Einleitung: Leben in der Postdigitalität

Digitale Medien und insbesondere das mobile Smartphone bestimmen den Alltag der Zwölf- bis Neunzehnjährigen (mpfs 2020a, S. 13). Insbesondere für Jugendliche verlagert sich die Ich-Erprobung heute in einen Raum, der von Persistenz, Skalier- und Duplizierbarkeit geprägt ist (Hajok 2018, S. 9). Kommerzielle, algorithmisch organisierte Plattformen wie TikTok und Instagram sind im Leben der Kinder und Jugendlichen omnipräsent (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2019). Bereits 2019 wurde das beliebte interaktive Videoportal YouTube vom Rat für Kulturelle Bildung zum „Leitmedium“ und „digitalen Kulturort“ erklärt, es dient Jugendlichen darüber hinaus als „social Community“ (Rösch und Seitz 2013).

Wie es aussieht, befinden wir uns mittlerweile in postdigitalen Zeiten. Nur was heißt das eigentlich genau? Der in den Kulturwissenschaften geprägte Begriff der Digitalität (Stalder 2016) betont die Materialität des Digitalen und bezeichnet die Verzahnung digitaler Infrastruktur mit (alltäglichen) kulturellen Praktiken. Insbesondere die Bedeutung des Umgangs von Menschen mit digitalen Medien in alltäglichen Situationen wird unter dieser Perspektive fokussiert. Damit meint diese kulturorientierte Perspektive auch eine andere Sicht auf die Handhabung digitaler Medien, als es eine technikzentrierte bisher tat. Rode (2021, S. 54) leitet in diesem Zusammenhang aus einer pädagogischen Perspektive heraus die Aufgabe ab, „über die Technologie hinaus auf die kulturellen Prozesse und Praktiken der Digitalisierung zu blicken und dabei nicht in bekannte Dichotomien zu verfallen“. Das Digitale ist mittlerweile Teil jeglicher alltäglicher Abläufe – wir sind längst angekommen in der Postdigitalität. Damit meint das Präfix post nicht, dass wir der Welt und diese uns nicht länger digital vermittelt begegnen, ganz im Gegenteil ist hier die Zuspitzung dessen gemeint. Es ist ein Zustand erreicht, der als Nachdigitalität bezeichnet wird (Cramer 2014). Digitale Technologien ergänzen unseren Alltag nicht mehr nur, sie sind mit uns verbunden, geradezu „verschmolzen“ (Steinberg und Bonn 2021, S. 8). Das Präfix weist auch darauf hin, dass wir uns „in jedem Moment immer unmittelbar nach einer Digitalitätserfahrung befinden“ (Ackermann und Egger 2021, S. 5); damit einher gehen auch Überlegungen dazu, dass das Postdigitale auf die Unsicherheit weist, wo Grenzen zwischen virtuell und physisch verlaufen und damit ein „Chaos“ an Entgrenzungen explizit macht (Ackermann und Egger 2021, S. 6). Die Begriffsverwendung entstammt insbesondere den Künsten, in denen digitale Technologien der Computer Vision, Künstlichen Intelligenz etc. schon längst etabliert sind. Die Übertragung auf den Bildungsbereich und die kulturelle Bildung entstammt im Wesentlichen den Forschungsarbeiten aus der FörderlinieFootnote 1Forschung zur Digitalisierung in der kulturellen Bildung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) (Jörissen und Unterberg 2019; Steinberg et al., 2019; Ackermann und Egger 2021). Das Postdigitale bezieht sich paradoxerweise auf den Umstand, dass „unserer Gegenwart eine Vielzahl an Digitalisierungsprozessen vorausgegangen ist, die sich in unserer unmittelbaren Wahrnehmung von Umgebung(en) niederschlagen“ (Ackermann und Egger 2021, S. 5). Damit zusammen hängt auch das Gefühl, dass uns etwas fehlt, wenn digitale Endgeräte nicht verfügbar sind und „„Sein“ heißt heute, medial stattfinden: mit Geschichten, starken Bildern, Konflikten, illustrativen Schicksalen, Wertungen“ (Pörksen und Krischke 2012).

Auch für Sportpädagog*innen geben die jährlich publizierten Daten der Jugend-Medien-Studien (u. a. J(ugend)I(nformation)M(edien)-Studie, mpfs 2020a) Anlass zum Aufhorchen und Nachdenken: YouTube bleibt im neuen Jahrzehnt (wie auch in dem Vorjahr 2019) das beliebteste Internetangebot der Jugendlichen – dicht gefolgt von Instagram und WhatsApp. Doch auch Snapchat, Pinterest, Twitter, TikTok, Twitch, Facetime, Telegram, Zoom, Skype, Google-Hangouts, Threema und Houseparty bestimmen den (digitalen) Alltag vieler Jugendlicher (mpfs 2020a, S. 39).

Da stellt sich die Frage, wofür Jugendliche ihre Zeit aufwenden und welchen Raum und welche Form leibliche Erfahrungen in dem stark digital bestimmten Alltag haben.

Die großen Medienstudien zum Freizeitverhalten Jugendlicher lassen uns aufhorchen, da sie das Interesse Jugendlicher am Smartphone vor dem Interesse an Sport sehen (mpfs 2020b, S. 8). Möglicherweise wird durch das Smartphone zunehmend das Interesse an analogen Inhalten verdrängt. Umso wichtiger scheint die Auseinandersetzung mit postdigitalen ästhetisch-kulturellen Praktiken im digitalen Raum.

Forschungsstand zu hybriden Kreativpraxen und theoretische Bezüge zum mobilen Lernen

Digitale und hybride Kreativpraxen im Tanz

Um der Frage nachzugehen, wie wir unsere Zielgruppe in einem digitalen Setting weiterhin erreichen können, lohnt sich ein Blick in das virtuelle Leben unserer Adressat*innen: Wofür wenden Jugendliche ihre Zeit auf?

Interessanterweise lässt sich der während der Corona-Pandemie verzeichnete Anstieg der Mediennutzung vor allem für Online-Videos und digitale Spiele ausmachen, während die Nutzung von Radio und Fernsehen leicht zurückgegangen ist (mpfs 2020b, S. 15). Das lässt sich auch auf die Tatsache zurückführen, dass immer weniger Jugendliche Zugang zu Desktop-PCs oder Laptops haben – das Handy scheint in vielen Fällen das Gerät der Wahl zu sein, mit dem sich Jugendliche auch in Zeiten von pandemischen Ausnahmezuständen beschäftigen und vernetzen. Das Leben vieler Jugendlicher entwickelt sich immer mehr zu einem Leben, das sich online abspielt: Durch die pandemiebedingten Restriktionen und die damit einhergehenden Einschränkungen verschiedener Freizeit- und Bildungsaktivitäten im Jahr 2020 scheint das Internet eine immer bedeutsamere Rolle im Leben vieler Jugendlicher einzunehmen. Schaut man sich die Quantität der täglichen Nutzung des Internets an, dann sehen wir, dass Jugendliche 2019 im Durchschnitt 205 min online waren; 2020 war der*die durchschnittliche Jugendliche bereits 258 min online (mpfs 2020a, S. 33).

Den Jugend-Medien-Studien zufolge nutzen Jugendliche das Smartphone hauptsächlich zur eigenen Unterhaltung, zur Kommunikation und zum Spiele spielen, während die Informationsbeschaffung einen nachgeordneten – aber nicht zu unterschätzenden – Stellenwert einnimmt (mpfs 2020a, S. 34). Auf YouTube sind Musikvideos mit Abstand das beliebteste Genre bei Jugendlichen, gefolgt von lustigen Clips und Let’s Play-VideosFootnote 2, während Wissensformate und Sportvideos eine nachgeordnete Rolle spielen (mpfs 2020a, S. 47; Werg und Cerny 2020, S. 25). Insgesamt nutzen zwei Drittel der Befragten YouTube – und nicht mehr Google – zur Informationssuche (mpfs 2020a, S. 49). YouTube ist damit nach Google die zweitbeliebteste Suchmaschine zur Informationsbeschaffung; Wikipedia landet auf Platz drei (mpfs 2020a, S. 49). Auch das digitale Spielen spielt eine große Rolle im OnLife der Jugendlichen: „68 % der Jugendlichen spielen regelmäßig digital“ (mpfs 2020a, S. 53) – über ihren Computer, Konsolen, das Tablet oder das Smartphone. Smartphonespiele scheinen dabei unter den Jugendlichen insgesamt am beliebtesten zu sein: Knapp die Hälfte der Befragten spielt mehrmals die Woche am Handy (mpfs 2020a, S. 54). Diese Erkenntnis verweist auf den möglichen Impact von gamefizierten Lernapps.

Tanz hat in den vergangenen Jahren im virtuellen Raum zunehmend an Bedeutung gewonnen. Insbesondere die Ästhetik von Handyclips und die damit verbundenen Kreativpraxen führen uns eindrucksvoll vor Augen, dass wir Zeug*innen neuer Entwicklungen sind, die das Bild von Tanz, das Verständnis von Lernen sowie den Aufbau von Expertise revolutionieren könnten. Aktuell wissen wir relativ wenig über die Praktiken, die vor dem Upload eines Social-Media-Beitrages zum Alltag vieler Jugendlicher gehören. Ein paar wenige, aktuelle Studien aus dem Forschungsschwerpunkt Digitalisierung in der kulturellen Bildung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), die u. a. hybride Praktiken aus dem Bereich der Musik zum Forschungsgegenstand haben, bedienen sich meist ethnografischer Methoden (vgl. Jörissen et al. 2019).

Exemplarisch für eine hybride Kreativpraxis, an der maßgeblich „menschliche und nicht-menschliche Akteure“ (Nohl 2014, S. 29) beteiligt sind, soll an dieser Stelle auf das BMBF-Projekt Postdigitale Kulturelle Jugendwelten (DiKuJu) der Erlanger Arbeitsgruppe von Benjamin Jörissen et al. (2020, S. 70–71) Bezug genommen werden. Die ethnografischen Studien beschäftigen sich mit der Komplexität einer digitalen und körperlich-räumlichen Lagerung der Jugendkultur. Aus Sicht einer körperlich-ästhetischen, aber auch kreativ-gestalterischen Praxis fällt auf, dass sich Handlungsmodi in diesem digitalen Setting stark verändern: Produktion und Rezeption stellen sich stark verwoben dar; die analoge Körperlichkeit scheint nicht mehr als Gegensatz zum Digitalen erlebt zu werden. Die Studien zum Nutzungsverhalten von Apps wie TikTok zeigen, dass der temporär-projekthafte und flexible Charakter zum zentralen Motivationsmoment für kreative Tätigkeiten wird. „Inszenierung, Performativität und Ludizität – ein Leben „OnStage““ (Jörissen et al. 2020, S. 73) wird zur Grunddisposition und zum zentralen Motivationsmoment für kreative Tätigkeiten. Die Arbeitsgruppe bezeichnet die postdigitalen Handlungsmodi nicht nur als „digital unterstützt“, sondern als „kollaborativ“, „kollektiv“ und „ludisch“ (Jörissen et al. 2020, S. 73).

Dass sich ein Verständnis von Tanz immer weniger über ein Anschauen von Tanz in physischer Kopräsenz (z. B. Performance auf Bühne mit Publikum/Aufführung im Theater) entwickelt, zeigen uns eigene Interviewstudien im Kontext des Forschungsprojektes KuBiTanz (Kulturelle Bildungsforschung im Tanz) (Rudi et al. o.J.). Die mediale Rezeption von Tanz im informellen Kontext prägt nicht nur das Tanzverständnis, sondern auch Vorstellungen von Tanzstilistiken und Körperbildern (Rudi 2021, S. 129). So geht die Rezeption des auf TikTokFootnote 3 sehr verbreiteten, eher weiblich konnotierten Körperbildes damit einher, dass Kinder und Jugendliche Schönheitsideale oder Leistungsparadigmen, die die digitalen Vorbilder eindrucksvoll verkörpern, unreflektiert übernehmen (Rudi et al. 2019). Der Rat für Kulturelle Bildung deutete es bereits 2019 an (s. oben) und auch aus eigenen Studien wissen wir, dass YouTube, TikTok und Instagram nicht nur zum Austausch mit anderen, sondern auch zur Ideengenerierung, Inspiration sowie zu Lernzwecken genutzt werden (Rudi et al. 2019). Sicher scheint: Es werden neue Lernformate hervorgebracht und es entwickelt sich ein implizites Wissen von Software, Apps und Gadgets, wobei die bisher bekannten analogen künstlerisch-ästhetischen Praktiken erheblich zugunsten fluider Formen, Remixes, Plattformen und Trends (zum Beispiel Influencertum) weichen (vgl. Keuchel et al. 2019). Eigene ethnografische Studien zur Beobachtung von Jugendlichen, die unterstützt mit digitalen Tools tanzen, zeigen uns, dass entsprechende Tools nicht immer als hilfreich und ausschließlich positiv erlebt werden. So gibt es durchaus auch die Auffassung, dass „Technik stört“ (vgl. Steinberg et al. 2020).

Um Forschungslücken über postdigitale ästhetische Praktiken zu schließen, scheint es unumgänglich, postdigitale Tanzkontexte mit ihren Innovationen und veränderten Lehr-Lernpraktiken theoretisch zu reflektieren und die empirische Forschung so konzeptionell zu stützen. Das medienpädagogische Modell von Pachler et al. (2010) liefert hier eine sozial- und kulturtheoretische GrundlageFootnote 4 zur Beschreibung und Analyse von mobilen, digitalen und hybriden ästhetisch-kulturellen Praktiken. TikTok, Instagram und andere Apps situieren sich in der Freizeit und im Alltag von Jugendlichen. Sie sind konnotiert mit Spaß, Unterhaltung und Konsum. Vor diesem Hintergrund erfolgt eine sozial- und kulturwissenschaftlich orientierte, medienpädagogische Rahmung im vorliegenden Beitrag auch in Anbindung an außerschulisches Lernen im Kinder- und Jugendsport (vgl. Steinberg et al. 2020).

Mobiles Lernen in der Postdigitalität

Die Arbeitsgruppe um Pachler et al. (2010), die London Mobile Learning Group (LMLG), sieht es als unabdingbar an, die seit der Einführung des Smartphones in den Nullerjahren aufkommende mobile Massenkommunikation als pädagogische Herausforderung zu betrachten und in einem breiten Bezugsrahmen theoretisch zu verorten.

Grundsätzlich werden der Gebrauch und der Umgang mit digitalen mobilen Medien als kulturelle Ressource verstanden. Die Kategorie der Kulturressource greift auf Pierre Bourdieus Logik des „kulturellen Kapitals“ zurück und bezieht sich hier eben auf Tablets oder Handys/Smartphones sowie den damit verbundenen Ausstattungsformen wie BYOD (Bring your own device) (Bachmair 2018, S. 688). Individualisierte, digitale Mobilität ist in diesem Sinne als Kulturressource zu verstehen, Handys oder Tablets sind dabei die technischen Objekte. Die Argumentationslinie der LMLG beschreibt dabei eine wechselseitige Beziehung zwischen den Theorien der britischen Mobile-Learning-Diskussion und kulturtheoretisch orientierten deutschen Ansätzen der Medienpädagogik (Seipold 2011, S. 17). Zentral für die sogenannte soziokulturelle Ökologie des mobilen Lernens ist, dass sie ein Verständnis von Mobilität ausdrückt, das sich weniger auf die Mobilität zwischen Orten, Zeiten und (physischen) Kontexten bezieht. Fokussiert wird sich hingegen auf die Mobilität des Lernhabitus innerhalb soziokultureller und technischer Strukturen (structures), auf der Basis von Kompetenzen (agency) und kulturellen Praktiken der Mediennutzer*innen (cultural practices) (Bachmair 2018, S. 679; Pachler et al. 2010, S. 25; siehe Abb. 1). Die Autor*innen bezeichnen das Gefüge der drei Komponenten als Mobile Complex und als zentralen Bezugsrahmen für Analysen in diesem Bereich (Bachmair 2018, S. 679).

Abb. 1
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Sozio-kulturelles Rahmenmodell als Grundlage für die Analyse von mobilem Lernen. (Adaptiert und übersetzt nach Pachler et al. 2010; Parsons und Adhikari 2016; Steinberg et al. 2020)

Um Lernen in der Postdigitalität – sei es nun als formell oder informell charakterisiert – vor dem Hintergrund des Modells der sozio-kulturellen Ökologie verfügbar zu machen, wird sich in der vorliegenden Studie auf Pachler bezogen (2010, S. 162), der Lernen als Aneignung (learning as appropriation) und Prozess der Bedeutungszuweisung innerhalb sozialer Strukturen (structures), kultureller Praktiken (cultural practices) und Handlungskompetenzen (agency) konzeptualisiert. Appropriation (Aneignung) wird von den Autor*innen des Modells als eine bedeutsame Aktivität verstanden, die ein reflexives Verhältnis des Einzelnen zur Welt hervorbringt. Diese Auffassung von Lernen wird in erster Linie auf digital unterstützte Aneignungsformen bezogen (Pachler et al. 2010, S. 217). Daher soll eine Verbindung digitaler mit körperlich-sinnlichen Dimensionen von Aneignung (vgl. Rode und Stern 2019) explizit und systematisch in die Analyse mit einbezogen werden.

Anwendungspraktiken digitaler (mobiler) Technologien von Jugendlichen im Zusammenspiel mit Tanz und Tanzen sind zurzeit noch unzureichend beschrieben. Die Frage, mit welchen Themen sich Jugendliche im Zusammenhang mit den beschriebenen postdigitalen Tanzpraktiken beschäftigen, ist noch weitgehend unerforscht. Hier soll der vorliegende Beitrag Abhilfe schaffen und fragt nach folgenden Aspekten:

  • Welche Perspektiven haben Jugendliche auf die Nutzung smartphonebasierter Apps im Kontext von Bewegungsangeboten im Tanz?

In unserer Analyse fokussieren wir von den Jugendlichen beschriebene Praktiken in Bezug auf die spezifischen Elemente des theoretischen Rahmens (kulturelle Praktiken, Handlungskompetenzen/Agency und technologische Strukturen). Daher konzentriert sich unsere Analyse auf die folgenden Forschungsfragen, die auf dem oben erwähnten Rahmen basieren:

  • Wie haben sich die ästhetisch-kulturellen Praktiken der Interaktion bezogen auf Social-Media-Netzwerke entwickelt?

  • Welche persönliche Relevanz hat der Umgang mit den Apps bezogen auf Tanz?

  • Wie nutzen die Jugendlichen die technischen Möglichkeiten der Apps im Zusammenhang mit Tanz?

Studiendesign: Mit Fokus auf einer (Re‑)Analyse der digitalen Tanz-Projekte #digitanz und Tanz dein Leben

Wie im Forschungsstand aufgeführt, gibt es bisher nur wenige Studien, die sich explizit mit der Nutzung und Bedeutung bekannter kommerzieller Apps und Videoplattformen wie TikTok, Instagram und YouTube auseinandergesetzt haben. Aus sportpädagogischer Sicht ist dies aber äußerst relevant, um daraus Nutzungsmotive, Besonderheiten und auch Schwierigkeiten bezüglich der Begegnung Jugendlicher mit Tanz und Bewegung im digitalen Raum ableiten zu können. Daher soll im Folgenden auf Daten zurückgegriffen werden, die im Kontext eines Schultanzprojektes im Sportunterricht erhoben wurden und um neue Daten ergänzt werden, die aus dem Kontext eines außerschulischen, non-formalen Tanzangebotes für die gleiche Altersgruppe stammen. Nachfolgend werden beide Kontexte zunächst beschrieben.

Studiendesign: Digitalität und Tanz – #digitanz

Das Forschungsprojekt #digitanz – Digitalität und Tanz in der kulturellen Bildung (Laufzeit 2017–2020, Abb. 2) fragt, inwieweit digitale Technologien kreative Prozesse im Tanz anregen und bereichern können (vgl. Steinberg et al. 2019). Darüber hinaus werden neue Herausforderungen hinsichtlich der Aspekte Unterrichtsmethoden, Tanzverständnisse und -ästhetiken sowie Umgangsweisen mit dem eigenen (und fremden) Körper, Bewegungen und digitale Medien untersucht. Gefördert wurde dieses – als Verbundvorhaben konzipierte – Forschungsprojekt von 2017 bis 2020 im Rahmen der Förderlinie Forschung zur Digitalisierung in der Kulturellen Bildung des BMBF. Zielgruppe von #digitanz sind Schüler*innen, die sich – von einem*r Tanzpädagog*in angeleitet – im Sportunterricht mit Tanz und seinem ästhetisch-kulturellen Stellenwert auseinandersetzen. Im Rahmen eines Grundkurs Sport wurden digitale Lerninhalte in Verbindung mit Tanz über einen Zeitraum von 14 Unterrichtseinheiten (jeweils 90-minütig) in den Fokus gerückt. Für die Nutzung digitaler Technologien wurde nach dem Prinzip des Bring your own device – BYOD gearbeitet, sodass jede SchülerinFootnote 5 (n = 19) ihr eigenes Smartphone im Unterricht nutzen konnte. Eine eigens für das Projekt entwickelte App wurde über einen Webbrowser auf jedem internetfähigen Gerät genutzt (veröffentliche Web-Version: lite.digitanz.de, vgl. Abb. 3).

Abb. 2
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Videoaufnahme mit dem Smartphone beim Forschungsprojekt „#digitanz – Digitalität und Tanz in der kulturellen Bildung“. (Foto: Projekt #digitanz)

Abb. 3
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Die WebApp lite.digitanz.de

Die App diente vor allem dazu, kreative Bewegungsaufgaben digital zu unterstützen. Dazu konnte von den Teilnehmenden und den Tanzvermittelnden Datenmaterial in Form von Videos, Bildern und Texten gespeichert und mobil verfügbar eingesetzt werden (vgl. Steinberg et al. 2020). Neben der eigens entwickelten App nutzen die Schülerinnen auch weitere kommerzielle Apps; die Interviewdaten hierzu bilden die Grundlage der vorliegenden Analyse (s. unten).

Das Tanzprojekt Tanz dein Leben

Das Kölner Tanzprojekt Tanz dein Leben richtet sich an Jugendliche und junge Erwachsene, die Interesse und Freude an Tanz und Bewegung haben. Im Vordergrund des Projektes steht das Ermöglichen von Teilhabe; zu den weiteren allgemeinen Zielen gehören die Persönlichkeitsförderung und die Erfahrbarkeit von Selbstwirksamkeit. Gemeinsames Tanzerleben und in Gemeinschaft etwas Schönes zu kreieren, soll das Selbstvertrauen der Teilnehmer*innen stärken.

Die Gruppe besteht aus einem Kern von zehn Jugendlichen im Alter von 15 bis 21 Jahren, die sich durch das vorherige Projekt „Klang der Kulturen“Footnote 6 unter der Leitung des Künstler*innenkollektivs Crossarts Cologne zusammenfanden. Das Projekt Tanz dein Leben wurde auf Initiative von Derya Kaptan in Kooperation mit der Jugendeinrichtung Offene Tür (OT) Vita KölnFootnote 7 gegründet und wird vom Sozialdienst Katholischer Männer e. V.Footnote 8 Köln unterstützt. Vor der Pandemie fanden Tanztrainings unter der Leitung von Derya Kaptan zwei Mal wöchentlich in der Jugendeinrichtung OT Vita Köln statt. Während des ersten pandemiebedingten Lockdowns wurde für die Teilnehmer*innen ein virtuelles Ersatzangebot geschaffen. Da viele Teilnehmer*innen keinen Zugriff auf andere digitale Endgeräte (Laptops, Stand-PCs oder Tablet-PCs) hatten, wurde das virtuelle Tanzangebot auf ihren Wunsch speziell für Smartphones konzipiert. Den Teilnehmer*innen waren Videokonferenztools im Querformat wie Zoom oder Webex Anfang 2020 noch fremd. Instagram war ihnen hingegen vertraut. Mit dem öffentlichen Livestream und dem privaten Chatraum bietet Instagram zwei verschiedene Möglichkeiten für synchrone Tanzangebote onlineFootnote 9. Derya Kaptan konzipierte daher ein smartphonebasiertes Angebot, in dem sie verschiedene Instagram-Funktionen kombinierte (vgl. Abb. 4).

Abb. 4
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Instagram-Kanal des Tanzprojektes „Tanz dein Leben“ unter ironmonkeys_official

Einmal wöchentlich für die Dauer von sechs Wochen bot sie während des Lockdowns im Frühjahr und Sommer 2020 einen öffentlichen Livestream in Kombination mit einem privaten Chatraum an. Der öffentliche LivestreamFootnote 10 war für alle Instagram-User*innen zugänglich. Neben den fünf bis zehn aktiven Tänzer*innen des Projektes Tanz dein Leben nahmen durchschnittlich etwa 17 weitere Personen am öffentlichen Livestream teil. Während des Lockdowns und bis heute ist der öffentliche Livestream zum Projekt Tanz dein Leben von circa 150 User*innen abonniert. Abonnent*innen rekrutieren sich größtenteils aus dem Freundeskreis der Teilnehmer*innen und/oder aus Besucher*innen des OT Vita Köln. Angemeldete Teilnehmer*innen des Projektes Tanz dein Leben begegneten sich im Chatraum intern. Hier besprachen sie zum Beispiel die Auswahl von Musiktiteln. Der Chatraum ermöglichte individuelle Feedbackgespräche und einen allgemeinen, persönlichen Austausch, nicht zuletzt über Sorgen und Probleme im Zusammenhang mit dem Lockdown.

Zusammenführung beider Projekte in einer gemeinsamen Datenanalyse

Trotzt differierender Schwerpunkte beider Projekte besteht in der Datenerhebung eine ähnliche empirisch-methodische Ausrichtung. Um unterschiedliche Nutzungsmotive von Apps im Kontext Tanz und das damit verbundenen Erleben zu untersuchen, wurde beispielsweise im Projekt #digitanz ein Methodenmix aus Beobachtungsverfahren (d. h. teilnehmenden und nicht-teilnehmenden Beobachtungen) und ergänzenden Interviewformaten angewendet. Zentrale Auswertungen der Beobachtungs- und Befragungsdaten bezogen sich allein auf die neu entwickelte App und wurden bereits publiziert (vgl. Steinberg et al. 2019, 2020). Da auch die aus Sicht der Subjekte vollzogenen Praktiken in den Blick genommen werden sollten, die beim Lernen und Gestalten von tänzerischen Bewegungen vor dem Hintergrund der Nutzung von Apps wie TikTok, Instagram und Co. sichtbar werden, bilden bisher nicht ausgewertete problemzentrierte Interviews aus #digitanz sowie dem Projekt Tanz dein Leben die Datengrundlage. Daher fließen in die für diesen Beitrag relevante Datenanalyse sowohl Schülerinneninterviews (n = 6, Alter 18–19 Jahre) des Projekts #digitanz sowie Teilnehmendeninterviews (n = 4, Alter 16–21 Jahre) des Projektes Tanz dein Leben ein. Inhaltlich wurden im Interviewverlauf Erzählanreize anhand der Erlebnisse und der Nutzung der Apps hervorgelockt und im weiteren Verlauf spitzten sich die problemzentrierten Interviews auf Aussagen bezüglich der Rezeption tänzerischer Inhalte über die Apps TikTok, YouTube und Instagram hin zu (Witzel 2000, S. 2). Das offenzulegende Vorwissen diente den Interviewenden dabei als heuristisch-analytischer Rahmen für Frageideen im Dialog zwischen Interviewten und Befragten (Witzel 2000, S. 2). Das Anregen von Narrationen diente im Interviewverlauf auch dazu, die Perspektiven der Teilnehmenden zu vertiefen.

Die Daten wurden inhaltsanalytisch mittels einer Kombination aus induktiver und deduktiver Kategorienbildung in einem iterativen Verfahren analysiert und computergestützt mittels MAXQDA (2020) codiert. Der Auswertungsprozess ist nicht linear zu denkenFootnote 11, da im Laufe der Auswertung schrittweise neue Erkenntnisse gewonnen wurden und diese zu bestehenden theoretischen Erkenntnissen in Bezug gesetzt wurden. Die Auswertung erfolgte daher zunächst induktiv mittels offener Codierung im Wechselspiel mit bereits bestehenden theoretischen Vorannahmen der Befragungsdaten (vgl. Kuckartz 2018; Mayring 2010). Zunächst wurden – orientiert an aufkommenden Themen – größtenteils In-Vivo-Codes genutzt und hinsichtlich sich wiederholender Themen betrachtet. Anschließend wurden die Codes zu vordefinierten, breiteren Konstrukten zusammengefasst. Eine Inhaltsanalyse von sich wiederholenden Themen aller Interviewdaten ergab eine zusammenhängende und inhaltsübergreifende Codestruktur, die sich an den Hauptkategorien des theoretischen Rahmens orientiert (vgl. Tab. 1). Aufgefallen ist, dass sich diese Kategorien hauptsächlich auf soziale und technologische Strukturen, Praktiken der Interaktion sowie eine Aktivierung oder Einschränkung der Nutzung von TikTok, YouTube und Instagram beziehen.

Tab. 1 Übersicht zu den inhaltsanalytischen Kategorien

Ergebnisse: Perspektiven der Jugendlichen auf veränderte Wahrnehmungsmodalitäten und medial-exponierte Körperlichkeiten

Aufgrund des gemischt theorie-empiriegeleiteten Vorgehens orientiert sich die Ergebnisdarstellung im Folgenden an dem theoretischen Rahmen der drei Hauptkonstrukte kulturelle Praktiken (Kapitel 4.1), Handlungskompetenzen (Kapitel 4.2) und soziokulturelle und technologische Strukturen (Kapitel 4.3). Im Auswertungsprozess (s. oben) wurden die sich im Datenmaterial wiederholenden Themen zu Kategorien zusammengefasst. Das Ergebnis ist ein Kategoriensystem mit elf Kategorien, welche im Vergleich zu vorherigen Analysen (vgl. Steinberg et al. 2020) hinsichtlich der App-Nutzungen weiterführend präzisiert werden konnten (vgl. Tab. 1). Aufgrund des gemischt theorie-empiriegeleiteten Vorgehens konnte die präzise Kategorienbezeichnung erst nach dem inhaltsanalystischen Kategorisierungsprozess erfolgen. Insgesamt weisen die Interviewdaten eine vielfältige und facettenreiche Kategorienstruktur hinsichtlich der expliziten Nutzung bestimmter Social-Media-Apps im Kontext Tanzen, Lernen und Gestalten auf. Die sich ergebenen Kategorien und In-Vivo-Codes werden im Folgenden den theoretischen Hauptkonstrukten untergeordnet und datenübergreifend (über beide Projekte) dargestellt, wobei nur diejenigen Kategorien der #digitanz-Daten näher vorgestellt werden, die einen Bezug zum Tanzen im Freizeitkontext erkennen lassen (vgl. Tab. 1). Die jeweiligen Kapitel werden durch Unterüberschriften, die den Kategorien entsprechen, noch einmal untergliedert.

Kulturelle Praktiken

Die kulturellen Praktiken umfassen in Theorien zum mobilen Lernen erst einmal sehr allgemein betrachtet jegliche eingespielte, alltägliche Handlungsmuster und Gepflogenheiten. Dinge und Technologien sind aber integraler Bestandteil solcher sozialen oder von Pachler et al. (2010) als kulturell bezeichneten Praktiken: Technologien beeinflussen Praktiken, prägen sie mit und werden zu „Mitspielern“ (Hörning 2015, S. 169). Wir fokussieren in der Analyse insbesondere die körperlich-sinnlichen und durch digitale Technologien unterstützten ästhetisch-kulturellen Praktiken.

Videonutzung zum Lernen von Tanzbewegungen

Im Hinblick auf die Analyse der Praktiken wird aus den Aussagen deutlich, dass die Interviewten vermehrt berichten, dass sie insbesondere Videos zum Lernen von Tanzbewegungen nutzen (Abb. 5). Gründe hierfür sind der zeitlich unbegrenzte und ortsunabhängige Zugriff sowie die Wiederholbarkeit von Bewegungen beim Lernen insbesondere durch YouTube-Videos. „Also (…) die Choreografie habe ich in YouTube gelernt (…)“ (#00:07:52-6#_ID1_45). Um Bewegungen per Video zu erlernen, ist den Teilnehmenden durchaus bewusst, dass eine didaktische Reduktion, Zergliederung in Einzelabschnitte und Geschwindigkeitsreduktion in Form eines verlangsamten Abspielens hilfreicher ist:

Also, wenn ich einen Tanz anfange zu lernen, und das ist nicht mein eigene Choreo, sondern aus Internet genommen oder so, ich versuche erst einmal die Schritte zu lernen. Also jeder Schritt zu lernen. Einzeln, einzeln, einzeln. Und dann auch wenn ich das schaffe, dann versuche ich, das schnell zu machen, alles zusammen. Und dann werde ich dann das Video gucken, aber im schnellsten Modus und versuche, und wenn ich den Versuch, direkt um zum Tanzen. Wenn ich verkack, dann nochmal immer wiederholen. (#00:14:31-1#_ID1_Z92–03)

Abb. 5
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Videos werden zum Lernen von Tanzbewegungen genutzt. (Foto: Projekt #digitanz)

Hier wird die Bedeutsamkeit der Formate von Lernvideos auf YouTube deutlich. Forschungsprojekte wie das Dab‑J (Digitale außerschulische Lern- und bildungsbezogene Handlungspraxen von Jugendlichen, 2018–2021) befassen sich mit dem idealen Aufbau von Lernvideos aus unterschiedlichen Kontexten auf YouTube; sie bestätigen, dass sich mittlerweile mit unterschiedlichen Inszenierungen von Lernvideos auseinandersetzt wird (Altmaier et al. 2021). Deutlich wird, bezogen auf die hier herausgestellte Ergebniskategorie Videonutzung, dass Vermittler*innen eine Expertise entwickeln müssen, um Qualitätskriterien herauszufiltern, die gute Lernvideos von schlechten unterscheiden (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2019).

Nutzungsgründe sozialer Netzwerke/Interaktion und Austausch

Eine weitere wichtige Kategorie bezieht sich auf die Nutzungsgründe der sozialen Netzwerke und die Interaktion und den Austausch mit Freund*innen und Familie, die sich als eines der zentralen Motive in Bezug auf die Nutzung der Apps darstellt.

[…] Wir tauschen uns auch aus, wir haben zusammen Spaß […] (#00:05:55-1# _IT_Z41–44)

Jedoch gestaltet sich der Austausch nicht reibungslos und ist keineswegs selbstverständlich und einfach. Es wird deutlich, dass es durchaus eine Herausforderung ist, sich nicht nur TikTok-Bewegungen anzueignen, sondern selbst dort zu zeigen:

(…) War echt ein krasser Schritt und das wollte der vor zwei Tagen einbauen, aber es war echt super schwieriger Schritt (…). Genau der D1 wollte TikTok drehen, dann hab ich dem gesagt ey lass mal den machen. (#00:07:15-4#_ID4_Z30)

Zum Meme werden

Es wird auch versucht, sich bei eigenen Tanzvideos so fehlerfrei wie möglich zu inszenieren. Es wird nur gepostet, was perfekt erscheint. Denn die eigene Präsenz im Netz wird auch sehr kritisch wahrgenommen, da man Gefahr läuft, durch Patzer zum Meme zu werden.

(..) Aber im Internet. Wenn du etwas verkackst, das ist ja [unv.] also […] direkt wirst du Meme. (#00:13:06-9# ID1_Z85–89)

Handlungskompetenzen (Agency)

Der Aspekt der Agency umfasst die soziale und semiotische Fähigkeit Lernender, digitale Werkzeuge zu nutzen, kritisch zu reflektieren, Informationen zu verarbeiten und sich motiviert zu fühlen, Technik anzuwenden, um neues Wissen zu schaffen (Pachler et al. 2010). Vor dem Hintergrund der Agency werden im Folgenden Aussagen herausgefiltert, die zum einen auf die Nutzungsmotive (wie Anregung, Motivation und Freude) hindeuten. Wird ein Kompetenzerleben deutlich? Wodurch bleiben sie in der App und nutzen diese weiterhin? Was führt andererseits aber auch dazu, dass sie der Nutzung bewusst kritisch gegenüberstehen oder einen konternden Umgang damit aufzeigen?

Mit Musik fängt alles an

Die Teilnehmenden äußern, dass ihre Suche nach Bewegungsideen unter anderem bei der Suche nach Videomaterial zu tänzerischen Umsetzungen ihrer aktuellen Lieblingsmusik beginnt (Kategorie: Mit Musik fängt alles an). Aus Perspektive der Jugendlichen nimmt die smartphonebasierte Suche nach Bewegungsanregungen mit einem aktuellen musikalischen Hit oft ihren Anfang. Folgendes Ankerbeispiel bringt dies auf den Punkt:

Wenn ich ein Lied feier [sic.] und das ist ein neues Lied, dann werde ich dann suchen wie kann ich das Lied tanzen oder ich suche mal ein paar Leute, die schon Choreo über das Lied gemacht haben. Und dann nach [unv.] versuche ich dann, meine Choreo zu machen (…). (#00:18:38-3#_ID_Z117–119)

TikTok is toxic

Andererseits erleben und reflektieren die Jugendlichen auch erhebliche Einschränkungen durch die App-Nutzung: „TikTok is toxic“ (#00:09:44-3#_ID_Z57). Dieser In-Vivo-Code wurde daher als übergreifende Kategorie für eine Reihe von Schwierigkeiten mit der App-Nutzung angenommen. Insbesondere stört die Oberflächlichkeit und das nach Außendarstellen „(…) zu viele Filter (…)“ (#00:11:28-4#_ID1_73–75). Zu dieser Kategorie gehören auch die Unterpunkte Unangenehmer Such- und Lernprozess und Kein Aufbau langfristiger Expertise/Schnelllebigkeit.

Unangenehmer Such- und Lernprozess

Als besonders unangenehm wird der Such- und Lernprozess beschrieben, die Fülle an Daten und Videos, die einen förmlich dazu zwingen, weiter zu suchen:

[…] Also wenn du (…) etwas lernen willst, dann ja, du hast so viele Infos, über deine, über die Sachen, die du lernen willst. Aber das macht [sic.] auch manchmal depressiv. Wenn du, wenn man zu viel Internet benutzt, dann wird er die ganze Zeit am Handy. Dann wird er keine Freunde mehr machen, keinen Bock draußen zu gehen, die ganze Zeit im Zimmer bleiben. Oder (..) Ja, so (..) Also das ist auf jeden Fall wegen diese Social Medien, Facebook, WhatsApp, YouTube auch, weil es gibt viele Leute, die auch zu viel YouTube gucken. Und aber das ist auch schlimm, (…) du suchst, du suchst, du suchst und du lernst, du liest, du liest, du liest durch Internet. Du guckst Videos. Und das sind schon zu viele Information auf einmal. […]. (#00:00:17-5#_ID2_Z2–4)

Kein Aufbau langfristiger Expertise/Schnelllebigkeit

Der langfristige Aufbau von Expertise, wie im klassischen bewegungskulturellen Bereich üblich und erforderlich, wird im Zusammenhang mit dem Erfolg auf TikTok als obsolet erlebt. Insbesondere die kürzeren 15 bis 30 s langen Videos, die auf TikTok zentral sind und um deren Produktion es sich bei den Konsument*innen dreht, werden als vorteilhaft erlebt, während das Interesse an längeren Choreografien zunehmend schwindet. Folgende Aussage bringt dies auf den Punkt:

(…) An einem Trend tanzt du so 30 s und Schnitt von irgendnem Lied und das ist halt viel einfacher, glaube ich. (#00:10:33-7# _ID4_Z 46)

Als unverhältnismäßig und ungerecht wird beschrieben, dass mit wenig Können anscheinend schon eine große Reichweite erreicht werden kann:

(…) also sie machen sich Mühe, also die geben alles, die machen super Videos und so, aber die bekommen so viel Likes. Aber kommen die anderen nur, weil die so hübsch oder sehr gut aussehen? Die machen nur so komische Sachen. So kommen [unv.] Die gucken einfach so. (…) aber auf einmal Boom eine Millionen Videos, das macht keinen Sinn. (#00:09:52-6#_ID1_Z59–63)

Bedeutsam erscheint an dieser Stelle die Beobachtung, dass in postdigitalen Zeiten temporär-projekthafte, flexible Netzwerklogiken mit flachen Lernkurven im Vordergrund zu stehen scheinen (Jörissen et al. 2020, S. 73–74.).

Technik stört und verändert Wahrnehmungsmodalitäten

Insbesondere die veränderten Körperlichkeiten und die körperliche Darstellung fällt auf. Bewegte Bilder werden lediglich aus der einen Richtung des begrenzten Bildschirmfensters gesehen und nicht aus einem 360-Grad-Umgebungsraum. Die Begrenzung des Smartphonebildschirms führt dazu, dass sich Aufnahmen sehr oberkörper- und kopflastig darstellen; dies führt zu einer Zentrierung auf das Gesicht:

Ungefähr bei TikTok ohne tanzen, nur so sein Gesicht zeigen oder ja, du bist sehr sehr hübsch. Okay, du hast Glück im Leben, das ist gut eigentlich. Aber das ist so unkreativ und sehr unnötig. Genau. Und das ist leider die meisten, die Mädels, ist heutzutage. (#00:05:20-7# ID2_Z18–19)

Diese Aussagen deuten auf die von Tanzvermittler*innen beschriebene veränderte Wahrnehmung von Körper und Bewegung durch smartphonebasierte Arbeit hin. So konnten koordinativ-komplexe Bewegungen in schnellem Tempo und differenzierter Dynamik beispielweise über den Instagram-Livestream mit Jugendlichen nur eingeschränkt und in ihrer Grobform ohne Feinabstimmung der Gelenkwinkel und Körperhaltung umgesetzt werden (Howahl et al. 2021, S. 169–170).

Soziokulturelle und technologische Strukturen

Im Zusammenhang mit den soziokulturellen und technologischen Strukturen werden Aspekte relevant, die sich auf die Anwendung der Technik, aber auch die verändernden Strukturen in der Kommunikation und der Präsenz im Netz beziehen.

Anwendung der Technik/Apps

Über beide Projekte hinweg wird die Anwendung der Technik umfänglich beschrieben. Für die Kategorie der Anwendung der Apps steht folgendes Ankerbeispiel aus dem #digitanz-Projekt:

Ja Instagram, Snapchat. So das sind die Dinge, die ich eigentlich am meisten nutze. Dann habe, dann ja habe ich eine Kamera. (…) Und ja, fotografier halt auch dann und habe dann auch noch ein, so eine Seite, wo ich auch poste. Und ja so, so Videobearbeitung macht mir auch Spaß. (…) (#00:19:21-3#_S21_Z117–119)

Langfristige Präsenz/eigene Daten im Netz

Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang auch Ängste und Unsicherheiten bezogen auf Datenschutzaspekte und die langfristige Präsenz von eigenen Videodaten im Internet. Es existiert ein sensibles Bewusstsein für die eigene Präsenz im Netz und darüber, wie mit den eigenen Daten umgegangen wird:

Ich hab halt mir immer vor Augen gehalten, dass mit den Videos nichts passiert. Dass die halt in dem Raum bleiben. Dann ist das mir, also für mich absolut okay, (..) Aber ich hab das halt von vielen Seiten gehört, dass das, dass die da sehr panisch geworden sind (…) (#00:17:26-8#_I S41_Z 63–64)

Besonderheiten Medium Video

Es wird auch betont, dass das Medium Video und das Filmen ja durchaus auch dazu führt, dass mehrmals angesetzt werden muss, um ein perfektes Video zu drehen. Das bringt gegenüber einer Darbietung in Präsenz einerseits den Vorteil mit sich, dass Fehler durch Aufnahmewiederholung ausgebügelt werden können, andererseits wird das Aufnehmen zur Dauerschleife:

Und bei einem Video da ist egal, wie oft man verkackt, so, wiederholt man, wiederholt man, so lange, wie man es will. Anders ist, ja natürlich ist das ein anderes Gefühl. Also ich glaube live ist es auf jeden Fall viel verantwortungsvoller auch. (#00:09:18-4#_ID4_Z40)

Fazit zu den Herausforderungen von sozialen Medien und Konsequenzen für den Kinder- und Jugendsport

Digitale Medien, interaktive Apps und Social-Media-Inhalte bestimmen den (Lern‑)Alltag Jugendlicher maßgeblich. TikTok, Instagram und Co. eröffnen jungen Menschen – insbesondere in Zeiten pandemisch bedingter Einschränkungen – neue Möglichkeiten und Chancen: Sie ermöglichen ein In-Kontakt-Treten und -Bleiben – auch über Social-Distancing-Bestimmungen hinweg. Auch stoßen sie relativ niedrigschwellig Lernprozesse an: dienen als Inspirations‑, Kreativitäts- und Vernetzungsplattform – auch im tänzerisch-ästhetischen Kontext. TikTok bewegt Menschen. Wie unsere Ergebnisse zeigen, dienen kurze Videos vielen jungen Menschen als Anreiz, selbst aktiv zu werden: nachzuahmen, umzugestalten, zu veröffentlichen.

Doch bringen postdigitale Entwicklungen auch Herausforderungen und Schwierigkeiten mit sich: Das Sich-Zeigen birgt in sozialen Netzwerken vermehrt das Risiko, beschämt zu werden. Der direkte Bezug der Interviewten zum Phänomen Meme in diesem Kontext drückt die erlebte Befürchtung der digitalen Bloßstellung aus (vgl. Steinberg et al. 2020). Das eigene Handeln kann mitunter langfristige Konsequenzen haben: Die eigenen Daten gehen im Netz mit einer erhöhten Langlebigkeit einher; sie können mehrfach angeschaut, bearbeitet, abgefilmt, geteilt und auch kommentiert sowie kritisiert werden. Die Aussage eines*r Interviewten TikTok is toxic weist darauf hin, dass sich Mediennutzung der Jugendlichen durch eine spezifische Ambivalenz auszeichnet (vgl. Stalder 2016, S. 156–157). Trotz giftiger, schädigender immanenter Strukturen verbringen Kinder und Jugendliche einen großen Teil ihrer Freizeit auf Social-Media-Plattformen. Sie erleben hier Freude, Inspiration und Kreativitätsraum (vgl. Rudi et al. 2019), andererseits bestimmt sie die spezifische Logik der Plattform bezüglich Schönheitsidealen oder spezifischen Präferenzen der Plattformalgorithmen. Jugendliche können sich diesem kaum entziehen, wenn sie teilhaben wollen. Befragte stören sich an der Oberflächigkeit und Außendarstellung von TikTok und Co. Trotzdem prägen Filter und Hochglanz-Aufnahmen die Auseinandersetzung vieler Jugendlicher mit menschlichen Körpern und Körperlichkeit. Sie erleben die Präsentation in sozialen Netzwerken nicht als ganzheitlich: Junge Menschen präsentieren insbesondere Körper und Bewegung vermehrt in Ausschnitten. Sie passen sich an – hauptsächlich an die Maße des Smartphonebildschirms – immer auf der Suche nach vielen Klicks und Likes (vgl. Howahl et al. 2021). Das geht einher mit einem gesteigerten Perfektionismus bezogen auf die Produktion von eigenem Videomaterial. So wird sowohl der Ideenfindungsprozess als auch der Videodreh an sich von den Interviewten als extrem langatmig empfunden. Der Druck, der auf Akteur*innen im digitalen Raum lastet, scheint extrem groß. Social-Media-Plattformen verleiten zum Weitersuchen, zur Schau stellen, Optimieren.

Diese Schnelllebigkeit steht im starken Kontrast zu traditionellen Lernprozessen im bewegungskulturellen Bereich: Aufwendige Inszenierungen scheinen zum Großteil durch Kürzestchoreografien von maximal 30 s abgelöst zu werden. Die Konsument*innen sind das schnelle Klicken gewohnt und belohnen kurze Sequenzen mit ihren Likes. Trotz einer bis dato unzureichenden Forschungslage drängt sich für den Lernalltag vieler Jugendlicher folgende These auf: In postdigitalen Zeiten dominieren temporär-projekthafte, flexible Netzwerklogiken mit flachen Lernkurven (Jörissen et al. 2020). Was das längerfristig auch für den analogen Kinder- und Jugendsport bedeutet, kann aktuell noch nicht beantwortet werden. Sicher scheint jedoch, dass sich die Tanz- und Bewegungskultur in postdigitalen Zeiten auf junge Menschen einstellen muss, die bewegungsbiografisch von Social-Media-Plattformen geprägt sind.

Postdigitale Praktiken scheinen Heranwachsenden neue Perspektiven in Bezug auf eine körperlich-ästhetische Ich-Erprobung anzubieten: unverbindlich, niedrigschwellig und schnell verfügbar. Dies sollten sich Tanzpädagog*innen zunutze machen, um ihre Zielgruppe dort abzuholen, wo sie im Alltag häufig anzutreffen ist: digital. Netzwerken und Co-Kreieren scheint online wunderbar zu funktionieren. Jedoch sollten Kinder und Jugendliche mit den neuen Möglichkeiten des postdigitalen Zeitalters nicht alleine gelassen werden, um Gefahren und Herausforderungen pädagogisch rahmen und vielleicht sogar kanalisieren zu können. Letztendlich wird in der Fachcommunity die Herausforderung immer wieder deutlich, Heranwachsende auch auf lange Sicht weiterhin für ein analoges Tanzen und Sich-Bewegen, abseits des Smartphonebildschirms, zu begeistern (vgl. Kosma und Buchanan 2021). Bildungsformate im Kinder- und Jugendsport können, so zeigt die vorliegende Studie, digitale Möglichkeiten gut integrieren. Es wird aber auch deutlich, dass Formate, die fernab des Bildschirmformats eines Smartphones ansetzen, es zukünftig schwer haben, bei den Zielgruppen anzukommen.