Bereits in einem 2006 erschienenen Schwerpunktheft der Zeitschrift Rechtsmedizin wurde vorwiegend zu Ergebnissen einer retrospektiven multizentrischen Studie über Behandlungsfehlervorwürfe mit letalem Verlauf Stellung bezogen. Im Kongressheft der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin e. V. (DGRM) in Saarbrücken wurden Behandlungsfehlergutachten vor dem Hintergrund der evidenzbasierten forensischen Medizin behandelt. Im Nachgang dazu spricht das vorliegende Schwerpunktheft „Medizinschadensfälle“ folgende aktuelle Aspekte an:

  • angebliche Häufigkeit von letalen Behandlungsfehlern,

  • Medizinschadensfälle durch Arzneimittel,

  • Behandlungsfehler aus anatomischer Unkenntnis,

  • sichere Anwendung von Medizinprodukten,

  • unbeabsichtigt im OP vergessener Fremdkörper,

  • Kausalitätsprobleme am Beispiel des „vorverlagerten“ Todes und

  • aktuelle Aspekte zur Aufklärung durch Studierende.

Die Rechtsmedizin als Mutterfach aller begutachtenden Disziplinen hatte sich seit jeher auch der Begutachtung von Behandlungsfehlervorwürfen zu stellen [27, 912]. Zwar hat die Rechtsmedizin ihre frühere Monopolstellung in der Begutachtung von Behandlungsfehlervorwürfen schon lange eingebüßt: Das Gros der Begutachtungen findet heute bei den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Landesärztekammern, dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung und einzelnen Krankenkassen statt (z. B. Allgemeine Ortskrankenkasse, AOK; [6]). In der Rechtsmedizin konzentrieren sich jedoch nach wie vor strafrechtliche Behandlungsfehlervorwürfe im Zusammenhang mit Todesfällen von Patienten, da hier zunächst Grundleiden und Todesursache objektiv durch die Obduktion abgeklärt werden müssen. Erst auf dieser Basis kann sinnvollerweise zur Frage eines Behandlungsfehlers und der Kausalität für den Todeseintritt Stellung genommen werden [4]. Auch bei eindeutig nachgewiesenem Fehler erweist sich häufig der Kausalitätsnachweis als schwierig [1, 13].

Nur auf rechtsmedizinischer Basis kann zur Kausalität für den Todeseintritt Stellung genommen werden

Bei den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen sind derzeit ca. 12.000 Fälle/Jahr anhängig. Das Datenmaterial der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen stellt ohne Zweifel das am besten evaluierte Medizinschadensregister dar. Nur bei 2–3 % der dort bearbeiteten Fälle handelt es sich um Todesfälle.

Im krassen Gegensatz zu diesen Daten beherrschten Anfang 2014 der Krankenhaus-Report 2014 zum Thema Patientensicherheit und die Mitteilung der AOK, dass jährlich 19.000 Todesfälle durch falsche Behandlung in deutschen Krankenhäusern zu verzeichnen seien, die Medien. Diese Daten, die relativ unreflektiert die Medien dominierten, spiegeln sich allerdings nicht in den jährlich von der Bundesärztekammer publizierten Erhebungen oder in rechtstatsächlichen Untersuchungen zu strafrechtlichen Behandlungsfehlervorwürfen wider. Die Zahl von angeblich 19.000 Todesfällen durch falsche Behandlung in deutschen Krankenhäusern geht auf eine Metaanalyse des Aktionsbündnisses Patientensicherheit zur Inzidenz von unerwünschten Ereignissen, Fehlern, vermeidbaren unerwünschten Ereignissen sowie fahrlässig verursachten unerwünschten Ereignissen zurück. In diesem systematischen Review wurden als Erhebungsmethoden Krankenakten-Reviews, klinische Daten sowie direkte Beobachtung verwendet und die aus der Metaanalyse abgeleiteten Inzidenzen auf die Zahl hospitalisierter Patienten hochgerechnet. Daraus wurde eine methodisch unzulässige Gleichsetzung mit Behandlungsfehlern gemacht. Gemessen an mehr als 18 Mio. Krankenhausaufnahmen/Jahr und mehreren 100 Mio. ambulanten Arzt-Patient-Kontakten sind gerichtliche bzw. außergerichtliche Behandlungsfehlervorwürfe außerordentlich selten.

Behandlungsfehlervorwürfe beschäftigen die Rechtsmedizin in der praktischen Fallarbeit jedoch seit Jahren auf steigendem Niveau. Ursachen hierfür sind Innovationen der medizinischen Diagnostik und Therapie wie etwa kathetergestützter Aortenklappenersatz bei multimorbiden Patienten, Komplikationen extrakorporaler Membranoxygenierung als Ultima-Ratio-Therapie bei Ausfall der Lungenfunktion oder Komplikationen im Zusammenhang mit der Behandlung mithilfe von Herzunterstützungssystemen (z. B. [3, 15, 16, 18]).

Bereits vor Jahrzehnten wurde mit dem Rückgang der morphologischen Ausbildung in der Medizin eine Zunahme von Behandlungsfehlern durch anatomische Unkenntnis prognostiziert. Zwar liegen zur Häufigkeit von Behandlungsfehlern durch morphologische Unkenntnis keine epidemiologischen Daten vor; der Problembereich wird jedoch durch einige Fälle illustriert.

In allen epidemiologischen Studien zu Medizinschadensfällen werden Arzneimittelschäden zu den häufigsten Zwischenfallstypen gerechnet. Dies schlägt sich allerdings weder im Gutachtenmaterial rechtsmedizinischer Institute [8, 11] noch im Datenmaterial der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen oder der AOK nieder [6]. Da die Arzneimitteltherapie die häufigste Form der Therapie ist, wird gutachterlichen Problemen im Zusammenhang mit der Arzneimitteltherapie in einem eigenen Beitrag nachgegangen.

Das Gleiche gilt für Todesfälle im Zusammenhang mit Krankenhausinfektionen, die in Medizinschadensregistern unterrepräsentiert sind. Der sichere Einsatz und die sichere Anwendung von Medizinprodukten sind in der klinischen Routine besonders wichtig. Bei Vorkommnissen im Zusammenhang mit Medizinprodukten sind Meldepflichten zu beachten, die in einem eigenen Beitrag dargestellt werden.

Klassische Behandlungsfehlersachverhalte werden schließlich am Beispiel der Chirurgie beschrieben, wie z. B. der unbeabsichtigt im Operationsgebiet vergessene Fremdkörper. Hier wurden inzwischen Standards zur Risikominimierung erarbeitet, die auch für die Begutachtung in entsprechend gelagerten Fällen von großer Bedeutung sind.

Schranken rechtsmedizinischer Gutachtertätigkeit im Strafprozess hatte Ulsenheimer [17] bereits vor Jahren am Beispiel des „Peritonitis-Urteils“ des Bundesgerichtshofs (BGH) deutlich gemacht. Hier ging es um Probleme des Kausalitätsnachweises beim vorverlagerten Tod. Ulsenheimer sprach in diesem Zusammenhang von der „Kausalitätsjudikatur“ des BGH, die zu einer Ausweitung der strafrechtlichen Arzthaftung geführt habe. Im Anschluss an das Peritonitis-Urteil hatten Püschel et al. dargestellt [14], dass sich trotz einer hohen Letalität des akuten Myokardinfarkts von 40 % bis zum 28. Tag diverse Konstellationen herausarbeiten lassen, bei denen die Überlebenszeit des Herzinfarkts relevant verlängert worden wäre, wenn unverzüglich die zutreffende Verdachtsdiagnose gestellt und die heutzutage erforderlichen Sofortmaßnahmen eingeleitet worden wären. Dem Problem des vorverlagerten Todes geht ein eigener Beitrag nach.

Aus aktuellem Anlass wurde schließlich noch ein Beitrag zur Aufklärung durch Studierende im praktischen Jahr aufgenommen (Urteil des Oberlandesgerichts, OLG, Karlsruhe vom 29.01.2014, Az. 7 U 163/12). Der Fall betraf eine Herzkatheteruntersuchung und damit einen relativ häufigen Eingriff.

Wir hoffen, mit diesem Schwerpunktheft der Zeitschrift Rechtsmedizin die Diskussion um Medizinschadensfälle anzuregen und auch den rechtsmedizinischen Beitrag zur Vermeidung von Medizinschadensfällen und damit Erhöhung der Patientensicherheit zu unterstreichen. Denn durch die Identifizierung und die Aufarbeitung von Fehlern sowie die Verwertung dieser Kenntnisse in Lehre und Forschung tragen wir zur Minimierung von Fehlerquellen bei.

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Prof. Dr. med. Burkhard Madea