Zusammenfassung
In westlichen Gesellschaften geht die reflexive Moderne mit einer Modernisierung der Psyche einher. Mit dem Verlust an struktureller Rigidität hat das Seelenleben zugleich an Variabilität, Flüssigkeit und Zugänglichkeit gewonnen, sodass es flexibler, lebendiger und kommunikativer wird und sich viel stärker, als das früher der Fall war, mit der sozialen Lebenswelt verbindet. Andererseits scheint eine modernisierte Psyche, die nach innen ihre Abwehr- und Sicherungsfunktionen gelockert hat und sich nach außen weniger abgrenzt und isoliert, zugleich leichter zu verunsichern und störungsanfälliger zu sein: Die Abnahme psychischer Stabilität – im klassischen Sinne der Charakterbildung – korrespondiert womöglich mit einer erhöhten Störbarkeit. An dieser mentalen Ambivalenz machen sich nun kritische Zeitdiagnosen fest, die einen kulturellen Verfall beklagen und eine krank machende Gesellschaft unter Verdacht stellen. Entsteht in Zeiten der kapitalistischen Globalisierung ein neuer Sozialisationstyp, der den autoritären oder narzisstischen Charakter früherer Epochen ablöst? Leidet das zeitgenössische Selbst unter den neoliberalen Zumutungen an Eigenverantwortung, unter depressiver Erschöpfung angesichts einer Überfülle von Optionen oder unter dem rasenden Tempo der Beschleunigungsgesellschaft? Oder löst es sich in den sozialen und digitalen Netzwerken der Moderne gar vollkommen auf? Angesichts beunruhigender Gegenwartsphänomene sollte die Psychoanalyse ihre professionelle Gelassenheit wahren. Ich plädiere für einen möglichst nüchternen, genauen und unbefangenen Blick, für die Haltung einer freischwebenden Aufmerksamkeit, die die Projektionen der eigenen Zunft zu vermeiden sucht. In den zeitgenössischen Formen seelischer Entäußerung bildet sich in der Tat ein neuer Sozialcharakter heraus, der sich durch eine verzweifelte Suche nach sozialer Resonanz auszeichnet: Exzentrisch geworden zeigt die modernisierte Psyche der Welt, was in ihr steckt.
Abstract
The reflexive modernization of western societies corresponds with a modernization of mental structures. Having lost its structural rigidity the human mind is attaining more variability, fluidity and accessibility; it becomes more flexible, vivid, communicative and much more connected with social life. On the other hand a modernized psyche which is internally less armored and secure and externally less isolated and defined seems at the same time rather unsettled and can be disturbed more easily. A decrease of psychic stability, in the classical sense of character formation, may correspond with an increase of liability to disturbances. This mental ambivalence generates all kinds of critical diagnoses of our times complaining about a cultural decline and blaming a morbid society which comes under pathogenic suspicion. Is there a new type of “social character” in globalized capitalism after the authoritarian personality disappeared in sync with the authoritarian society and the narcissistic personality disappeared in sync with the culture of narcissism? Does the self suffer from a neoliberal pressure towards self-responsibility, from a depressive exhaustion by abundant options or from the power of economic, social and cultural acceleration? Or is the self even completely dissipating in the social and digital networks of modernity? Considering some worrying phenomena of the present age I make the case for psychoanalytic serenity. I recommend an unbiased, precise and sober view, an attitude of evenly suspended attention avoiding the projective distortions of our own profession. There is indeed a new social character evolving from the manifold forms of mental externalization and desperately seeking social resonance: becoming eccentric a modernized psyche reveals to the social world what it is made of.
Notes
Aus einem Interview, das Uwe Ebbinghaus mit Matthes anlässlich Kleists 200. Todestag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ vom 19.11.2011) geführt hat.
Beispielhaft ein elegant geschriebener Artikel im Feuilleton der FAZ vom 3. November 2012, der unter der Überschrift „Aus Leuten werden Kinder“ anhand klassisch-psychoanalytischer Reifekriterien eine „fortschreitende Infantilisierung“ der Gesellschaft zu erkennen meint. Hier gibt der kluge und belesene Redakteur Edo Reents seinem Unbehagen in der Kultur eine Form, indem er Zeitphänomene wie Mitteilungsdrang, Indiskretion, Zeigestolz, Preisgabe des Privaten beklagt, die ein „Werk der Werbe- und Unterhaltungsindustrie“ seien: Die Leute seien zu infantil, um den „Verführungen der Konsumindustrie zu Regression und Übertreibung zu widerstehen“. Statt die Menschen zu entmündigen, indem sie zu Opfern der Kulturindustrie gemacht werden, könnte man einfach sagen: Offenbar zeigen sich die Leute gern – und nicht jedem steht die FAZ als Bühne zur Verfügung.
Die Frage bleibt offen, ob solche Befunde „wirkliche“ Veränderungen in der Psychopathologie anzeigen, oder ob es sich dabei lediglich um „Artefakte“ erhöhter sozialer Sensibilitäten, geänderter kultureller Bewertungsmaßstäbe oder besserer Diagnoseverfahren für seelische Erkrankungen handelt (Reiche 1999; Dornes 2012). Ich lasse sie auch deshalb offen, weil Erkrankungen der Psyche mit gestörten Umweltbeziehungen einhergehen, die sich ohnehin einer essenzialistischen Psychopathogenese entziehen.
Zu den Volten der Weltgeschichte gehört, dass der Realsozialismus diese Bremsung tatsächlich zustande brachte, indem er die ökonomische Dynamik der Gesellschaft stillstellte, sie der politischen Kontrolle durch eine allmächtige Partei unterwarf und den Kommunismus aus einer Utopie in einen totalitären Albtraum verwandelte.
Seinen Gegenübertragungshass müsse der Analytiker, um ihn zu verwenden, „aufs Eis legen“ fordert Winnicott (1947) in „Hass in der Gegenübertragung“. Genau wie Heimann (1996) vom Analytiker erwartet, er müsse seine eigenen Gegenübertragungsgefühle anerkennen und aushalten, „um sie der analytischen Aufgabe unterzuordnen, in der er als Spiegelbild des Patienten agiert“.
Solche Fragen des sozialen und psychischen Strukturwandels habe ich mit Axel Honneth und Martin Dornes in einem interdisziplinären Arbeitskreis am Frankfurter Institut für Sozialforschung über zehn Jahre hinweg intensiv diskutiert. Wir sind uns weitgehend einig gewesen, aber nicht durchgehend.
„Da wir in das Innenleben des Säuglings nun mal nicht hineinkriechen können, scheint es vielleicht sinnlos, sich vorstellen zu wollen, was er erlebt. Und doch ist dies der Kern all dessen, was wir wissen wollen … Weil wir die subjektive Welt, in der der Säugling lebt, selbst nicht kennen, müssen wir uns diese Welt … ‚ausdenken‘, wir müssen sie ‚erfinden‘. Das vorliegende Buch ist eine solche ‚Erfindung‘. Sie dient als Arbeitshypothese, um zu erforschen, wie Säuglinge ihre eigenen Sozialbeziehungen subjektiv erleben“ (Stern 1985, S. 15 f.).
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Der Aufsatz ist eine Überarbeitung des Vortrags „Die modernisierte Psyche“ zur Eröffnung der 41. Psychotherapiewoche in Langeoog am 28. Mai 2012. Ich danke Martin Dornes für freundschaftliche Hinweise und kritische Einwände.
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Altmeyer, M. Die exzentrische Psyche. Forum Psychoanal 29, 1–26 (2013). https://doi.org/10.1007/s00451-013-0133-4
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