1 Einleitung

Die Studie untersucht die Beziehungen zwischen Staat und organisierten Interessen der deutschen Wirtschaft in der Coronakrise 2020/21. Dabei sind zwei Fragen von Belang, nämlich erstens, ob und wie Arbeitgeberverbände, Wirtschaftsverbände und -kammern (fortan auch: ‚Wirtschaftsverbände‘) sich in der Krise politisch artikulieren. Und zweitens, ob die Interaktion zwischen Regierung und Wirtschaftsverbänden den Charakter eines „Krisenkorporatismus“ (Rehder 2021) annimmt. Diese Überlegung geht grundsätzlich davon aus, dass auf den Schock der Ereignisse pfadabhängig im Rahmen etablierter Interaktionsmuster reagiert wird (Pierson 2004). Mit unserer Studie tragen wir konkret zum Forschungsstand bzgl. der Arbeitgeberverbände, Wirtschaftsverbände und Wirtschaftskammern in Deutschland und deren Leistungsfähigkeit bei (Schroeder und Weßels 2017). Wir schließen an Überlegungen zum Krisenkorporatismus (Urban 2012; Rehder 2021) an, über die wir empirisch wie auch theoretisch hinausgehen.

Der Artikel nimmt den Zeitraum zwischen März 2020 und Februar 2021 in den Blick. Wir gehen wie folgt vor: Die Diskussion des Forschungsstandes mündet in die Formulierung der Untersuchungshypothesen. Es folgt die Darstellung und Erläuterung der Interaktionen zwischen Staat und Wirtschaft auf Grundlage der Chronologie dokumentierter Treffen organisierter Wirtschaftsinteressen und der Bundesregierung. Hier können drei Phasen unterschieden werden, denen sodann eingehende Fallstudien gewidmet werden:

Zwischen März und Juni 2020 (Verabschiedung des Konjunkturpakets) gab es eine intensive wirtschaftspolitische Aktivität, die auch durch die Interessenartikulation der Wirtschaftsverbände und -kammern geprägt wurde. Hier gehen wir auf die Informationsangebote und Forderungskataloge von 136 Verbänden und Kammern in der Frühphase der Coronapandemie ein. Als Schlüsselereignis und zugleich Abschluss dieser ‚Schockphase‘ der Pandemie untersuchen wir die Kongruenz verbandlicher Positionen und der politischen Maßnahmen des Konjunkturpakets.

Die relative Beruhigung der Coronalage mündete seit Juli 2020 in eine Phase, in der im Rahmen bestehender korporatistischer Formate über strukturelle Probleme und staatliche Fördermaßnahmen beraten wurde. Für diese Phase nehmen wir insbesondere die Automobilindustrie und die Ausformung des branchenspezifischen „Automobilkorporatismus“ (Rehder und van Elten 2019; Rehder 2021) in der Coronakrise in den Blick.

Diese Phase überlappt sich teilweise mit der Krisenverschärfung ab Oktober 2020, den unterschiedlichen Unternehmenshilfen und der zunehmenden Kritik an diesen. Wir zeichnen hier zunächst nach, wie sich das Staat-Verbände-Verhältnis im Oktober, November und Dezember 2020 deutlich verändert. Sodann gehen wir auf den Wirtschaftsgipfel vom 16.02.2021 als weiteres Schlüsselereignis ein, mit dem ‚die‘ Wirtschaftsverbände die Corona-Krisenpolitik der Bundesregierung (zwischenzeitlich) bilanzierten. Wir untersuchen für diese Phase insbesondere die Veränderung der Interaktion zwischen Verbänden und Politik.

Im Ergebnis identifizieren wir einen ‚Korporatismus ohne Verbrennungsmotor‘ (Sack et al. 2021), der durch wechselseitige Ressourcenabhängigkeit und Vernetzungen geprägt und erhalten wird.

Die Darstellung der Chronologie basiert auf der Auswertung einschlägiger Bundestagsdrucksachen und von Medienberichten. Den Erkenntnissen zu den Informationsangeboten und Forderungskatalogen der deutschen Arbeitgeberverbände, Wirtschaftsverbände und -kammern liegt eine quantitative Analyse der entsprechenden Websites zugrunde (Fuchs et al. 2021). Die Untersuchung der Verbandspositionen und Interaktionsmuster in den drei Phasen basiert auf der qualitativen Analyse der manifesten Inhalte (Miles et al. 2014) von Verbandsstellungnahmen (n = 98), validiert durch die Auswertung von Medienberichterstattung.Footnote 1

2 Organisierte Interessen der deutschen Wirtschaft – Forschungsstand

Ein erster Strang der Forschung zu organisierten Wirtschaftsinteressen in Deutschland hat sich, neben Übersichtswerken (Sebaldt und Straßner 2004; Schroeder und Weßels 2017), in den vergangenen Jahren auf organisationsbezogene Fragestellungen fokussiert. Im Mittelpunkt stehen ihre Organisierbarkeit (Behrens (2011) für Arbeitgeberverbände), ihr Organisationserhalt und Wandel im Kontext sich verändernder Umwelten (Sack (2021) für Industrie- und Handelskammern; Grote et al. (2008) und Kohler-Koch et al. (2021) für Industrieverbände), ihre Konkurrenzbeziehungen (Vorholt 2019) oder die Veränderung der Zahl von Verbänden im Zeitverlauf (Klüver und Zeidler 2019). In weiteren Arbeiten geht es um interne Organisationsdynamiken und die Legitimität aus Sicht der Mitgliedsunternehmen (Sack et al. 2014 und van Elten 2018 für Wirtschaftskammern). Die organisierten Interessen der deutschen Wirtschaft werden auch entlang ihrer spezifischen Funktionen differenziert. Für die Arbeitgeberverbände geht es dabei wesentlich um die Tarifpolitik (Silvia und Schroeder 2007; Behrens 2017; Haipeter 2016, 2017; Silvia 2017). Hierbei steht die in der deutschen Wirtschaftsverbandsforschung etablierte Unterscheidung dreier Typen organisierter Wirtschaftsinteressen – Arbeitgeberverbände, Wirtschaftsverbände und Wirtschaftskammern (Grote et al. 2007; Schroeder und Weßels 2017; Kohler-Koch et al. 2021) – jedoch zunehmend in Frage. So erodierte die Distinktion von Arbeitgeberverbands- und Wirtschaftsverbandsfunktionen durch einen generellen Rückgang der Tarifbindung, staatliche Interventionen in die Lohnpolitik aber auch produktmarktbezogene Regulierungen (Ellguth und Kohaut 2020; Lesch 2017). Die Wirtschaftskammern unterlagen in den letzten 15 Jahren einem institutionellen Wandel, der mit der verwaltungsrechtlichen Einhegung ihrer Interessenartikulation einherging (Sack 2021; Kluth 2021). Diese Arbeiten sind für unsere Untersuchung insofern von Interesse, als dass sie Stabilität und Wandel der wirtschaftsverbandlichen Organisation in den Blick nehmen.

Ein zweiter Forschungsstrang befasst sich mit Public Policy, Politikwandel und organisierten Interessen. Im Kern geht es (Stichwort: Inside- und Outside-Lobbying) um ‚alte‘ Fragen der Politikwissenschaft: Welche Verbände werden in den Policy-Prozess einbezogen? Welchen Einfluss üben organisierte Wirtschaftsinteressen auf politische Entscheidungen aus? Dabei werden sowohl die Verhandlung zwischen organisierten Wirtschaftsinteressen und Staat in Politikfeldern untersucht (Rehder et al. 2009; Schiffers 2019) als auch ihre langfristige Rolle für die Gestaltung von Politik adressiert (Paster 2015). Sodann geht es um den Einfluss organisierter Wirtschaftsinteressen auf Regulierung, den sie gegenüber unterschiedlichen Adressaten des politischen Systems versuchen geltend zu machen (z. B. Sack und Fuchs 2014; Dür et al. 2019) bzw. um die Kongruenz ihrer Präferenzen mit (Teilen) der Bevölkerung (Pakull et al. 2020). Für deutsche Wirtschaftsverbände kommen Eising und Spohr (2017) und Cross et al. (2021) zu dem Schluss, dass diese in Anhörungen häufiger als andere organisierte Interessen erfolgreich auf Änderungen von Gesetzesentwürfen im deutschen Bundestag hinwirken. Döhler (2020) weist auf die Bedeutung des Verhältnisses organisierter Interessen zur Ministerialverwaltung hin. Er identifiziert eine „reziproke[.] Beziehung“ (Döhler 2020, S. 22), die sich deutlich von den Vorstellungen einseitiger Einflussnahme im Sinne des Lobbying-Diskurses unterscheidet. An diesen Diskussionsstrang knüpfen wir mit der Überprüfung an, ob sich Einfluss organisierter Wirtschaftsinteressen anhand einiger Schlüsselsituationen in der Coronakrise plausibilisieren lässt. Dabei streben wir keine ‚Messung‘ des Einflusses (Dür et al. 2019; Sack 2017) oder des ‚Zugangs‘ zu Medien und politischen Institutionen (für die Coronakrise: Junk et al. 2021)Footnote 2 an, sondern überprüfen die Kongruenz und Parallelität der Positionen organisierter Wirtschaftsinteressen und wirtschaftspolitischer Programme der Bundesregierung.

Es geht bei der Einbeziehung der organisierten Interessen der Wirtschaft jedoch nicht nur um die Einflusslogik (Schmitter und Streeck 1999) und das Lobbying (Baumgartner et al. 2009; Klüver 2012; Dür et al. 2019), sondern auch um die „participation in public policy“ (Traxler 2010, S. 163), also die Integration von Verbänden in öffentliche Politik und damit um ihre Leistungs- und Problemlösungsfähigkeit. Diese Überlegungen schließen an die Neo-Korporatismusforschung an, die auf die Ausgestaltung von Politikverhandlung und der Strukturen der Interessenvertretung hingewiesen hat. Systematisch sind zwei Analyseebenen zu unterscheiden (Schmitter 1982, S. 262): So geht es erstens um die Bedingungen korporatistischer Politikverhandlung, d. h. das Vorhandensein großer und repräsentationsstarker Verbände. Zweitens geht es um die Ausgestaltung der Interessenintermediation und -konzertierung, d. h. die regelmäßige und bevorzugte Einbeziehung dieser (wenigen) Verbände in etablierten (meist nicht öffentlichen) Foren und Formaten (vgl. von Winter 2014, S. 182). Diese (bevorzugte) Einbeziehung wird seitens der Verbände – im Sinne eines korporatistischen ‚Tauschs‘ (Lehmbruch 1978, 1983) – durch ihre Beteiligung an und die Unterstützung der Politikimplementation ‚entgolten‘. Während in den vergangenen Jahren mehrfach die ‚Erosion‘ korporatistischer Strukturen – u. a. durch eine ‚Pluralisierung‘ der Akteursgruppen – diskutiert wurde (von Winter und Willems 2007; von Winter 2014; Haipeter 2016), legen die Erkenntnisse zur Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 einerseits und zu den Strukturen deutscher Wirtschaftsverbände andererseits (Kohler-Koch et al. 2021) nahe, dass korporatistische Strukturen und Praktiken nach wie vor hoch relevant sind.

Zusammenfassend ist Korporatismus nicht einfach nur als Verhandlungskoordination und „administrative Interessenvermittlung“ (Lehmbruch 1987) zwischen Regierung und (wenigen) Verbänden definiert, sondern bedeutet auch, dass diese problemlösungs- und implementationsfähig sind. Damit wird die krisenspezifische Problemlösungsfähigkeit des Korporatismus analytisch interessant, über die bislang wenig bekannt ist. Für die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 identifizierte Urban (2012) einen distinkten „Krisen-Korporatismus“ (S. 229). Er fokussierte auf die ‚klassische‘ Kooperation zwischen Staat, Gewerkschaften und organisierten Wirtschaftsinteressen und zeigte, dass die Konzertierung grundsätzlich zur Krisenbewältigung beitrug. Zu einem ähnlichen Ergebnis, nämlich der hohen Bedeutung neokorporatistischer Interessenkonzertierung in 2008/09, kamen (in international vergleichender Perspektive) auch Eichhorst und Weishaupt (2013). Für den Fokus dieser Untersuchung, die Coronakrise (2020/21), diagnostiziert Rehder (2021) mit Blick auf organisierte Wirtschaftsinteressen eine pfadabhängige Praxis „krisenkorporatistischer“ Konzertierung und Steuerung, die an die Krisenerfahrungen von 2008/09 – z. B. mit Blick auf das Kurzarbeitergeld – anschließt (Rehder 2021, S. 217). Die Einbindung von Verbänden eröffne dem Staat ein wesentliches „Politikinstrumentarium“ (Rehder 2021, S. 217) für die Bewältigung (ökonomischer) Krisen. Mit Blick auf die Interessenintermediaton zeige sich, dass „unter wirtschaftlichen Krisenbedingungen die korporatistische Tradition [..] immer wieder revitalisiert wird“ (Rehder 2021, S. 217).

Wir knüpfen hier an diesen Begriff des ‚Krisenkorporatismus‘ im Sinne Rehders an. Unser Interesse richtet sich damit auf einen Ausschnitt korporatistischer Interessenintermediation, nämlich die Interaktion organisierter Wirtschaftsinteressen auf der einen und der deutschen Bundesregierung auf der anderen Seite in einer zeitlich begrenzten Krisensituation (Coronakrise 2020/21).Footnote 3 Wir stehen weder an, Korporatismus in seiner ganzen Bandbreite zu vermessen, noch können wir hier einen zeitlichen Vergleich leisten. Der Beitrag fokussiert auf eine krisenspezifische Ausprägung des Korporatismus, der sich von der regelmäßigen korporatistischen Konzertierung unterscheiden kann; dessen genaue Ausformung jedoch empirisch zu bestimmen ist. Gemeinsam mit der policy-analytischen Frage, ob und wie organisierte Wirtschaftsinteressen auf die Krisenpolitik einwirken, werden also die Muster der Einbeziehung organisierter Wirtschaftsinteressen in der spezifischen Situation der Coronakrise untersucht.

Auf Grundlage der vorangegangenen theoretischen Überlegungen können zwei untersuchungsleitende Hypothesen abgeleitet werden. Die erste Hypothese greift die Überlegungen zum Krisenkorporatismus (Rehder 2021) auf und pointiert diese wie folgt:

Aufgrund des Zeit- und des Problemdrucks wird in der Krise korporatistische Handlungskoordination konfliktvermeidend und effizienzorientiert pfadabhängig „revitalisiert“. (H1)

Im Anschluss an diese Überlegungen, aber auch die Hinweise zur erwarteten Problemlösungsfähigkeit von Verbänden bei korporatistischer Handlungskoordination lässt sich eine zweite Hypothese formulieren:

Aufgrund der gesellschaftlichen Problemlösungsfähigkeit ressourcenstarker Verbände werden diese von der Regierung aktiviert und in die Definition und Umsetzung der Krisenstrategie einbezogen. (H2)

Vor dem Hintergrund ihrer (einstmals?) starken Stellung gilt ein besonderer Fokus in der Debatte um den Krisenkorporatismus der Automobilindustrie. Rehder (2021) diagnostiziert hier längerfristige mit der Dieselgate-Affäre verbundene „Legitimitätsverluste“ und eine Erosion des „Automobilkorporatismus“ (S. 217). Hieran anschließend interessiert uns, ob während der Krise tatsächlich eine ‚geschwächte‘ Rolle der Automobilindustrie zu identifizieren war. Dies ist eine Überprüfung für die konkrete Situation. Eine grundlegende Analyse der Veränderungen des „Automobilkorporatismus“ bedarf längerer Zeiträume. Gleichwohl ist die Beobachtung der Staat-Verbände-Beziehungen in diesem Sektor ein wichtiger Baustein, um Kontinuitäten, Anpassungen und Veränderungen zu erfassen.

Festzuhalten bleibt, dass es bislang an einer eingehenden empirischen Überprüfung der dargestellten Überlegungen zum aktuellen Krisenkorporatismus fehlt. Hier liegt dann auch der Mehrwert der Studie.

3 Drei Phasen der Staat-Verbände-Interaktion

Um die Frage nach dem „Krisenkorporatismus“ bzw. dessen Plausibilität in den Blick zu nehmen, haben wir zunächst Frequenz und Formen der nachvollziehbaren Interaktion zwischen Staat und (assoziierter) Wirtschaft (vgl. Rehder 2021, S. 216–217) zwischen März 2020 und Februar 2021Footnote 4 ausgewertet. Wir fokussieren auf die Interaktion von Arbeitgeberverbänden, Wirtschaftsverbänden und Wirtschaftskammern (Handwerkskammern, Industrie- und Handelskammern) mit der Bundesregierung. Auf die Interaktion mit dem Parlament oder auf die EU- und Bundesländerebene konnten wir in den folgenden Untersuchungsschritten ebenso wenig eingehen wie auf die Rolle der Gewerkschaften in der Krise (s. oben). Die Erhebung basiert auf der Recherche auf den Websites der Bundesministerien und der Auswertung einschlägiger Bundestagsdrucksachen (Onlinematerial 1). Wir kommen zu zwei Ergebnissen: Zum einen lassen sich unterschiedliche Typen von Kooperationsformaten identifizieren. Zum anderen zeigt sich eine Periodisierung der Staat-Verbände-Interaktion im ersten Jahr der Coronapandemie.

Mit Blick auf die Interaktionsformate müssen a) solche Treffen und Foren, die der (ad-hoc) Bearbeitung akuter Krisenfolgen dienen, von b) etablierten (korporatistischen) Formaten der Interessenkonzertierung unterschieden werden, die bereits vor der Krise eingerichtet wurden (z. B. Allianz für Aus- und Weiterbildung). Letztgenannte sind inhaltlich vor allem auf Fragen der Branchenentwicklung (z. B. Digitalisierung, Verkehrswende) in mittel- bis langfristiger Perspektive ausgerichtet. Im Kontext der Coronakrise werden damit jedoch selbstverständlich immer auch Maßnahmen zur Krisenfolgenbewältigung thematisiert. Es geht uns hier also um den Fokus der Gespräche und nicht um eine exklusive Zuordnung.

Die Periodisierung der Staat-Verbände-Interaktion ist mit der wirtschaftspolitischen Aktivität der Bundesregierung kongruent (Sack et al. 2021). Diese orientiert sich wesentlich an der Entwicklung des Infektionsgeschehens, da die restriktiven, die ökonomische Aktivität beschränkenden Maßnahmen der Bundesregierung sich am Hygieneschutz ausrichteten. Die erste Phase (März–Juni 2020) ist von der engen und regelmäßigen Abstimmung der Wirtschaftsverbände mit der Bundesregierung geprägt. Inhaltlich war die Interaktion von der unmittelbaren Bewältigung der Coronakrise bestimmt. Es dominierten Treffen, die eigens zur Bewältigung krisenspezifischer Fragen der Wirtschaftspolitik eingerichtet wurden. Hierzu zählen insbesondere die ‚Verbänderunden‘ im Bundeskanzleramt. Die Kooperation folgte einem klaren Muster: Einbezogen wurden Verbände, die einem ‚korporatistischen Ideal‘ der Interessenvertretung entsprechen, also große Branchen- und Spitzenverbände (z. B. BDA, BDI, DIHK, HDE)Footnote 5 mit einer hohen Repräsentationsstärke und ‚Verpflichtungsfähigkeit‘, die zugleich für die Krisenbekämpfung relevante Wirtschaftsbereiche repräsentieren. Formate staatlich-verbandlicher Koordinierung, die bereits vor dem Beginn der Coronakrise eingerichtet wurden, wurden nur am Rande zur Krisenbewältigung reaktiviert. Dies gilt in dieser ersten Phase v. a. für die mittelstandspolitische Interessenkonzertierung; so wurden die entsprechenden Verbände über das ‚Netzwerk Mittelstand‘ des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWE) zweimal nachweislich eingebunden.Footnote 6

Die etablierten Formate wurden aber dann vor allem mit Beginn der zweiten Phase (Juli–Oktober 2020) wichtiger. Nicht zuletzt aufgrund des deutlichen Rückgangs der Infektionszahlen dominierten sie über die Sommermonate und im Frühherbst, während die Zahl solcher Gespräche, Treffen und ‚Gipfel‘ deutlich nachließ, die sich mit akuter Krisenbewältigung befassten. Nur der Handelsverband Deutschland (HDE) kam mit dem BMWE zu einem dezidiert Corona-bezogenen ‚Austausch‘ zusammen. Im Oktober fand (nach langer Pause) ein weiterer ‚Verbändegipfel‘ in größerer Runde statt. Zu den dann quantitativ überwiegenden erprobten korporatistischen Formaten zählen insbesondere die von hoher medialer Aufmerksamkeit begleiteten Treffen der Bundesregierung mit der Automobilindustrie im Rahmen der etablierten ‚Konzertierten Aktion Mobilität‘ (Deutscher Bundestag, BT-Drs. 19/11025). Dies gilt auch für den ‚Runden Tisch Luftfahrtindustrie‘ und den ‚Nutzfahrzeuggipfel‘, die zwar auch im Zeichen der Coronapandemie standen, jedoch insbesondere Fragen der branchenspezifischen Entwicklung thematisierten.

Die dritte Phase der Staat-Verbände-Interaktion (November 2020–Februar 2021) begann mit dem abermaligen Lockdown im Herbst 2020 infolge der erneuten Infektionswelle. Diese Phase ist durch eine auffällige InaktivitätFootnote 7 gekennzeichnet: Weder fanden hier nennenswerte ad-hoc-Krisentreffen statt, noch wurde eine große Zahl etablierter Formate einberufen. Lediglich zwei ‚Verbändegespräche‘ im Oktober 2020 und Februar 2021 sowie obligatorische Antrittsbesuche neuer Verbandspräsidenten im BMWE (Wolf, Gesamtmetall und Dulger, BDA) sind hier zu verzeichnen. Kennzeichnend für diese Phase sind die relative Begrenzung der Restriktionen auf die ‚kundennahen‘ Bereiche des Handels, der Gastronomie und des Tourismus sowie die Einführung und Fortsetzung distributiver Maßnahmen der Bundesregierung („Überbrückungshilfen“).

Zusammenfassend lässt sich erstens mit Blick auf die Formen und Teilnehmer der Staat-Verbände-Interaktion in allen drei Phasen ein ausgeprägter Krisenkorporatismus identifizieren. Mit Blick auf die Einbeziehung repräsentations- und ressourcenstarker Verbände knüpft er an etablierte korporatistische Praktiken an, ist jedoch auch spezifisch. So ist die Zahl der einbezogenen Verbände kontinuierlich höher als in ‚klassischen‘ korporatistischen Formaten. Überdies erfolgt die Interaktion öffentlich durchaus sicht- und nachvollziehbar. Beides kann als eine spezifische Reaktion auf die Coronakrise verstanden werden. Denn diese zeichnet sich, auch im Vergleich mit vorherigen Krisensituationen (z. B. Finanzkrise 2008/09), sowohl durch eine umfassende Betroffenheit und ein damit einhergehendes Interesse von Gesellschaft wie Wirtschaft als auch durch eine Vielzahl bereichsspezifischer Problemstellungen (z. B. Betriebsschließungen in Handel und Gastronomie vs. Beeinträchtigung von Lieferketten in der Industrie) aus. Schließlich zeigt sich zweitens, dass die Frequenz der Interaktion in den drei Phasen deutlich variiert (Abb. 1). Diese ‚Bestandsaufnahme‘ der Interaktionsmuster stellt die Hintergrundfolie für die nachfolgende Analyse der Staat-Verbände-Beziehungen in den drei Phasen dar.

Abb. 1
figure 1

Staat-Verbände-Interaktion in der Coronakrise – Treffen, Gespräche und Foren. (Die angegebene Teilnehmerzahl berücksichtigt nur Arbeitgeberverbände, Wirtschaftsverbände und -kammern. Weitere Teilnehmer können z. B. Gewerkschaften oder Bundesbehörden sein. Nicht berücksichtigt wurden (nur teilweise dokumentierte) Telefonate von Ministerien und Wirtschaftsverbänden. Quelle: Eigene Zusammenstellung nach Auswertung von Bundestagsdrucksachen und Presseveröffentlichungen von Ministerien und Verbänden. Eine Liste der berücksichtigten Treffen und der Teilnehmerverbände findet sich in Onlinematerial 1. COVI ad-hoc Treffen zur Krisenbewältigung, CORP etablierte Formate korporatistischer Staat-Verbände-Interaktion)

4 Staat-Verbände-Beziehungen in der Coronakrise

4.1 Phase 1: Das Konjunkturpaket

In der Frühphase der Coronakrise unterschieden sich 136 deutsche Arbeitgeberverbände, Wirtschaftsverbände und KammernFootnote 8 anhand der Online-Angebote und politischen Statements deutlich in ihrem Aktivitätsniveau: Während sich 38 Verbände und Kammern ausgesprochen passiv verhielten, d. h. höchstens eine Information vorgehalten bzw. politische Forderung gestellt haben, waren 62 Verbände und Kammern mit mehr als fünf Informationen und/oder politischen Forderungen präsent. Dabei fällt auf, dass die Wirtschaftskammern vergleichsweise stark präsent waren, wenn es um Dienstleistungsangebote und Informationen für ihre Mitglieder und die Öffentlichkeit ging. Dies liegt an ihrer institutionellen Funktion und relativen Ressourcenstärke (Sack 2021). Ebenfalls erwartungsgemäß orientierten sich die politischen Forderungen mehrheitlich an der Frage nach finanziellen Unterstützungen für Unternehmen. Im Bereich der Informationen waren quantitativ branchenspezifische Informationen über die Virusprobleme, arbeitsrechtliche/-organisatorische Belange und die Betriebsorganisation bestimmende Themen. Die Forderungen nach der finanziellen Unterstützung von Unternehmen stechen quantitativ besonders hervor. Nachrangig sind in dieser ersten Phase der Pandemie Forderungen nach Änderungen bei den Arbeitsbeziehungen (Kurzarbeit, Sozialversicherungsbeiträge oder Mindestlohn) und nach der Aufhebung des Lockdowns. Forderungen nach steuerrechtlichen Erleichterungen und der raschen Umsetzung der staatlichen Finanzhilfen für Unternehmen wurden in diesem Zeitraum von mehr als 35 Wirtschaftsverbänden und -kammern artikuliert. Mit Blick auf die Maßnahmen der deutschen Bundesregierung gibt es hier eine hohe Kongruenz bei den kurzfristig angelegten Policy-Maßnahmen. Die faktische Aussetzung des Insolvenzrechts und die staatliche Beteiligung an Unternehmen über den Wirtschaftsstabilisierungsfonds spielten keine besondere Rolle. Es deutete sich aber bereits an, dass die konkrete Umsetzung der Policies von den Verbänden thematisiert wird (Fuchs et al. 2021).

Für die ‚Schockphase‘ ab März 2020 funktioniert der Krisenkorporatismus also in großen Teilen in Form eines unmittelbaren Informations- und Serviceangebots für die Mitglieder und von Forderungen, um die aktuelle Überlebensfähigkeit der Unternehmen (und damit Arbeitsplätze) zu sichern. Diese korrespondieren mit der Bereitschaft der Regierung, distributive Policies mit einem hohen Finanzmitteleinsatz als Krisenstrategie zu verfolgen. Es ist insoweit eine wechselseitige Ressourcenabhängigkeit sichtbar, als die Wirtschaftsverbände und -kammern seitens der Politik für die Bereitstellung von Informationen und Dienstleistungen genutzt werden, die insgesamt der Implementation der InfektionsschutzmaßnahmenFootnote 9 dienen. Wissen und (implementationsrelevante) Leistungen der Verbände können in dieser (informierten) Weise regierungsseitig nicht unmittelbar zur Verfügung gestellt werden. Sie werden mit distributiven, krisenentschärfenden Maßnahmen für Unternehmen entgolten. Es handelt sich insofern um einen ‚krisenkorporatistischen‘ Tausch (vgl. Lehmbruch 1978, 1983): (a) Öffentliche Unterstützung und damit Legitimierung der Regierungspolitik, (b) Informationsangebote für Unternehmen, (c) Implementationsunterstützung und (d) Arbeitsplatzsicherung auf Seiten der Wirtschaft und ihrer Verbände werden gegen finanzielle Unterstützung und die Bereitschaft, auf weitreichende Forderungen der Verbände einzugehen, seitens der Regierung getauscht.

Dies zeigt sich auch daran, dass die Policies der Bundesregierung und die Forderungen der Wirtschaftsverbände inhaltlich stark kongruent sind. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist das Konjunkturpaket als umfassendste wirtschaftspolitische Maßnahme im Frühjahr 2020 (Koalitionsausschuss 2020). Die Spitzenverbände der Wirtschaft – nachfolgend werden der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) sowie die AG Mittelstand (AGM) einbezogenFootnote 10 – veröffentlichten im Vorlauf zahlreiche Vorschläge für ökonomische Stimuli (BDI, 28.05.2020; DIHK, 02.06.2020; AGM, 02.06.2020b).Footnote 11 Hierzu zählten übereinstimmend und insbesondere steuerliche Anreize wie eine Ausweitung des steuerlichen Verlustrücktrags oder verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten, um den „Spielraum für neue private Investitionen [zu] erweitern“ (DIHK, 02.06.2020). Ebenso wurden weitreichende öffentliche Investitionen als „ein Türöffner für die private Investitionstätigkeit“ (BDI, 28.05.2020, S. 4), vor allem im Bereich von E‑Mobilität und Digitalisierung gefordert und eine beschleunigte Verwaltungsdigitalisierung einhellig angemahnt. BDI und AGM forderten zudem eine Deckelung der Sozialversicherungsbeiträge, die AGM setzte sich für eine finanzielle Unterstützung von Ausbildungsbetrieben und der Kommunen ein. All diese Maßnahmen finden sich im Konjunkturpaket der Bundesregierung (s. Tab. 1).Footnote 12

Tab. 1 Kongruenz wirtschaftspolitischer Maßnahmen und der Positionen ausgewählter Wirtschaftsverbände und -kammern (Mai/Juni 2020)

Abweichungen zeigen sich vor allem mit Blick auf die Nachfrageseite. So war z. B. die Auszahlung eines ‚Kinderbonus‘ keine dezidierte Forderung der Spitzenverbände. Dennoch stimmen auch diese Maßnahmen in ihrer Zielsetzung mit Verbandsforderungen, z. B. nach einer vorrübergehenden Senkung der Körperschafts- und Einkommensteuern (BDI) oder der vollständigen Abschaffung des Solidaritätszuschlags (BDI, AGM), überein.Footnote 13

Auch die Bewertung der Beschlüsse fiel weit überwiegend positiv aus. So war die ‚Anerkennung‘ politischer Entschlossenheit und ‚Tatkraft‘ kennzeichnend, auch wenn Detailfragen kritisiert wurden (z. B. DEHOGA, 04.06.2020). Dies gilt auch für die Mittelstandsverbände, die das Fehlen zukunftsorientierter struktureller Maßnahmen und die langfristigen Kosten kritisierten (FamUnt, 04.06.2020; BVMW, 04.06.2020; ZGV, 04.06.2020).

Abseits der grundsätzlich zustimmenden Positionen waren es nur Verbände der Tourismuswirtschaft, die vor dem Hintergrund der hohen Betroffenheit der Branche umfassend Kritik übten (BTW u. a., 04.06.2020). Diese machte sich vor allem am Fehlen einer für die Branche essentiellen Regelung zu Kundengeldrückerstattungen und andauernden Betriebsverboten fest. In diesem Fall fehlte anscheinend eine entsprechende ‚Vergütung‘ für die Kooperation und Implementationshilfe (Umsetzung des Infektionsschutzes, Arbeitsplatzerhalt) der Verbände; der krisenkorporatistische Tausch funktioniert in diesen Fällen nicht.

4.2 Phase 2: Der Fall der Automobilindustrie

Die zweite Phase der Staat-Verbände-Interaktion ist durch branchenspezifische Interessenkonzertierung und Handlungskoordination in etablierten korporatistischen Formaten geprägt. Wir fokussieren hier auf den Einzelfall der Automobilindustrie. Denn diese stand mit eigenen ‚Autogipfeln‘, sowohl in der Frühphase der Pandemie als auch im weiteren Verlauf des Jahres 2020, im besonderen Fokus. Vor dem Hintergrund der Diskussion über eine schleichende Erosion und Legitimitätsverluste des „Automobilkorporatismus“ (Rehder und van Elten 2019; Rehder 2021; s. oben), überprüfen wir, ob eine gesteigerte Distanz zwischen Automobilindustrie und Politik für die Coronakrise belegt werden kann.

Bereits bei der Diskussion um das Konjunkturpaket ab April 2020 stand die Automobilindustrie im Fokus. Der Verband der Automobilindustrie (VDA) trat öffentlich für eine weitreichende ‚Kaufprämie‘ für Automobile – analog zur Umweltprämie (‚Abwrackprämie‘) aus der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 – ein. Der Verband forderte explizit auch die finanzielle Förderung des Kaufs von Automobilen mit ‚modernem‘ Verbrennungsmotor (DLF 2020). Im Kontext der virulenten klimapolitischen Diskussionen stieß diese Forderung in der Öffentlichkeit jedoch auf deutlichen Widerspruch (SZ 2020a). Daran änderte auch die Fürsprache der Ministerpräsidenten der drei ‚Autoländer‘ Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen (SZ 2020a) sowie des industriellen Spitzenverbands BDIFootnote 14 (BDI, 28.05.2020, S. 5) wenig. Eine Kaufprämie auch für Verbrennungsmotoren wurde weder nach einem öffentlichkeitswirksamen ‚Autogipfel‘ (05.05.2020) noch mit dem Konjunkturpaket (03.06.2020) beschlossen. Dies wurde als Scheitern des VDA, als „Stromschlag für die Lobby“ (SZ 2020b), wahrgenommen. Der Verband wie Unternehmensvertreter zeigten sich „mit dem Ergebnis der Verhandlungen unzufrieden“ (FAZ.net 2020b; VDA, 04.06.2020). Allerdings handelt es sich, so das Ergebnis unserer Analyse, um eine dezidierte Strategie des VDA – die Kaufprämie auch für Verbrennungsmotoren war nicht mehr als ein ‚Lobbying-Dummy‘. Denn das Scheitern der Forderung ließ die Automobilindustrie in der Öffentlichkeit als Verliererin dastehen, während sie erhebliche Mittel aus dem Konjunkturpaket – ebenso wie im weiteren Verlauf des Jahres 2020 – für sich sichern konnte. Insbesondere der Eindruck, es sei zu einem ‚Bruch‘ zwischen VDA und Bundesregierung gekommen, trifft nicht zu. Denn der Verband wurde nach dem als gescheitert betrachteten Autogipfel eng in die Vorbereitung des Konjunkturpakets eingebunden; mit der IG Metall wurde er in eine „Arbeitsgruppe für konjunkturbelebende Maßnahmen“ des BMWE berufen (BMWE 2020; FAZ.net 2020a). Und mit dem Konjunkturpaket wurde nicht nur die (von den Automobilherstellern kofinanzierte) ‚Innovationsprämie‘ für E‑Autos beschlossen, sondern auch eine umfassende – direkte wie indirekte – finanzielle Förderung der Automobilindustrie im Umfang von 8,1 Mrd. € (Koalitionsausschuss 2020).Footnote 15 Hierzu zählen verschiedene Programme zur Modernisierung von Nutzfahrzeugflotten, der Ausbau der Ladeinfrastruktur oder die Förderung von FuE-Projekten für Elektromobilität und Batteriezellforschung (s. Tab. 2).Footnote 16

Tab. 2 Der „Automobilkorporatismus“ in der Coronakrise

Auch im weiteren Verlauf des Jahres 2020 ist der Automobilkorporatismus deutlich sichtbar (s. Tab. 2): Es folgten drei weitere Gipfeltreffen zwischen VDA, Automobilkonzernen, IG Metall, Ländern und Bundesregierung im Rahmen der bereits 2019 etablierten ‚Konzertierten Aktion Mobilität‘ (Deutscher Bundestag, BT-Drs. 19/11025; Deutscher Bundestag, BT-Drs. 19/25739) sowie auf dem dezidierten ‚Nutzfahrzeuggipfel‘ (BMVI 2020b). Die Automobilindustrie war hier nicht nur eng eingebunden, sondern, sowohl mit Blick auf die zeitliche Sequenz als auch die inhaltliche Kongruenz von Verbandspositionen und Beschlüssen, sehr erfolgreich darin, Unterstützung zu generieren. So fokussierte der VDA über Sommer und Herbst hinweg insbesondere auf die weitere Förderung der E‑Mobilität und der Ladeinfrastruktur (VDA u. a., 08.07.2020; VDA, 21.09.2020, 23.10.2020, 28.10.2020, 13.11.2020) oder forderte ein Unterstützungsprogramm für mittelständische Zulieferbetriebe (VDA, 24.09.2020). Während der VDA bis zum Frühherbst zwar keine messbaren finanziellen Zusagen erhielt (s. Autogipfel v. 08.09.2020), besteht sein ‚Erfolg‘ insgesamt darin, Themen strategisch zu platzieren und Beschlüsse über mehrere ‚Autogipfel‘ hinweg vorzubereiten (z. B. Ladeinfrastruktur). Seine Durchsetzungsfähigkeit ist bei einem Blick auf die Ergebnisse der Automobilgipfel des gesamten zweiten Halbjahres 2020 dann letztlich auch finanziell quantifizierbar (s. Tab. 2): Zwischen September und Dezember 2020 wurden weitere 3,2 Mrd. € zugesagt, die der Automobilindustrie direkt oder indirekt zugutekommen, z. B. die Flottenmodernisierung von öffentlicher Hand und Unternehmen (1 Mrd. €) oder die Einrichtung eines ‚Zukunftsfonds Automobilindustrie‘ (1 Mrd. €) mit einem Fokus auf die mittelständischen Zulieferbetriebe (Deutscher Bundestag, BT-Drs. 19/25739). Und auch einzelne Maßnahmen aus dem Konjunkturpaket wurden weiter aufgestockt, z. B. die Innovationsprämie (+ 1 Mrd. € bis 2025). Weitere rd. 4 Mrd. € konnten auf dem Nutzfahrzeuggipfel verbucht werden.

Mit allen Maßnahmen ist hierbei auch im Sinne des wechselseitigen Nutzens von organisierten Interessen und Regierung eine Verpflichtung der Automobilindustrie verbunden, die sich jedoch vom vorherigen Automobilkorporatismus unterscheidet. Der ‚Tausch‘ zwischen organisierten Interessen und Regierung fokussiert jetzt nicht länger nur auf die Arbeitsplatzsicherung (in der Automobil- wie in der Zulieferindustrie) gegen die Verabschiedung von Förderprogrammen, sondern beinhaltet eine dezidiert strukturpolitische Komponente; nämlich die Erwartung der Regierung, dass die Automobilhersteller ihre Produkte mittelfristig im Sinne klimapolitischer Vorgaben erneuern (während die Regierung die Ladeinfrastruktur fördert und bereitstellt). Obwohl unsere Befunde also insgesamt auf die Persistenz des Automobilkorporatismus hinweisen, zeigt sich auch eine graduelle Veränderung in der Coronakrise; nämlich im Sinne eines grün gefärbten ‚Korporatismus ohne Verbrennungsmotor‘ (Sack et al. 2021).

4.3 Phase 3: Zustimmung, Resignation und Ablehnung

4.3.1 Krisenkorporatismus in der Krise?

Die Übereinstimmung von Bundesregierung und Wirtschaftsverbänden ließ mit Beginn der Diskussionen um einen erneuten (Teil‑)Lockdown ab Oktober 2020 deutlich nach. Dies gilt zugleich für die korporatistische Handlungskoordination: Die Verbände waren ganz offenkundig nicht mehr derart eng in die Krisenbewältigung eingebunden wie in der Frühphase der Pandemie. An die Stelle ‚korporatistischen‘ Kompromisses und Tauschs trat die exekutive Entscheidung zu restriktiven Infektionsschutzmaßnahmen in Bund-Länder-Konferenzen, die (aus Sicht der Verbände) nur teils kompensiert wurden (Überbrückungshilfen) und welche die Verbände wiederum öffentlich kritisierten.

Die Positionen der Verbände unterschieden sich im Vorfeld des ersten (Teil‑)LockdownsFootnote 17 nur graduell. So wurde gefordert, einen „erneuten Shutdown [zu] vermeiden“ (Börner, Präs. BGA in FAZ.net 2020e) oder vor der Gefahr „immer neuer unbegründeter Verbote“ (Zöllick, Präs. DEHOGA, 27.10.2020) gewarnt. Sichtbar wird, dass zwar einerseits die unmittelbar betroffenen Branchen deutlich offensiver auftraten (Einzelhandel, Tourismus, Gastronomie), andererseits aber innerhalb der Wirtschaft das Verständnis davon vorherrschte, dass alle Bereiche eng miteinander verzahnt sind, wie etwa Vertreter der Industrie argumentierten, z. B. der VDMA (FAZ.net 2020c). Bereits im Vorfeld wurde zudem der Ruf nach Kompensationen und Hilfsgeldern im Falle erneuter Geschäftsschließungen laut (F.A.Z. 2020a). Nach Beschluss über einen (Teil‑)Lockdown und dessen Inkrafttreten im November 2020 zeigten sich dann deutlichere Unterschiede zwischen Branchen und Wirtschaftsbereichen, die sich vor allem aber nicht nur an der unmittelbaren Betroffenheit von den Infektionsschutzmaßnahmen ausdifferenzieren. Hinsichtlich der Inhalte der öffentlichen Forderungen lassen sich drei Gruppen von Verbänden im Kontinuum von Zustimmung bis fundamentale Ablehnung identifizieren (Tab. 3). So wurden die Maßnahmen entweder grundsätzlich als verhältnismäßig akzeptiert, nach außen ‚resigniert‘ hingenommen oder es wurde grundsätzlich das bis dahin unter den Verbänden (öffentlich) weitgehend akzeptierte Primat des Infektionsschutzes infrage gestellt. Hinter diesen inhaltlichen Ausprägungen lassen sich auch dezidierte Lobbying-Strategien einzelner Verbände erkennen.

Tab. 3 Inhaltliche Positionierung der Wirtschaftsverbände im Nov./Dez. 2020

Nur wenige Verbände bewerteten die Infektionsschutzmaßnahmen im November und Dezember 2020 trotz ihrer Kritik als grundlegend positiv, vollumfänglich notwendig und verhältnismäßig. So betonte u. a. der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) die Notwendigkeit des Infektionsschutzes, auch für die Funktionsfähigkeit der (Handwerks‑)Betriebe: „Persönlicher Gesundheitsschutz ist insofern immer auch Betriebe-Schutz“ (Wollseifer, Präs. ZDH, 25.11.2020). Dies galt auch für den VDMA, der die Maßnahmen als „richtig und notwendig, um die Ansteckungswelle zu brechen“ bezeichnete (Haeusgen, Präs. VDMA, 29.10.2020). Auffällig ist, dass es sich um Vertreter solcher Wirtschaftsbereiche handelt, die nicht unmittelbar von Schließungen und Einschränkungen (in größerem Umfang) betroffen waren. Allerdings war auch unter diesen Verbänden die Haltung zu den politischen Beschlüssen kritisch, z. B. mit Blick auf fehlende Planungsperspektiven oder den Umfang von Hilfsmaßnahmen. So forderte z. B. der BDI trotz Befürwortung der Maßnahmen „das Risiko von Jo-Jo-Shutdowns für Wirtschaft und Gesellschaft zu reduzieren“ (Kempf, Präs. BDI in FAZ.net 2020e).

Die Bewertung der Maßnahmen fiel durch Vertreter stark betroffener Branchen wie dem Einzelhandel oder der Gastronomie erwartungsgemäß deutlich kritischer aus, wenn auch die Notwendigkeit von tiefgreifenden Maßnahmen nicht infrage gestellt wurde. Insgesamt schien es im Sinne einer Lobbying-Strategie das Ziel zu sein, ‚Schlimmeres zu verhindern‘, während die Beschlüsse nach außen ‚resignierend‘ zur Kenntnis genommen wurden. So rückten Forderungen nach umfassenden und schnellen Hilfsmaßnahmen oder technische Aspekte in den Mittelpunkt der Verbandspositionen. Der Handelsverband Deutschland (HDE) konzentrierte sich z. B. auf Detailforderungen wie nach einer Vergrößerung der zulässigen Kundenzahl/Verkaufsfläche oder der genauen Umsetzung der ‚November- und Dezemberhilfen‘ (HDE, 28.10.2020a/b, 05.11.2020, 26.11.2020). Besonders eindrücklich ist die ‚Resignations‘-Strategie jedoch im Fall des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands (DEHOGA) nachzuvollziehen. Dieser war in der unmittelbaren Reaktion auf den erneuten Lockdown dezidiert kritisch und stellte Verhältnismäßigkeit wie Sinnhaftigkeit der Maßnahmen infrage; auch unter Androhung von Klagen (Hartges, Hauptgf. DEHOGA in F.A.Z. 2020a; FAZ.net 2020d). Nach dieser anfänglichen und öffentlichkeitswirksamen ‚Entrüstung‘ fokussierte der Verband jedoch – analog zum HDE – in deutlich konzilianterem Ton auf die schnelle Umsetzung von Hilfsmaßnahmen (F.A.Z. 2020b), „um das Vertrauen von Unternehmern in das gesprochene Wort der Politik“ (Zöllick, Präs. DEHOGA, 03.11.2020) zu erhalten. Insgesamt wurden im November und Dezember durch den DEHOGA nur noch (scheinbare) Rückzugsgefechte geführt und Detailfragen adressiert, als z. B. längere Öffnungsphasen für Hotels, statt kurzer Öffnungen über die Weihnachtsfeiertage gefordert wurden (F.A.Z. 2020c). Hierbei beinhaltete die offensive Reaktion eine Botschaft an die eigenen Mitglieder, während der Verband in Zurückhaltung und Resignation zugleich anschlussfähig für die weitere Interessenabstimmung mit der Bundesregierung blieb – und sich als ‚zuverlässiger Partner‘ eben nicht in die Fundamentalopposition gegen die Maßnahmen begab.Footnote 18

Eine dritte Gruppe von Wirtschaftsverbänden trat deutlich offensiver und teils polemisch gegen die Maßnahmen an. Hier überwog die grundsätzliche Infragestellung des bisherigen Konsenses (Primat des Infektionsschutzes) und der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen. Als Vertreter einer stark betroffenen Branche wird dies für den Bundesverbands der Deutschen Tourismuswirtschaft (BTW) deutlich, der die Branche auf dem Weg zum „dauerhaften willkürlichen Spielball der Coronapolitik“ (Rabe, Generalsekr. BTW, 25.11.2020) sah. Es wurde sodann eine neue Abwägung, nämlich jene der „Balance zwischen gesundheitlicher Prävention und volkswirtschaftlicher Prosperität“ (Rabe, BTW, 29.10.2020), vorgenommen und die „Sinnhaftigkeit [der Maßnahmen] bei der Bekämpfung der Virusverbreitung“ hinterfragt (Rabe, BTW, 29.10.2020). Kritisiert wurde zudem – und dies unterstreicht den Befund fehlender Abstimmung von Wirtschaftsverbänden und Politik – die mangelnde Einbindung der Wirtschaft in die Planung der Maßnahmen (BTW, 25.11.2020). Noch deutlicher wird die ablehnende Haltung im Fall des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (BVMW). Dieser war bereits seit August 2020 offensiv gegen die Regierungspolitik angetreten, u. a. mit einem ‚Brandbrief‘ an die Politik, in dem vor dem „Schreckgespenst eines zweiten Lockdown[s]“ als „Todesstoß“ für viele mittelständische Unternehmen gewarnt, Massenarbeitslosigkeit prognostiziert und „überzogener Infektionsschutz“ kritisiert wurde (BVMW, 25.08.2020). Im Mittelpunkt standen dann ab Herbst Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen und deren politischer („am Bundestag vorbei“) wie rechtlicher („[fraglich ob] im Einklang mit unserer Verfassung“) Legitimation (Ohoven, Präs. BVMW, 29.10.2020).

Insgesamt kann für Oktober bis Dezember 2020 eine zunehmende Distanz zwischen Wirtschaftsverbänden und Bundesregierung konstatiert werden. Diese lässt sich an der Verlagerung der Auseinandersetzung in die Medien, strategischem Lobbying und der inhaltlichen Distanzierung des Gros der Wirtschaftsverbände festmachen. Dem prägenden krisenkorporatistischen Tausch – Einbeziehung und Berücksichtigung der Verbandsforderungen gegen öffentliche Unterstützung und Implementation der Hygieneschutzmaßnahmen – wurde in dieser Phase zumindest in Teilen die Grundlage entzogen – der Krisenkorporatismus pausierte.

4.3.2 Gute Vorsätze?

Allerdings folgte mit Beginn des Jahres 2021 der verbands- wie regierungsseitige Versuch, korporatistische Handlungskoordination wiederzubeleben. Der ‚Wirtschaftsgipfel‘ von Bundeswirtschaftsminister Altmaier mit rund 40 WirtschaftsverbändenFootnote 19 (BMWE 2021) markiert hier eine wichtige Schlüsselsituation.

Im Vorfeld des Gipfels verschärfte sich jedoch zunächst die Kritik der Verbände. Es wurden einhellig Lockerungen und ein „Wiederöffnungsplan“ (FamUnt, 08.02.2021) sowie klare, strategische und regelbasierte Entscheidungen über ökonomische Einschränkungen mit bundesweiter Gültigkeit gefordert (FAZ.net 2021a; F.A.Z. 33,34,a, b). Auch bisherige Befürworter der Maßnahmen wurden deutlicher in ihrer Kritik. Anschaulich lässt sich dieser (graduelle) Wandel in den Positionen am ZDH nachvollziehen, der noch Ende 2020 zu den wenigen expliziten Unterstützern der Maßnahmen zählte – und Infektionsschutz „immer auch [als] Betriebe-Schutz“ verstand (s. oben). Nun ging es dem ZDH hingegen um einen „transparenten und regelbasierten Öffnungsplan[.]“, der „nicht einseitig den Infektionsschutz in den Blick nimmt, sondern […] zwingend auch den Betriebe- und Wirtschaftsschutz“ (Wollseifer, Präs. ZDH, 16.02.2021, eig. Hervorh.). Das Primat des Infektionsschutzes (für das ggf. Kompensationen gefordert wurden) wurde damit nicht länger akzeptiert, sondern eine neue Güterabwägung zwischen Gesundheit und wirtschaftlichen Interessen vorgenommen. Die bisherigen Kritiker formulierten zugespitzter: So sprach der HDE nach einer weiteren Verlängerung des Lockdowns von „Wortbruch“ und „Willkür“ (Gent, Geschf. HDE in FAZ.net 2021b), der BVMW vom „Gipfel der Enttäuschungen für den Mittelstand“ (FAZ.net 2021c) und der BTW sah seine Mitgliedsunternehmen als „wirtschaftliche Intensivpatienten dieser Pandemie“, die durch die Politik ‚stigmatisiert‘ würden (Frenzel, Präs. BTW, 16.02.2021).

Auffällig ist aber nicht nur, dass die Positionen deutlich kritischer wurden, sondern dass sich die Wirtschaftsverbände wie in der Frühphase der Krise wieder stärker mit eigenen Konzepten und Vorschlägen zu Wort meldeten. Es erfolgte der verbandsseitige Versuch einer Revitalisierung korporatistischer Handlungskoordination: So unterbreitete z. B. der BDI erneut eigene Vorschläge für eine wirtschaftspolitische Strategie (BDI, 16.02.2021). Die BDA wiederum schlug eine „Konzertierte[.] Aktion von Gewerkschaften und Arbeitgebern“ vor, um die Regierung zu unterstützen (Dulger, Präs. BDA, 16.02.2021). Insgesamt kann also nicht von einem Kooperationsentzug der Wirtschaftsverbände gesprochen werden, sondern vielmehr von artikulierter Unzufriedenheit bei gleichzeitigen Angeboten, an einer Veränderung der Situation – in ihrem Sinne – aktiv mitzuwirken.

Der Wirtschaftsgipfel (16.02.2021) ist als Reaktion der Bundesregierung auf diese artikulierte Unzufriedenheit wie auch auf das Kooperationsangebot zu verstehen. Er brachte jedoch nur wenige konkrete Ergebnisse, abgesehen vom Versprechen einer schnelleren Auszahlung der Hilfsgelder bzw. deren Ausweitung (Süddeutsche.de 2021).Footnote 20 Dementsprechend kritisch fiel die Bewertung der Verbände im Nachlauf des Gipfels aus; sie beklagten weiterhin die fehlende Langfriststrategie und eine langsame und bürokratische Bearbeitung der Wirtschaftshilfen (F.A.Z. 34,35,b, c). Mit Blick auf die Praktiken der Interessenintermediation war der Gipfel an sich jedoch Zeichen eines graduellen Wandels. Dies zeigt sich auch daran, dass die Wirtschaftsverbände zu Vorschlägen für eine (Öffnungs‑)Strategie aufgefordert wurden (FAZ.net 2021d; F.A.Z. 2021c), die das BMWE sodann Anfang März in die Bund-Länder-Abstimmung einbrachte (ZEIT Online 2021). Allerdings bleibt unklar, ob die Vorschläge tatsächlich bei der weiteren Planung der Infektionsschutzmaßnahmen eine Rolle spielten oder im Prozess der Regierungsabstimmung ‚verpufften‘.

5 Konklusion

Zwei Fragen standen im Mittelpunkt unseres Beitrags: Ob und wie artikulieren sich organisierte Wirtschaftsinteressen in der Coronakrise? Nimmt die Interaktion zwischen Regierung und Wirtschaftsverbänden den Charakter eines „Krisenkorporatismus“ (Rehder 2021) an? Wir haben sowohl die Einbindung deutscher Arbeitgeberverbände, Wirtschaftsverbände und -kammern in die Aushandlung der (ökonomischen) Krisenbewältigungsstrategien als auch ihren Beitrag zur Umsetzung der Wirtschaftspolitik im Sinne korporatistischer Handlungskoordination untersucht. Unsere eingehende empirische Validierung bestätigt erste Beobachtungen zum „Krisenkorporatismus“ (Rehder 2021) im von uns fokussierten ersten Jahr der Coronakrise (März 2020–Februar 2021). Der ‚Krisenkorporatismus 2020/21‘ schließt an (bereits zuvor in Veränderung befindlichen) Traditionen korporatistischer Praktiken an. Es zeigt sich also – und wir beziehen uns hier auf den Ausschnitt der benannten Krisensituation – ein hohes Maß an Kontinuität, Stabilität und Pfadabhängigkeit (Pierson 2004). Die untersuchungsleitenden Hypothesen zur pfadabhängigen Revitalisierung korporatistischer Handlungskoordination (H1) und der Einbeziehung der Wirtschaftsverbände als Ressource (H2) werden in diesem Sinn bestätigt. Es sind insbesondere große und ressourcenstarke Verbände, die kontinuierlich in die Krisenbewältigung einbezogen wurden und werden. Die Interaktion zwischen Staat und Verbänden orientiert sich pfadabhängig an etablierten und eingespielten Kooperationsformen. Wirtschaftsgipfel und Verbändegespräche binden solche Akteure ein, die bereits vorher wesentliche Ansprechpartner der Regierung waren, bestehende Formate werden genutzt, um die Krisenpolitik abzustimmen. Es zeigen sich jedoch auch Besonderheiten: Die Staat-Verbände-Interaktion ist – im Gegensatz zur klassischen korporatistischen Konzertierung – durch die auch öffentlich nachvollziehbare Abstimmung mit einem großen Teilnehmerfeld gekennzeichnet. Gründe für diese Öffentlichkeit wie für die ‚Pluralität‘ des krisenkorporatistischen Arrangements sehen wir in der Beschaffenheit der Coronakrise als umfassende ökonomische wie gesellschaftliche Problemstellung einerseits und der inhaltlich spezifischen sowie in ihrem Ausmaß differenten Betroffenheit einzelner Wirtschaftsbereiche andererseits. Allerdings ist der Krisenkorporatismus in 2020/21 durch ausgeprägte Konjunkturen gekennzeichnet: Es ist vor allem die erste Phase der akuten Krisenbewältigung, in der organisierte Wirtschaftsinteressen eng in die wirtschaftspolitische Bewältigung der Krise eingebunden sind. Ihre Aktivierung als Ressource – sei es durch die umfassende Information der Mitgliedsunternehmen oder die Bereitstellung von Dienstleistungen zur Bewältigung der Krise – wird gegen die Berücksichtigung ihrer Vorschläge bei der Ausgestaltung wirtschaftspolitischer Maßnahmen ‚getauscht‘. Im weiteren Verlauf, insbesondere im Herbst 2020, zeigt sich jedoch, dass die Kooperationsbereitschaft organisierter Interessen – ganz im Sinne der korporatistischen ‚Tauschlogik‘ (Lehmbruch 1978, 1983) – immer auch von ihrer kontinuierlichen Einbindung und der Berücksichtigung ihrer Forderungen abhängt; letzten Endes sind Wirtschaftsverbände wie -kammern Interessenvertreterinnen und Repräsentantinnen der (sie finanzierenden und unterstützenden) Mitgliedsunternehmen. Auffällig ist hier, dass es im Kontinuum von Unterstützung bis Ablehnung der politischen Maßnahmen eine nennenswerte Zahl von Verbänden gibt, die sich ‚resignierend‘ nur noch technischen Details und Kompensationsfragen widmen, ohne substantielle eigene Vorschläge einzubringen. Wir sehen hierin eine dezidierte Strategie, um abseits der öffentlichen Diskussion – und damit für uns hier nicht einsehbar – weiterhin einbezogen zu werden. Dies ändert sich Anfang 2021 mit Vorschlägen für konkrete ‚Öffnungsstrategien‘. Hier deutet der Versuch von Politik wie von Verbänden, eine Revitalisierung enger Abstimmung und der Einbindung der Wirtschaftsverbände zu erreichen, wiederum auf die Persistenz korporatistischer Praktiken hin. Wir kommen daher zu dem Ergebnis, dass die Zwischenphase der merklichen Distanzierung der organisierten Interessen von der Politik der Bundesregierung keiner grundlegenden Abkehr vom Krisenkorporatismus geschuldet ist.

Zeichen der graduellen Veränderung zeigen sich damit nur am Rande. Veränderungen finden sich, wie am Beispiel der Automobilindustrie aufgezeigt wurde, vor allem auf inhaltlicher Ebene und in der Frage, wie Ergebnisse korporatistischer Politikverhandlung öffentlich kommuniziert werden. Es geht hier keineswegs um einen fundamentalen Wandel korporatistischer Praktiken, sondern um leichte Anpassungen – im Fall der Automobilindustrie sprechen wir von einem ‚Korporatismus ohne Verbrennungsmotor‘ (Sack et al. 2021) Beobachtungen in der fachwissenschaftlichen Debatte (von Winter und Willems 2007; Rehder und van Elten 2019), dass es anhaltende und tiefgreifende Veränderungen des Korporatismus insgesamt gibt, lassen sich für das Krisenjahr 2020/21 nicht bestätigen. Anders ausgedrückt: Krise revitalisiert Korporatismus. Als reproduktive Mechanismen der pfadabhängigen Interaktionsmuster (Pierson 2004) lassen sich einerseits der Ressourcentausch zwischen Wirtschaftsverbänden und Regierung und anderseits die bestehenden formellen Netzwerke identifizieren.

Unsere Ergebnisse können somit als Ausgangspunkt einer weiterführenden fachwissenschaftlichen Debatte dienen. Dahingehend steht die Interessengruppenforschung, sowohl mit dem Blick nach vorne als auch zurück in die Geschichte der unterschiedlichen „Konjunkturen des Korporatismus“ (Czada 1994), vor der Aufgabe, die beschriebenen krisensituativen Interaktionen zwischen Staat und Verbänden weiter empirisch zu prüfen und konzeptionell zu diskutieren.