Gehirnerschütterung ist eine (neurologische) Funktionsstörung des Gehirns infolge einer direkten oder indirekten Gewalteinwirkung gegen den Kopf mit oder ohne Verletzung des Gehirns [35]. Sie führt typischerweise zu einer raschen, kurzen Beeinträchtigung neurologischer Funktionen, die sich spontan wieder bessern, kann jedoch auch zu neuropathologischen Veränderungen führen. Die akuten klinischen Symptome weisen eher auf eine funktionelle Störung als auf eine strukturelle Schädigung hin; entsprechend zeigt die Standardbildgebung meist keine strukturellen Pathologien [35].

Mechanismus

Eine Gehirnerschütterung kann durch eine direkte oder indirekte Gewalteinwirkung gegen den Kopf ausgelöst werden. Viele direkte Mechanismen sind offensichtlich (z. B. Kopfanprall gegen die Bande bei Eishockey). Die indirekten Mechanismen sind meist weniger offensichtlich.

Letztlich resultiert ein Akzelerations-Dezelerations-Mechanismus am Kopf. Zusätzlich können Rotationskräfte auftreten. Der Mechanismus kann subtil und nicht offensichtlich sein. Entsprechend muss das Gewaltausmaß nicht mit den klinischen Symptomen korrelieren [32].

Dunkelziffer

Die Häufigkeit einer Gehirnerschütterung wird regelhaft – v. a. durch Sportler (aber auch durch Ärzte) – zu häufig als eine zu leichte Verletzung eingeschätzt und damit in ihren Konsequenzen unterschätzt [9, 12, 34]. Sportler nahmen häufig zu früh, trotz adäquaten Wissens über die Verletzung, ihren Sport wieder auf, teilweise aufgrund eines „Drucks“ von außen durch Coaches, Trainer, Teamärzte [6, 22, 26].

Die Rate übersehener bzw. nicht berichteter Gehirnerschütterungen wird mit durchschnittlich 40 % (30,5–81,5 %) angegeben [10, 15, 29, 34, 37]. Gerade im nichtärztlich betreuten Sport (Breitensport) ist mit einer deutlich höheren Rate nicht erkannter Verletzungen zu rechnen [49].

Erkennen

Es wird zwischen Zeichen einer Gehirnerschütterung (Beurteilung durch Dritte) und subjektiven Symptomen (Beurteilung durch den Sportler selbst) unterschieden.

Zeichen sind u. a. Verwirrtheit, Bewusstseinsverlust, Verlangsamung, Gangunsicherheit, Schwanken, Pupillendifferenz und der sog. „leere Blick“.

Klassische Symptome wie Bewusstlosigkeit und Amnesie kommen bei Leistungssportlern nur in etwa 20 % [4] vor und im Breitensport unter 10 % [36].

Der subjektive Symptomenkomplex ist vielfältig. Er beinhaltet klinische und neurokognitive Symptome sowie Verhaltens- und Schlafveränderungen ([32, 35]; Tab. 1). Die häufigsten primären Symptome sind Kopfschmerzen (70–80 %), Schwindel (34–70 %), Übelkeit/Erbrechen (20–40 %), Schwäche und Müdigkeit (20–50 %), visuelle Störungen (ca. 20 %) und Empfindlichkeit gegenüber Licht und Lärm (10–60 %) [4, 27].

Tab. 1 Mögliche Symptome einer Gehirnerschütterung

Diese klinischen Symptome werden als Frühsymptome erfragt bzw. vom Sportler berichtet. In der Akutbeurteilung wird der Fokus noch nicht auf neurokognitive Symptome sowie Verhaltens- und Schlafveränderungen gelegt, da diese primär nicht unbedingt einfach zu erkennen sind.

Wissen

Auf zellulärer Ebene resultiert pathophysiologisch eine komplexe Kaskade neurochemischer und neurometabolischer Veränderungen [17, 28]. Führend ist zunächst eine zelluläre Energiekrise für 5 bis 10 Tage, die durch ein axonales und vaskuläres „stretching“ mit möglicher Zerreißung der neuronalen Membranen ausgelöst wird. Die erhöhte Membrandurchlässigkeit besteht für 6 h nach Trauma und kann zu weiteren Schäden und letztlich einem zerebralen Ödem führen.

Systemisch kann durch Entkoppelung von autonomem und Herz-Kreislauf-System eine Herzfrequenzvariabilität auftreten. Schwereabhängig resultieren zusätzlich eine – mindestens lokale – Abnahme des zerebralen Blutflusses (CBF) und eine Störung der zerebralen Autoregulation [28].

Vorgehen am Spielort (Sideline-Evaluation)

Sportler mit Verdacht auf eine Gehirnerschütterung sollen ärztlich beurteilt werden. Sie sind unbedingt aus dem Spiel zu nehmen, sollen überwacht und nicht am gleichen Tag wieder eingesetzt werden [35].

Die orientierende Einschätzung am Spielfeld kann auch durch Betreuer mittels des des Pocket Recognition Tools (Abb. 1) erfolgen. Dieses umfasst die Beurteilung objektiver Zeichen und die subjektive Symptomatik sowie die Orientierung zu Person und Ort. Der Zeitaufwand beträgt maximal 1 min [11].

Abb. 1
figure 1

Pocket-Recognition-Tool zur akuten Sideline-Evaluation (www.schuetzdeinenkopf.de). (Mit freundl. Genehmigung der ZNS – Hannelore Kohl Stiftung)

Eine sofortige ärztliche Evaluation eines Patienten ist notwendig bei Vorliegen der sog. Red-flag-Symptome:

  • jugendliches Alter,

  • Verwirrtheit > 30 min,

  • Bewusstseinsverlust > 5 min,

  • fokal neurologisches Defizit,

  • Pupillendifferenz und

  • Verschlechterung einer Symptomatik oder der Bewusstseinslage.

Der Sportler sollte nicht allein gelassen werden, eine regelmäßige Überwachung innerhalb der nächsten Stunden muss gewährleistet sein.

Im Zweifel gilt: „When in doubt, take them out!“

Ärztliches Vorgehen in Krankenhaus oder Praxis

Die klinische und neurologische Einschätzung wird häufig nicht ausreichend durchgeführt, da eine Beurteilung neurokognitiver Folgen noch regelhaft unterbleibt.

Ziele der primären ärztlichen Beurteilung von Patienten mit Gehirnerschütterung sind der Ausschluss signifikanter intrakranieller Pathologien, das Verhindern eines Second-Impact-Syndroms (s. unten) und von kumulativen Folgen sowie die Abschätzung der Prognose. Dazu erfolgt neben der klinisch-neurologischen Untersuchung eine Bildgebung mittels Computertomographie (CT) und ggf. mittels Magnetresonanztomographie (MRT).

Bei jedem Patienten mit Verdacht auf das Vorliegen einer Gehirnerschütterung soll eine Notaufnahmevorstellung oder ärztliche Vorstellung erfolgen, und zusätzlich zu der geforderten Sideline-Testung sollen eine detaillierte Schädel-Hirn-Trauma (SHT)-Anamnese, eine detaillierte neurologische Untersuchung mit Testung des mentalen Status, kognitiver Funktionen und Gleichgewichtstestung erfolgen sowie eine aktuelle Symptomanalyse [35].

Die frühe Beurteilung auch der kognitiven Funktionen wird als wesentlicher Bestandteil bei der initialen Beurteilung angesehen [35], z. B. mittels des SCAT-3 (Download auf: www.schuetzdeinenkopf.de), der modifiziert auch für Kinder zur Verfügung steht [35]. Das SCAT-3-Screening umfasst die Analyse von klinischen Symptomen, der Glasgow Coma Scale (GCS), die Durchführung kurzer Tests zur Beurteilung der Orientierung zur Zeit (Maddocks-Fragen), die Analyse von Konzentration, Erinnerungsvermögen und Koordination sowie eine standardisierte Testung des Gleichgewichts. Der Gleichgewichtstestung kommt ein hoher Stellenwert primär und auch in der Verlaufsbeurteilung zu [8].

Aufgrund der prognostischen Relevanz sollen im Rahmen der SHT-Anamnese insbesondere abgefragt werden: Anzahl vorbestehender Gehirnerschütterungen und Dauer der Symptomatik und, falls es sich um eine erneute Gehirnerschütterung handelt, ob ein geringeres Trauma zur erneuten Gehirnerschütterung führte. Zusätzlich sollte eine Bewusstlosigkeit oder eine Amnesie (retrograd und/oder antegrad) erfragt werden [35]. Daneben sind eine klinische Untersuchung mit neurologischem Befund sowie eine neuropsychologische Evaluation (z. B. Gleichgewichtstestung, kognitive Testung und Gangbildanalyse) gefordert.

Allgemeine laborchemische Untersuchungen (z. B. S100β) sind im Einzelfall sinnvoll, haben sich bisher aber noch nicht allgemein durchsetzen können [32, 46]. Für den S100β-Wert werden eine Sensitivität von 80–100 %, eine Spezifität von 40–80 %, ein positiv prädiktiver Wert von 13–40 % und ein negativer prädiktiver Wert von 95–100 % angegeben. Damit können Patienten „not at risk“ identifiziert werden [14, 32]. Neuere Analysen weisen diesen Blutparametern aber ein hohes Potenzial zum diagnostischen Adjunct zu [46].

Radiologische Diagnostik

Bei Vorliegen von Risikofaktoren ist eine radiologische Diagnostik zwingend [41]. Die radiologische Diagnostik dient dem Ausschluss oder der Bestätigung struktureller Gehirnerschütterungsfolgen. Die Röntgennativaufnahme des Schädels ist nicht hilfreich und deshalb zu unterlassen [41]. Mit den New Orleans Criteria und der Canadian CT Head Rule liegen validierte Kriterien zur Durchführung einer Schädel-CT-Untersuchung (CCT) nach einem leichten SHT vor [21, 47].

Das MRT weist eine erhöhte Sensitivität bei geringen strukturellen und axonalen Schäden auf, es werden bis zu 30 % Pathologien bei negativem CCT erkannt [2].

In einer Metaanalyse bei Patienten mit leichtem SHT und einer GCS von 15 wurden im CCT bei 7,8 % (6,1–9,5 %) strukturelle Veränderungen gefunden. Diese Patientengruppe umfasst allerdings ausschließlich Patienten, die initial bewusstlos waren oder eine Amnesie aufwiesen [1], sodass für die klassische Gehirnerschütterung im Sport eher ein geringeres Risiko besteht, da in 60–90 % der Fälle das führende Symptom der Kopfschmerz ist.

Neuropsychologische Testung

Verschiedene Untersuchungen konnten zeigen, dass nach Gehirnerschütterung mit relevanten neurokognitiven Störungen – auch über eine längere Zeit – zu rechnen ist.

Mittels computerbasierter neuropsychologischer Testungen können die Sensitivität und Spezifität der Erholungsbeurteilung im Vergleich zur alleinigen Symptombeurteilung verbessert werden [24, 43].

Es besteht Einigkeit, dass eine additive neuropsychologische Testung einen Vergleich mit einer Baseline-Untersuchung ermöglicht, einen wichtigen Anteil der Return-to-Play-Entscheidung darstellt, aber nicht als isoliertes Entscheidungsinstrument angewendet werden soll. Die Interpretation sollte möglichst durch erfahrene Neurologen oder Neuropsychologen erfolgen [35].

Therapie

Eine richtungsweisende Therapie ist nicht bekannt. Generell wird in der Primärphase nach erlittener Gehirnerschütterung geistige und körperliche Ruhe empfohlen.

Äußere Reize wie Musik, Fernsehen, Lernen und generell intellektuelle Anstrengungen für das Gehirn (Lernen, Konzentrieren, Analysieren, Lesen, Überlegen, Grübeln) sollen auf ein Minimum reduziert werden. Eine Aufnahme körperlicher und geistiger Belastungen sollte erst erfolgen, wenn die akute Symptomatik vollständig verschwunden ist.

Es ist bekannt, dass geistige und körperliche Ruhe die Heilung unterstützen, auch wenn die Ruhe erst sekundär umgesetzt wird [38]. Eine leichte körperliche Belastung und Physiotherapie können aber gerade bei Sportlern vorteilhaft sein, die sich nur langsam erholen [45].

Symptomerholung

Regelhaft kommt es innerhalb kurzer Zeit zur vollständigen Symptomerholung. In der Regel dauert in 85 % der Fälle die Symptomatik maximal 1 Woche, und in 97 % besteht vollständige Symptomfreiheit nach 1 Monat. Eine komplette Symptomerholung erfolgt typischerweise spätestens innerhalb von 3 bis 12 Monaten [32, 33]. Dabei kommt es häufiger zu einer schnelleren Erholung der klinischen Symptome, während neurokognitive Störungen etwas länger persistieren [30]. Trotzdem können nach 1 Jahr noch in > 15 % relevante Symptome, überwiegend Kopfschmerzen und Bewegungsstörungen, bestehen [42].

Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass gerade bei Kindern und Jugendlichen die Symptomdauer oft länger als angenommen ist. Bei Kindern finden sich sogar mittlere Symptomdauern von 4 bis 6 Wochen [5, 19, 40].

Risikofaktoren einer prolongierten Erholung

Primär vorhandene erhebliche Kopfschmerzen, Schwäche/Müdigkeit und das Vorliegen einer Amnesie sowie eine pathologische neurologische Untersuchung können die Erholungsphase verlängern. Weitere Faktoren sind das weibliche Geschlecht, das initiale Vorliegen einer retrograden bzw. antegraden Amnesie, vorbestehende hirnfunktionelle Störungen, Angstzustände, Depressionen, Lernstörungen und/oder Migräne. Daneben kann eine zu frühe postkontusionelle Belastung die Rekonvaleszenz und die neurokognitive Erholung verzögern.

Kinder und Jugendliche weisen statistisch gegenüber Adoleszenten und Erwachsenen eine verlängerte Rehabilitationsphase auf [32].

Wiederaufnahme des Sports (Return-to-Play)

Der Berücksichtigung der Pathophysiologie und des natürlichen Erholungsverlaufes kommt eine wichtige Bedeutung bei der Entscheidung des Return-to-Play zu [35]. Ein Sportler sollte in Ruhe und nach Belastung klinisch und kognitiv symptomfrei sein, bevor Wettkampffähigkeit besteht!

Voraussetzung für Return-to-Play sind die vollständige Erholung und Belastung im schulischen oder beruflichen Bereich. Return-to-Play noch am Tag des Traumas ist die absolute Ausnahme.

Entsprechend wird ein gestaffeltes Konzept zur Wiedererlangung der Arbeits- und Sportfähigkeit favorisiert (Abb. 2). Dabei sollte Wert darauf gelegt werden, zunächst die Arbeits- bzw. Schulfähigkeit zu erlangen und erst sekundär die Sportfähigkeit. Damit vergehen vom Tag des Unfalles regelhaft mindestens 6 bis 10 Tage bis zur vollständigen Matchfähigkeit, entsprechend der Mindestzeit für die Erholung der Nervenzellen.

Abb. 2
figure 2

Kombiniertes Konzept zur Wiedererlangung der Berufs-/Schul- und Sportfähigkeit (www.schuetzdeinenkopf.de). (Mit freundl. Genehmigung der ZNS – Hannelore Kohl Stiftung)

Langzeitprobleme

In der unmittelbaren posttraumatischen Phase nach Gehirnerschütterung ist das Gehirn besonders vulnerabel aufgrund der noch andauernden pathophysiologischen Veränderungen [39]. Es besteht prinzipiell ein deutlich erhöhtes Risiko, nach einer Gehirnerschütterung eine weitere Gehirnerschütterung zu erleiden.

Kommt es zu einer zweiten oder weiteren Gehirnerschütterung, steigt das Risiko für einen noch protrahierteren Verlauf bzw. für Komplikationen bis zur teilweise malignen, Hirnschwellung, dem sog. Second-Impact-Syndrom [31, 48]. Diese seltenen Fälle sind mit einer Letalität von bis zu 50 % und einer Morbidität bis zu 100 % assoziiert.

Bei einigen Patienten verbleiben über längere Zeit Symptome (Post-Concussion-Syndrom [PCS]). Diese Symptomatik wird als unspezifisch angesehen, da viele dieser Symptome bei anderen Verletzungen oder Erkrankungen auch bestehen können. Entsprechend zeigt sich eine hohe Prävalenz von PCS-Symptomen in der normalen Bevölkerung [18].

Da viele dieser Symptome von verschiedensten Fachdisziplinen behandelt werden, (v. a. Neuropsychologie, Neurologie, Physiotherapie, HNO), ist ein interdisziplinäres Management immer bei Symptompersistenz über 4 bis 6 Wochen zu fordern [3, 7].

Eine gerade bei Kindern in knapp 30 % vorliegende vestibulookuläre Dysfunktion (VOD) ist mit einer verdoppelten Heilungsdauer assoziiert [13].

Vergleichbare Probleme wurden in Deutschland in den berufsgenossenschaftlichen (BG) Spezialambulanzen beobachtet. Dies sind v. a. neuropsychologische, psychiatrische und psychotraumatologische Gehirnerschütterungsfolgen, die interdisziplinär im Rahmen des Brain-Check-Programms der BG-Kliniken erfasst und behandelt werden können [44].

Präventions-, Protektions- und Ausbildungsstrategien

In Nordamerika sind seit Jahren ausführlich ausgearbeitete Konzepte zur Prävention und Protektion sowie ausgiebige Lehrkonzepte für Schulen, Eltern, Trainer, Betreuer, Spieler und Sportler erarbeitet worden.

In Deutschland wird derzeit mit der Kampagne „Schütz Deinen Kopf“ (www.schuetzdeinenkopf.de) ein entsprechendes Ausbildungs- und Lehrkonzept zur Gehirnerschütterung im Breiten- und Leistungssport [16] mit geplanter Integration der Schulen und Sportvereine etabliert.