1 Einleitung

Der Fachkräftemangel und die sich in Richtung einer älteren Bevölkerung verschiebende Alterspyramide werden in den kommenden Jahren für einen weiterhin steigenden Bedarf innovativer Lösungen zur Aufrechterhaltung der qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung in Deutschland sorgen. In diesem Kontext erfordern insbesondere die steigenden Fallzahlen altersbedingter Erkrankungen sowie der Personalmangel im Bereich der Therapie und Pflege (Bundesagentur für Arbeit 2021) innovative Konzepte und Geräte, welche möglichst vielen Patienten einen niederschwelligen Zugang zu wirksamer Versorgung erlauben. Gleichzeitig muss es das Ziel sein, Therapeuten und Pflegekräfte in ihrem Arbeitsalltag zu entlasten.

Neurologische Erkrankungen, wie der Schlaganfall, gehören zu den häufigsten Ursachen für erworbene Behinderungen in der Europäischen Union und stellen damit eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar (Wafa et al. 2020). Betroffene leiden oft unter Funktionsstörungen oder dem vollständigen Funktionsverlust einer oder mehrerer Extremitäten, wodurch sich weitreichende Folgen für das Privat- und Erwerbsleben der Patienten ergeben. So können sie ihrer Arbeit oft nicht mehr nachgehen und sind häufig auch im häuslichen Umfeld auf Unterstützung angewiesen. Um diese erworbenen Funktionsstörungen abzubauen, wird die Neuroplastizität des Gehirns durch motorisches Lernen angeregt. Dabei wird durch Reorganisation die Funktion geschädigter Areale von intakten Hirnarealen übernommen. Um das motorische Lernen zu begünstigen, ist häufiges – idealerweise tägliches und authentisches – Üben alltagsrelevanter Funktionen mit einer hohen Anzahl an Repetitionen und Variationen erforderlich (Demarin und Morović 2014).

Da in therapeutischen Einrichtungen aufgrund der verfügbaren Kapazitäten häufig nicht in wünschenswerter Frequenz und Dauer trainiert werden kann, besteht an dieser Stelle ein immenses Automatisierungspotential, dem bereits vermehrt mit dem Einsatz entsprechender Therapiegeräte begegnet wird (Klein et al. 2018). Im Rahmen der, die manuelle Rehabilitation ergänzenden, automatisierten Neurorehabilitation, wird die wiederzuerlernende Bewegung des funktionseingeschränkten Körperteils von Rehabilitationsrobotern auf den Patienten aufgeprägt. Für eine schnelle und umfangreiche Rückgewinnung der erworbenen Funktionsverluste sollte die automatisierte Bewegungsdurchführung dabei möglichst authentisch menschliche Bewegungsmuster abbilden.

Im Kontext der zur Lebensführung bzw. Erwerbsarbeit notwendigen Fähigkeiten, nimmt insbesondere das Greifen eine entscheidende Rolle ein, da die Manipulation der eigenen Umgebung elementarer Bestandteil vieler Aktivitäten des täglichen Lebens (Activities of Daily Living – ADL) ist. Im Bereich der automatisierten Greifrehabilitation fokussieren bestehende Lösungen allerdings häufig entweder die Transport- oder die Greifphase, obwohl für jeden erfolgreichen Greifvorgang beide Phasen synchron durchlaufen werden müssen. Einzelne Bewegungsabläufe, wie das Führen des Arms oder das Öffnen der Hand, sind erst in Kombination dazu geeignet, das Greifen vollumfänglich wiederzuerlernen (Nowak 2011). Um dies im Rahmen eines automatisierten Trainings zu berücksichtigen, ist im Vorfeld einer Automatisierung eine modellbasierte Beschreibung mindestens einer exemplarischen, physiologisch korrekten Greifbewegungen notwendig, die im Rahmen der automatisierten Therapie auf den Patienten aufgeprägt werden kann. Hieraus ergibt sich der Bedarf nach einem Modell für die Steuerungsentwicklung der Rehabilitationsroboter, dass diesen Anforderungen gerecht wird.

Der zur Bewegungsanbahnung konzipierte Rehabilitationsroboter (siehe Abb. 1) besteht dazu aus einem Portal für die Translation des Arms in der X‑Y-Ebene (Transportphase), in der ein Objekt in einer alltagsähnlichen Situation – wie beim Sitzen am Esstisch – gegriffen werden soll. Gleichzeitig ermöglichen zwei Linearmotoren das Öffnen und Schließen der Hand mittels über Bowdenzüge bewegten und an den Fingerphalanxen befestigten Stegen (Greifphase). Das Design verfügt damit über vier Freiheitsgrade und erlaubt das synchrone Trainieren beider für das Greifen relevanten Phasen.

Abb. 1 Fig. 1
figure 1

Prototyp eines Greifrehabilitationsroboters für die synchrone Therapie der Transport- und Greifphase

Prototype of a grasping rehabilitation robot for synchronous therapy of transport and grasping phase

2 Stand der Forschung und Technik

Viele Vorarbeiten im Kontext der Beschreibung menschlicher Greifbewegungen stammen bereits aus den 80er- und 90er-Jahren und beschäftigen sich durch verschiedene Variationen der Versuchsbedingungen vor allem mit der Fragestellung der neurologischen Abläufe bei Transport- und Greifbewegungen. Insbesondere werden dabei die Einflüsse verschiedener Objektgrößen und Distanzen auf den Bewegungsablauf untersucht, zumeist für den Pinzettengriff und unter Verwendung optischer Messsysteme (Paulignan et al. 1991, 1997). Nur wenige Arbeiten, wie die von Jeannerod (1981) und Gentilucci et al. (1991) befassen sich hingegen mit dem Vollhandgriff, obwohl im Rahmen der Versuche deutliche Unterschiede in den Bewegungsmustern identifiziert werden konnten. Anders als Paulignan, verwenden Smeets et al. (2019) einen alternativen Ansatz und interpretieren Greifvorgänge als das Kontrollieren der einzelnen Finger im dreidimensionalen Raum, ohne konsequente Trennung der beiden Teilbewegungen, wobei auch hierbei synchrone Bewegungen von Arm und Finger stattfinden. Darüber hinaus ergänzen neue Arbeiten den Einsatz verschiedener Methoden des Motion Capturings mit weiteren Untersuchungen, wie zum Beispiel einer detaillierten Kraftmessung. So befassen sich Herbst et al. (2020) in einer aktuellen Studie intensiv mit der Bewegungsanalyse der Greifbewegung für unterschiedliche Objektgeometrien. Dabei liegt ein Fokus auf der Ermittlung inter- und intraindividueller Unterschiede in puncto Bewegungsablauf und aufgebrachter Kräfte. Auch Döhring et al. (2020) untersuchen Transportbewegungen für Objektübergaben zwischen Personen, fokussieren dabei aber die Kraftverläufe bei der Übergabe und nicht die Apertur.

Obwohl bereits verschiedene Beschreibungen von Menschbewegungen mittels Motion Capturing existieren, sind im Rahmen der Entwicklungen eines Therapiegerätes für den Heimbereich weitere Fragestellungen zu erörtern und zusätzliche Randbedingungen zu beachten. Zum einen existieren nur wenige Forschungsarbeiten bezüglich des Vollhandgriffs, welchem aus therapeutischer Sicht, aufgrund der Beteiligung sämtlicher Finger, eine höhere Bedeutung beizumessen ist, als beispielsweise dem Pinzettengriff. Zum anderen verhindern die verschiedenen Versuchsaufbauten der bisherigen Forschungsarbeiten das Übernehmen einzelner Teilaspekte und das anschließende Zusammenfügen zu einem schlüssigen und belastbaren Modell für die korrekte chronologische Superposition der Bewegungen in Transport- und Greifphase. Aus diesem Grunde werden die relevanten Größen und Zusammenhänge anhand der Bewegungen eines Therapeuten erfasst, um eine Grundlage für eine authentische automatisierte Bewegungsanbahnung durch einen Rehabilitationsroboter zu schaffen.

3 Versuchsplanung und -aufbau

Für ein effektives Training der motorischen Fähigkeiten wird die Manipulation dreier zylindrischer Gegenstände mit einem Durchmesser zwischen 40 und 80 mm in sitzender Position ausgewählt, da es sich hierbei um eine Grundfertigkeit mit hohem Alltagsnutzen handelt. Darüber hinaus wird mit dem Zylindergriff – je nach zu greifendem Objektdurchmesser auch als Zu- bzw. Umfassungsgriff der Hand bezeichnet – die Greifart mit der häufigsten Alltagsnutzung (Bullock et al. 2013) gewählt, die zudem eine Übertragbarkeit auf das Greifen alternativer Geometrien, wie Kugeln und Quader mit vergleichbaren Abmaßen, erlaubt.

Zur Bewegungsdatenerfassung werden die drei Zylinder mit 40, 60 und 80 mm Durchmesser so natürlich wie möglich von einer initialen Home-Position aus gegriffen. Diese Zylinder werden dazu an sechs verschiedenen Positionen (MP1–MP6) in unterschiedlichen Distanzen und Winkeln so positioniert, dass sie typische Bewegungsmuster des Greifens nur aus dem Schulter- und Ellenbogengelenk heraus – ohne Bewegung des Rumpfes – abdecken und eine Inter- und Extrapolation für dazwischen und außerhalb liegende Positionen zulassen. Die Entfernung von MP1,3,5 ist dabei geringer als jene von MP2,4,6 und die Winkel liegen von der Home-Position aus betrachtet bei 0° (MP1,2), 45° (MP3,4) und 88° (MP5,6), wie Abb. 2 zu entnehmen. Die Winkel ergeben sich dabei durch die Schnittpunkte des Radius der maximalen Reichweite mit den Positionen der linken (MP6) und rechten (MP2) Schulter sowie der Körpermitte (MP4).

Abb. 2 Fig. 2
figure 2

Planung des Bewegungsraums durch Innenrotation des Arms bis zur linken Schulter

Range of motion by internal rotation of the arm up to the left shoulder

Bei den Versuchen sitzt der Proband aufrecht vor einem Tisch. Die Sitzhöhe wird dabei so eingestellt, dass der rechte Unterarm bzw. das Handgelenk bei einer Flexion von 90 Grad im Ellenbogengelenk auf der Tischfläche aufliegt. Das Schultergelenk befindet sich in der natürlichen Neutral-Null-Stellung, sodass weder eine Ante- bzw. Retroversion noch eine Innen- oder Außenrotation vorliegt. In dieser Position hält der Proband einen Ball, um die Funktionsstellung der Hand zu erzielen, bei der diese weder extrem gestreckt noch gebeugt ist. Die Verwendung des Balls ermöglicht zudem eine zum Greifen geeignete Abduktionsstellung des Daumens.

Für die Aufzeichnung der Armtrajektorie und Apertur, also der Öffnung der Hand gemessen am Abstand zwischen Zeigefinger und Daumen, wird das GOM Aramis SRX 3D-Kamerasystem eingesetzt. Dieses System verwendet reflektierende Referenzmarker zum Bewegungstracking mit 100 Hz. Pro Parameterset werden zwei Bewegungen vermessen. Zur Verbesserung der Erfassungsgüte werden an den relevanten Stellen z. T. Punktehaufen geklebt und für den Fall einer Verschattung eine Ersatzapertur definiert (Abb. 3b).

Abb. 3 Fig. 3
figure 3

Versuchsaufbau mit Probandenposition und Bewegungsraum für das ADL-Greiftraining (a) und Referenzpunkten auf dem Unterarm (b)

Experimental setup with subject position and range of motion for ADL grasping training (a) and reference points on the forearm (b)

4 Ergebnisse der Bewegungsdatenanalyse

Die Auswertung der Messwerte zeigt einen charakteristischen Verlauf der Geschwindigkeiten im Transit zu den Greifpositionen MP1–6 (Abb. 4). Dabei wird das Geschwindigkeitsmaximum bei ca. 45 % des normierten Bewegungsfortschritts erzielt, dass je nach Entfernung zum Ziel in der Amplitude variiert. Es zeigt sich, dass es beim natürlichen Greifen weiter entfernter Objekte zwar auch zu einer Erhöhung der Greifdauer kommt, diese jedoch zum Teil durch eine deutliche Geschwindigkeitserhöhung kompensiert wird. Der Einfluss der Distanz auf die maximal erreichte Bewegungsgeschwindigkeit konnte im Rahmen der Datenerfassung als eine Funktion mit hohem Bestimmtheitsmaß (R2 = 0,94) ermittelt werden. Auch ist zu erkennen, dass die Apertur zwischen 60 und 70 % des normierten Bewegungsfortschritts maximal wird. Darüber hinaus ist ersichtlich, dass die Bewegungsmuster bei künstlich langsamer Ausführung (Slow) verloren gehen, was aber einen atypischen Greifvorgang darstellt und daher im Rahmen der Modellierung vernachlässigt werden soll.

Abb. 4 Fig. 4
figure 4

Normierte Geschwindigkeitsverläufe (a) und normierte Verläufe der Apertur in Abhängigkeit der Greifposition (b) jeweils zweier Durchläufe mit Zylindergriff (am Beispiel des 60 mm-Objekts) – fehlende Datenpunkte durch Verschattung

Normalized velocity profiles (a) and normalized aperture profiles as a function of grasping position (b) for two trials with cylindrical grip (using the 60mm object) - missing data points due to shadowing

Wie erwartet, variieren die Aperturverläufe für die verschiedenen Objektgrößen signifikant in ihren Maximal- und Endwerten, während sie sich in ihren Verlaufscharakteristika stark ähneln. Wie Abb. 5 zeigt, kann der Zusammenhang zwischen Objektgröße und maximalem sowie finalem Aperturabstand durch Approximationsfunktionen mit hohen Bestimmtheitsmaßen (R2 = 0,93 bzw. R2 = 0,99) beschrieben werden. Ebenfalls fällt auf, dass die Hand bei kleineren Objekten deutlich weiter über die eigentliche Objektgröße hinaus geöffnet wird als bei größeren Objekten. Zudem werden die Finger bei kleinen Objektdurchmessern hinter dem Greifobjekt weiter zusammengeführt, was aufgrund der Definition der Apertur als Abstand von Zeigefinger zum Daumen eine geringere Endapertur als Objektdurchmesser zur Folge hat. Aus dem Extremfall des Zufassungsgriffs – dem Schließen der Hand am größten Objektdurchmesser – wird also ein Umfassungsgriff.

Abb. 5 Fig. 5
figure 5

Maximaler und finaler Aperturabstand in Abhängigkeit des Objektdurchmessers

Maximum and final aperture as a function of object diameter

Zusätzlich zu den Geschwindigkeitsverläufen wurden ebenfalls die Bewegungsbahnen der Transportbewegung untersucht. Abb. 6 zeigt die aufgezeichneten Trajektorien vom Startpunkt zu den verschiedenen Messpunkten in der für das Therapiegerät relevanten Transversalebene unter Verwendung des Objekts mit einem Durchmesser von 60 mm. Innerhalb dieser Ebene weichen die aufgezeichneten Bewegungsbahnen im Durchschnitt um lediglich 2,12 % von einer linearen Verbindung zwischen Start- und Endpunkt ab. Aus diesem Grund scheint es plausibel, die Trajektorie durch eine Linearbahn zu approximieren.

Abb. 6 Fig. 6
figure 6

Trajektorien der Transportbewegung, reduziert auf die Transversalebene (Objektdurchmesser 60 mm)

Trajectories of transport movement, reduced to the transverse plane (object diameter 60mm)

Im Vergleich mit der Literatur (Paulignan et al. 1990; Kudoh et al. 1997) zeigt sich, dass sowohl die Geschwindigkeitsverläufe als auch Extremstellen der Transportphase für die Greifbewegungen ohne Innenrotation (MP1 & MP2) eine hohe Ähnlichkeit aufweisen. Gleichzeitig kann aufgrund des Fehlens von Transportbewegungen mit Innenrotation in der Literatur, leider kein Vergleich dieser Messpunkte (MP3–MP6) durchgeführt werden. Auf Basis der Ähnlichkeit der Verläufe von (MP1 & MP2) und (MP3–MP6) kann aber angenommen werden, dass die Innenrotation keinen fundamentalen Einfluss auf die Bewegungsdurchführung hat. Auch für die Greifphase ist aufgrund der Fokussierung auf den Pinzettengriff nur ein qualitativer Vergleich der Aperturverläufe möglich. Im Unterschied zum Zylindergriff werden die Finger hinter dem größten Objektdurchmesser nicht wieder zusammengeführt, um einen Umfassungsgriff herbeizuführen. Daher ist lediglich der Verlauf bis zum Erreichen des Aperturmaximums annähernd vergleichbar. Es zeigt sich jedoch, dass auch für die Apertur der qualitative Verlauf und Bewegungsfortschritt beim Erreichen der Extremstellen von großer Ähnlichkeit ist. In Bezug auf die maximale Apertur wird in der Literatur von einem je nach Quelle leicht unterschiedlichen, aber zumeist annähernd linearen Zusammenhang ausgegangen, was insbesondere für große Objektdurchmesser gilt und die Ergebnisse in Abb. 5 im Einklang mit der Literatur (Jeannerod 1981, 1984; Smeets und Brenner 1999) plausibel macht. Darüber hinaus kann auch für die Trajektorien aus Abb. 6 auf Basis von Morasso (1981) von typischen Bewegungsmustern gesprochen werden. Insgesamt kann daher von validen Versuchsergebnissen ausgegangen werden, die eine exemplarische Modellierung erlauben.

5 Modellierung der menschlichen Greifbewegung

Für die Modellierung des Geschwindigkeitsverlaufs werden alle Aufzeichnungen durch Curve-Fitting zu einem repräsentativen Verlauf zusammengefasst (Abb. 7). Dieser wird anschließend leicht modifiziert, sodass Start- und Endgeschwindigkeit den Wert null annehmen. Das resultierende Polynom kann über einen Vorfaktor skaliert werden, um die unterschiedlichen Amplituden für verschiedene Distanzen abbilden zu können. Da sich bei den Aperturverläufen nicht nur der Maximal-, sondern auch der Endwert objektabhängig verändert, reicht die Skalierung des Polynoms mittels eines Vorfaktors nicht aus, um die Bewegungen nachzubilden. Daher werden die Verläufe beim Curve-Fitting zunächst für jede Objektgröße separat betrachtet.

Abb. 7 Fig. 7
figure 7

Curve-Fitting der Aperturverläufe am Beispiel 60 mm (a) und Geschwindigkeitsverläufe aller Greifpunkte und Objektgrößen (b)

Curve-fitting of aperture profiles using the example of 60mm (a) and velocity profiles for all grasping positions and object sizes (b)

Im Anschluss an das Curve-Fitting werden Gemeinsamkeiten der Aperturverläufe identifiziert. Untersuchungsobjekt sind die Zeitpunkte der Wende- und Extremstellen sowie der relative Bewegungsfortschritt zu verschiedenen Zeitpunkten. Dabei wird zu verschiedenen Zeitpunkten zwischen Start- und Maximalwert sowie zwischen Maximal- und Endwert betrachtet, wie viel Prozent des jeweiligen Deltas der beiden Werte bereits zurückgelegt ist. Für nahezu alle Untersuchungsmerkmale können sehr große Ähnlichkeiten zwischen den Verläufen identifiziert werden, sodass durch Mittelwertbildung objektunabhängige Verlaufscharakteristika formuliert werden, die zum Aufstellen verschiedener Randbedingungen genutzt werden konnten.

Nachdem die Approximation des Aperturverlaufs mithilfe eines einzigen Polynoms aufgrund fehlender Ähnlichkeit zum Bewegungsmuster nicht gelang, wird der Bewegungsablauf in zwei Hälften aufgeteilt. Das Erreichen des Maximalwertes stellt hierbei die Grenze zwischen beiden Bereichen dar. Mithilfe der vorher ermittelten Charakteristika ergeben sich für jeden Bewegungsbereich insgesamt acht Randbedingungen. Diese werden anschließend genutzt, um Polynome verschiedenen Grades und unterschiedliche Kombinationen der Randbedingungen im Hinblick auf die Eignung für die Approximation zu untersuchen. Zur Ermittlung des geeignetsten Polynoms wird anschließend die Abweichung zu dem aus dem Curve-Fitting erhaltenen Verlauf berechnet. Dabei werden das Polynom und die zugehörige Kombination der Randbedingungen für jeden Bewegungsbereich ausgewählt, die den Bewegungsablauf am genauesten beschreiben, sofern keine qualitativen Widersprüche identifiziert werden konnten. Mithilfe des verwendeten Ansatzes können Start‑, Maximal- und Endwert der Apertur unter Beibehaltung der wichtigsten Verlaufscharakteristika unabhängig voneinander gewählt werden. Die dabei erzielte Abweichung der ausgewählten Polynome gegenüber dem Verlauf aus dem Curve-Fitting beträgt 0,56 % für den ersten sowie 0,76 % für den zweiten Bewegungsbereich.

Das Modell verfügt über verschiedene Eingabeparameter. Als Basis für die Berechnung des Geschwindigkeitsverlaufs dient die Objektposition, woraus unter Berücksichtigung des objektgrößenabhängigen Abstandes zwischen Objektzentrum und Handgelenk des Patienten sowie der Bewegungsrichtung des Greifvorgangs die zu absolvierende Distanz für die Transporteinheit des Roboters resultiert. Aufgrund der geringen Abweichung der tatsächlichen Trajektorien von linearen Verbindungen zwischen Start- und Endpunkt, kann die Transportbewegung für den Betrieb des Therapiegerätes auf lineare Bewegungsbahnen reduziert werden. Im Rahmen der Bewegungsdatenerfassung wird der Zusammenhang zwischen der erreichten maximalen Geschwindigkeit und der zurückzulegenden Distanz als Funktion mit einem hohen Bestimmtheitsmaß (R2 = 0,94) ermittelt. Somit ergibt sich für eine bestimmte Distanz ein Geschwindigkeitsverlauf mit entsprechender Amplitude. Mithilfe der aufgezeichneten Aperturverläufe und der dabei auftretenden maximalen und finalen Apertur in Abhängigkeit der drei verschiedenen Objektgrößen, können im Modell beliebige Objektdurchmesser gewählt werden. Die resultierenden Werte für die maximale und finale Apertur fließen anschließend in die Randbedingungen für die Ermittlung der Polynome ein.

6 Evaluation

Abb. 8 zeigt exemplarisch die Interpolation des Geschwindigkeitsverlaufs für einen fiktiven Greifpunkt MP1.5, der sich exakt zwischen MP1 und MP2 befindet. Durch diese Parametrierung kann bspw. eine anthropometrische Adaption des Greiftrainings an die Armlänge des Patienten erfolgen, indem nach einer Messung der Reichweite des Arms sowohl an der Reichweitengrenze als auch jedem Punkt im durch die jeweilige Armlänge aufgespannten Arbeitsraum trainiert werden kann.

Abb. 8 Fig. 8
figure 8

Modellierte Geschwindigkeits- (a) und Aperturverläufe (b)

Modelled velocity (a) and aperture profiles (b)

Ebenfalls werden die Aperturverläufe für ein Objekt mit einem Durchmesser von 50 mm im Vergleich zu den Verläufen für das 40 mm- und 60 mm-Objekt dargestellt. Auch ist erkennbar, dass bei kleineren Durchmessern die Hand das Objekt weiter umschließt (Umfassungsgriff) und die Apertur daher geringer als der Objektdurchmesser wird. Dabei ist die Streuung der Endapertur deutlich größer, weil sich die Winkel des letzten Fingergelenks (Distales Interphalangealgelenk – DIP) je nach Greifkraft einstellen.

Zur praktischen Evaluation des aus den Bewegungsdaten abgeleiteten Modells werden abschließend zwei Messreihen (M1 & M2) mit zwei durchschnittlich großen, männlichen Probanden (P1 & P2) durchgeführt. Dabei werden die Messungen an der Greifposition MP1.5 mit einem zylindrischen Objekt mit 54 mm Durchmesser vorgenommen. Die Messreihen für die Geschwindigkeit und Apertur werden bei entsprechend auf die Anforderungen dieser Messgrößen angepassten Versuchsaufbauten getrennt aufgenommen, um Verschattung der Referenzmarker zu reduzieren. Die nach den Messungen der Apertur in die Auswertung einbezogenen Verläufe sind dem Modellverlauf für die genannten Eingabeparameter gegenübergestellt, wie auf Abb. 9 zu erkennen. Um etwaige Messungenauigkeiten bzw. den Einfluss der Anbringung der Marker an Daumen und Zeigefinger auszugleichen, werden zudem für alle gemessenen Verläufe der Mittelwert aus Apertur und Ersatzapertur gebildet. Die vereinzelt auftretenden Datenlücken werden linear interpoliert. Das Ende einer Messreihe wird auf den Zeitpunkt festgelegt, bei dem die Aperturänderung < 0,1 mm beträgt, um minimale Bewegungen am Ende der Greifbewegung zu eliminieren.

Abb. 9 Fig. 9
figure 9

Aperturverläufe in der Greifphase – Modell und Versuch

Aperture profiles in the grasping phase - model and experiment

Insgesamt folgen die experimentell erzielten Ergebnisse einem ähnlichen Verlauf, auch wenn sich große inter- und intraindividuelle Unterschiede ergeben. Diese sind insbesondere in Bezug auf den Bewegungsfortschritt beim Erreichen des Aperturmaximums erkennbar. Im Vergleich zu den auf der Bewegungsdatenerfassung des Therapeuten basierenden Modelldaten zeigt sich ein zum Teil deutlich früheres Aperturmaximum, dass zudem auch stark streut. Der sich im Modell ergebende absolute Wert des Maximums weicht andererseits lediglich um weniger als 2 % vom arithmetischen Mittel der entsprechenden Versuchswerte ab. Demgegenüber ist allerdings die Abweichung der Endapertur deutlich größer als erwartet. Eine mögliche Ursache dafür könnte sein, dass bei kleineren Objekten die Klemmung entweder mit der ersten, zweiten oder allen drei Phalanxen erfolgen kann und sich die Apertur als Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger trotz gleich sicheren Griffs entsprechend unterscheidet. Die Genauigkeit der Modellierung ist folglich durch diese Problematik beeinträchtigt. Aus diesem Grund wird das Modell in Bezug auf die Apertur durch einen Skalierungsfaktor für geringe Durchmesser angepasst, um ein vollständiges Umschließen des Objekts abzubilden (siehe Abb. 9, verbessertes Modell). Um festzustellen, unter welchen Umständen sich die Endapertur wie verhält, sollten weiteren Untersuchungen mit mehr Probanden durchgeführt werden.

Insgesamt lässt sich jedoch feststellen, dass das Modell in puncto Apertur in Bezug auf die wichtigsten Größen (Aperturmaximum und -Verlauf) qualitativ adäquat für die Beschreibung menschlicher Greifbewegungen zu sein scheint. Darüber hinaus entspricht das Modell dem Kenntnisstand einschlägiger vorangegangener Arbeiten (siehe z. B. Paulignan 1991), wobei die durchgeführte Evaluation aufzeigt, dass sich der idealen Bewegungskurve für physiologisch korrektes Greifen aufgrund der inhärenten Komplexität nur vereinfachend genähert werden kann.

Zur Evaluation der modellierten Geschwindigkeitsverläufe in der Transportphase des Greifens werden diese ebenfalls mit dem zylindrischen 54 mm Objekt an Position MP1.5 im Vollhandgriff untersucht. Abb. 10 zeigt die Ergebnisse der Evaluation der Transportphase für zwei Probanden (P1 & P2) in jeweils zwei Messungen (M1 & M2).

Abb. 10 Fig. 10
figure 10

Geschwindigkeitsverläufe in der Transportphase – Modell und Versuch

Velocity profiles in the transport phase - model and experiment

Die im Rahmen der Evaluation aufgezeichneten Bewegungskurven zeigen z. T. starke, durch Inter- und Intraindividualität hervorgerufene Abweichungen zum Modell. Qualitativ weisen die Versuchsdaten allerdings, wie bereits die Aperturverläufe, einen modellähnlichen Verlauf auf. So unterscheidet sich die Lage des modellierten Geschwindigkeitsmaximums vom arithmetischen Mittel der Lagen der entsprechenden experimentell erhaltenen Werte um weniger als 5 %, was in diesem Punkt auf eine hohe Modellgüte schließen lässt. Das Maximum der Geschwindigkeit wird ebenfalls durch die Modellkurve gut angenähert. Das modellierte Geschwindigkeitsmaximum weicht vom arithmetischen Mittel der gemessenen Verläufe um weniger als 10 % ab. Insgesamt ist daher von einer zumindest qualitativ geeigneten Modellierung der Greifbewegungen und damit einer geeigneteren Bewegungsanbahnung, als bei der Nutzung von linearen Rampenprofilen, auszugehen. Das Modell sollte daher nach einer Anpassung des Trainingsprogramms an die Anthropometrie des Patienten durch den Therapeuten während einer einmaligen Inbetriebnahme dazu geeignet sein, eine authentische und schmerzfreie Bewegungsausführung zu ermöglichen.

7 Diskussion

Sowohl vorangegangene Studien als auch die erhobenen Daten lassen vermuten, dass intra- und interindividuelle Abweichungen, wie bspw. die Tagesform oder Körpergröße, eine Modellierung menschlicher Bewegungen enorm erschweren. Ziel der Modellbildung ist daher eine zumindest partielle Anpassung der Bewegung nicht nur an exogene Faktoren, wie den Objektdurchmesser, sondern auch eine anthropometrische Adaption der Trajektorien, am Beispiel der Armlänge also durch eine personenbezogene Definition des Abstands zum Greifpunkt. Wie sich gezeigt hat, liegen die Modellverläufe innerhalb der erwarteten Korridore vergleichbarer Bewegungsparameter. Anpassungsbedarf besteht allerdings insbesondere bei der Modellierung der Endapertur. Aufgrund der hohen Bestimmtheitsmaße der Modellierung zu den Bewegungsdaten des Therapeuten, kann allerdings angenommen werden, dass das Modell die Greifbewegungen einer einzelnen Person ausreichend gut abbildet. Da im Rahmen der manuellen Therapiedurchführung die Bewegungsanbahnung auch von der Interindividualität der Therapeuten abhängig ist, scheint dies kein Ausschlusskriterium für eine erfolgreiche Therapie darzustellen und sollte daher der angestrebten Automatisierung nicht im Wege stehen.