In den letzten Jahren wurde eine Reihe von Fragen aufgeworfen, die sich mit den Langzeitfolgen der Anwendung von Allgemeinanästhetika befassen. Hierzu gehören z. B. die Diskussion bezüglich eines postoperativen kognitiven Defizits bei älteren Patienten [1], aber auch eine mögliche Verschlechterung des postoperativen Outcomes bei zu tiefer Narkoseführung [2, 3].

Kaum eine Frage ist von Anästhesisten in den letzten Jahren so ausgiebig und emotional diskutiert worden, wie die nach den potenziellen Schädigungen des unreifen Gehirns durch Anästhetika. So betrafen 2011 nahezu die Hälfte aller in der Zeitschrift Anesthesiology zum Thema Kinderanästhesie publizierten Studien das Thema Neurotoxizität von Allgemeinanästhetika [4]. Dies liegt zum einen an den Betroffenen, die die kleinsten und am meisten zu schützenden Patienten sind, zum anderen aber auch an dem Umstand, dass Anästhetika, von denen lange Jahre gehofft wurde, dass sie neuroprotektive Wirkungen hätten, nun verdächtigt werden, zumindest für einen kleinen Teil der Patienten schädigend zu wirken. Eine erhebliche Beschleunigung erfuhr die Diskussion durch die Arbeit von Jevtovic-Todorovic et al. 2003 [5]. Die Autoren zeigten, dass eine 6-stündige Exposition von jungen Ratten mit einer Kombination von Isofluran, Midazolam und Lachgas apoptotische Veränderungen im Gehirn hervorruft. Diese histologischen Veränderungen korrelierten im Erwachsenenalter der Tiere mit einer Verschlechterung der Langzeitpotenzierung in hippokampalen Hirnschnitten, einem etablierten Modell zur Detektion von funktionellen Veränderungen des neuronalen Korrelats von Lernen und mit einer entsprechenden Verschlechterung in Verhaltenstests. Die Ergebnisse konnten seither in einer Vielzahl von Studien an verschiedenen Tierspezies bestätigt werden (Ratten, Mäuse, Rhesus-Affen, [6]). Die entscheidende Frage ist die nach der Übertragbarkeit der tierexperimentellen Daten auf den Menschen. Den 3 Autorinnen gelingt es in ihrem Leitthemenbeitrag ausgezeichnet, die Entwicklung der wissenschaftlichen Diskussion darzustellen und zu eben dieser Frage angemessen Stellung zu beziehen.

Die zu dem Thema bisher durchgeführten Untersuchungen an Menschen sind retrospektiv und in ihren Aussagen uneinheitlich [7]. Bei grundlegender Betrachtung der Fragestellung lässt sich diese in 4 Komponenten aufteilen: Zuerst müssen wir uns als verantwortungsvolle Anästhesisten natürlich fragen, ob Allgemeinanästhetika die Entwicklung von Neugeborenen beeinträchtigen. Als nächsten Punkt sollten wir auch hinterfragen, ob nicht der operative Eingriff mit der begleitenden Entzündungsreaktion eine Beeinträchtigung der neuronalen Entwicklung triggert. Die Studien hierzu zeigen widersprüchliche Ergebnisse. In einer aktuellen Arbeit von Liu et al. [8] stellten die Autoren dar, dass ein schmerzhafter Stimulus die durch Ketamin verursachte neuroapoptotische Antwort verringerte. Andererseits berichteten Rovnaghi et al. [9], dass Ketamin bei Ratten die durch entzündlichen Schmerz verursachten Verhaltensänderungen abschwächte. Diese Studie wurde durch die Ergebnisse einer Arbeit von Shu et al. [10] gestützt, die zeigte, dass nozizeptive Stimuli die durch Allgemeinanästhesie induzierte Neuroapoptose verschlimmerten. Die 3. Frage ist die nach der Rolle der Patienten. Sind Patienten, die sich im frühen Lebensalter einer Operation unterziehen müssen, besonders vulnerabel und reagieren sie somit auch empfindlich auf Allgemeinanästhetika? Die aussagekräftigste Antwort auf diese Frage wurde von Bartels et al. [11] gegeben, die 1143 eineiige Zwillingspärchen untersuchten. Zwillingspärchen, von denen sich ein Zwilling einer Operation vor dem vollendeten dritten Lebensjahr unterziehen musste, wurden im Alter von 12 Jahren standardisierten Tests unterzogen. Hierbei zeigte sich, dass exponierte Zwillingspärchen schlechter bei den Tests abschnitten als Zwillingspärchen, bei denen sich kein Geschwisterkind einer Narkose unterziehen musste. Interessanterweise fanden sich in den Ergebnissen dieser Tests zwischen den Geschwisterzwillingen, von denen ein Zwilling eine Narkose erhalten hatte und der andere nicht, keine Unterschiede. Die Autoren werteten die Ergebnisse dahingehend, dass nicht etwa toxische Effekte von Allgemeinanästhetika im frühen Kindesalter, sondern vielmehr genetische Voraussetzungen das spätere Auftreten von Lernschwierigkeiten bedingen. Die 4. wichtige Frage ist die nach dem Zusammentreffen der jeweiligen Einzelkomponenten, also: Gefährden die Notwendigkeit einer Operation und die damit verbundene Allgemeinanästhesie vulnerable Kinder besonders stark? Diese Frage kann im Augenblick noch nicht beantwortet werden.

Risiko oder Chance?

Was sollen wir also tun? Davidson [4] schlug in einem Editorial unter dem Titel „Neurotoxicity and the need for anesthesia in the newborn: does the emperor have no clothes?“ (Neurotoxizität und die Notwendigkeit für eine Allgemeinanästhesie bei Neugeborenen – hat der Kaiser keine Kleider?) vor, den Einsatz von Hypnotika bei diesen Patienten neu zu überdenken. Er möchte sich auf eine adäquate Analgesie und die Vermeidung von Stress bei den Patienten konzentrieren. Der Vorschlag erscheint zunächst als sehr pointiert und soll an dieser Stelle nicht bewertet werden. Er beinhaltet allerdings die Notwendigkeit des Überdenkens sowie der Restrukturierung operativer und perioperativer Prozesse. Wenn wir uns hierauf einlassen möchten, müssen wir uns der Frage stellen, ob die entsprechende Operation zu dem speziellen Zeitpunkt vonnöten ist oder ob sie zu einem späteren Zeitpunkt gefahrloser durchgeführt werden kann. Auch sollte die Notwendigkeit von mehrzeitigen Eingriffen statt eines Kombinationseingriffs hinterfragt werden. Weiterhin kann die Menge von Allgemeinanästhetika durch eine Kombination von Regional- und Allgemeinanästhesie reduziert werden. Als Anästhesisten sollten wir die Chance nutzen und selbstbewusst in die Diskussion mit den operativen Partnern einsteigen, denn die hierzu publizierten Studien wurden von Anästhesisten durchgeführt. Es ist daher unsere Chance, die Rolle des Anästhesisten als die des perioperativen Mediziners auszubauen.

In dem Leitthemenbeitrag: „Neurotoxizität von Allgemeinanästhetika beim Früh,- Neugeborenen und Kleinkind – Hinterlässt Narkose Spuren?“ ist es den Autorinnen Sinner, Becke und Engelhard ausgezeichnet gelungen, den bisherigen Wissensstand wiederzugeben und zu werten. Der Beitrag profitiert von der ausgewiesenen Expertise der Autorinnen als Neurowissenschaftlerinnen und Kinderanästhesistinnen. Er ergänzt somit in hervorragender Weise die Anfang 2013 erscheinende Stellungnahme des Wissenschaftlichen Arbeitskreises Neuroanästhesie zusammen mit dem Wissenschaftlichen Arbeitskreis für Kinderanästhesie.

C. Grasshoff