Die signifikante Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten onkologischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter gehört zu den herausragenden Entwicklungen der modernen Medizin in den zurückliegenden 4 Dekaden. Die mittlere Fünfjahresüberlebenswahrscheinlichkeit für alle Krebserkrankungen im Kindesalter erreicht derzeit 81 %, beträgt 88 % für akute lymphoblastische Leukämien (ALL) bzw. übersteigt 95 % für Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren, die an einem M. Hodgkin erkranken [1]. Diese ausgezeichneten Überlebensraten sind auf den Einsatz aggressiver, multimodaler Therapiestrategien zurückzuführen (Kombinationschemotherapie, Chirurgie, Radiotherapie, Supportivtherapie). Diese Therapieansätze verursachen jedoch deutliche und langfristige Toxizität, deren volle Ausprägung häufig erst Jahre oder Jahrzehnte nach Abschluss der onkologischen Therapie sichtbar wird. Daten der Childhood Cancer Survivor Study (CCSS) zeigen, dass mehr als 73 % der Langzeitüberlebenden einer Krebserkrankung im Kindesalter im Verlauf von 30 Jahren von einer oder mehreren chronischen Gesundheitsstörungen betroffen sind [2]. Chronische Erkrankungen und Einschränkungen der Lebensqualität betreffen heute also eine mit zunehmendem Alter stetig wachsende Population von Langzeitüberlebenden.

Spätfolgen onkologischer Therapien betreffen eine stetig wachsende Patientengruppe

In den USA lebten 2003 ca. 270.000 Überlebende einer Krebserkrankung im Kindesalter, in der Altersgruppe der 20- bis 39-Jährigen entsprach dies einer Rate von einem Betroffenen auf 640 Personen [3]. Das Deutsche Kinderkrebsregister enthielt 2010 Datensätze von mehr als 37.000 Überlebenden einer Krebserkrankung im Kindes- und Jugendalter (Diagnosestellung 1980–2009), darunter Daten von mehr als 25.000 Langzeitüberlebenden (> 5 Jahre nach Diagnosestellung, [4]). Endokrinologische Störungen sind besonders häufig bei Langzeitüberlebenden einer pädiatrischen Krebserkrankung, da das endokrine System eine hohe Vulnerabilität gegenüber den Wirkungen verschiedener Zytostatika und insbesondere der Strahlentherapie aufweist. In der Basiserhebung der CCSS gaben mehr als 20 % der Langzeitüberlebenden an, von mindestens einer endokrinologischen Erkrankung betroffen zu sein. Zudem zeigen die kumulativen Inzidenzen von Hormonstörungen auch mit zunehmender Nachsorgedauer keine Plateubildung [5]. Klinische Fallserien berichten von Prävalenzen endokrinologischer Störungen bei jugendlichen und jungen erwachsenen Überlebenden von bis zu 40 % [6]. Es ist somit davon auszugehen, dass endokrinologische Spätfolgen die Gesundheit und Lebensqualität nicht nur während der besonders sensiblen Phasen Wachstum und Entwicklung schwer beeinträchtigen (z. B. Körperhöhe, Pubertätsentwicklung), sondern diese im Verlauf des gesamten Lebens entscheidend einschränken können.

Art, Ausprägung und Manifestationszeitpunkt der endokrinologischen Spätfolgen hängen in der Regel von der Art und Lokalisation der malignen Erkrankung, den eingesetzten Zytostatika und ihrer kumulativen Dosis, der Dosierung und Fraktionierung der Radiotherapie sowie vom Alter des Patienten zum Therapiezeitpunkt ab. Die endokrinologischen Störungen mit der höchsten Prävalenz sind Wachstumsstörungen und Störungen der Schilddrüsenfunktion. Darüber hinaus bestehen häufig Störungen des Eintritts und der Progression der Pubertätsentwicklung sowie Funktionsstörungen der hypothalamohypophysärengonadalen und der -adrenalen Achsen. Da sich viele dieser Behandlungsfolgen erst im Verlauf von Jahren manifestieren oder symptomatisch werden, ist eine langfristige endokrinologische Nachsorge bei allen onkologischen Patienten im Kindes- und Jugendalter indiziert.

Entwicklung einer interdisziplinären Leitlinie

Die zeitgerechte und rasche Diagnostik endokrinologischer Spätfolgen einer antineoplastischen Therapie im Kindes- und Jugendalter hat angesichts der Vielfalt und Komplexität der möglichen Störungen und ihrer langfristigen Konsequenzen für Gesundheit und Lebensqualität außerordentliche Bedeutung für die Betroffenen. Die möglichen Spätfolgen können jeden Bereich des endokrinen Systems betreffen und umfassen bei pädiatrischen Patienten v. a. Störungen der hypothalamohypophysären Funktion, Gonadendysfunktion, Störungen der Schilddrüsenfunktion, Adipositas und Osteoporose. Es besteht somit Bedarf für evidenzbasierte, praxisorientierte Empfehlungen für die kurz-, mittel- und langfristige onkologisch-endokrinologische Nachsorge.

Bedarf für evidenzbasierte und praxisorientierte Nachsorgeempfehlungen ist hoch

Die Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und Diabetologie (DGKED) e. V. und die Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) e. V. haben es sich daher zum Ziel gesetzt, gemeinsam eine evidenzbasierte, deutschsprachige Leitlinie für die langfristige endokrinologische Nachsorge von Patienten nach einer Krebserkrankung im Kindes- und Jugendalter zu entwickeln. Die Zusammenarbeit dieser beiden Fachgesellschaften ist vorbildlich und führte zur Erstellung einer interdisziplinären, evidenzbasierten S3-Leitlinie [7]. Die Interdisziplinarität wurde erweitert durch den Beitrag von Vertretern der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. sowie deren Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendgynäkologie e. V., der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie e. V., der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) e. V. sowie der Patienten- und Elternvertreter. Die Leitlinie gliedert sich in 7 thematisch abgegrenzte Einzelkapitel sowie eine Synopsis und enthält insgesamt 45 evidenzbasierte und mit Empfehlungsgraden bewertete Empfehlungen zu allen Bereichen der endokrinologischen Nachsorge.

Der gesamte Prozess der Leitlinienerstellung wurde durch eine großzügige Förderung der Deutschen Kinderkrebsstiftung (DKKS-Förderkennzeichen A2009/17) sowie durch Forschungsgelder der Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Ulm, ermöglicht. Unser besonderer Dank gebührt allen beteiligten Leitlinienautoren, Frau Dr. Anja Moss (Leitlinienberaterin der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, AWMF) und Frau Dr. Cornelia Ott-Renzer für ihre hervorragende Koordination des Leitlinienprojekts.

Dr. C. Denzer

Prof. Dr. M. Wabitsch