Allgemeinmedizinische Institute bzw. Abteilungen waren in der GBA-Ausschreibung 2021/2022 sehr erfolgreich bei der Einwerbung von Fördermitteln des Innovationsausschusses: fünf Autorengruppen haben die (Weiter‑)Entwicklung einer DEGAM-Leitlinie beantragt und gefördert bekommen.

Hintergrund

Medizinische Leitlinien (LL) sind ein wichtiges Instrument der Qualitätsförderung in der medizinischen Versorgung. Sie unterstützen evidenz- und/oder konsensbasiert das Handeln von Ärzt:innen, aber auch anderen Berufsgruppen, indem aktuelle Evidenz aufbereitet und in Form von Empfehlungen versorgungsnah zusammengefasst wird. Sie stellen so eine wertvolle Verbindung zwischen universitärer Forschung und Versorgungspraxis dar [1]. Darüber hinaus stellen LL auch wesentliche aktuelle Evidenz für die Wissensvermittlung in Lehre, Weiter- und Fortbildung bereit. Für die Forschung liefern LL die zusammengefasste Evidenz, nicht selten werden LL-Empfehlungen auch als „Care-as-usual“-Referenzen in Forschungsvorhaben genutzt.

Die Erstellung von LL erfolgt systematisch und strukturiert und muss den Vorgaben der AWMF folgen, um eine hohe methodische und inhaltliche Qualität der LL zu sichern. Schließlich werden Empfehlungen für die Versorgung gegeben, die Einfluss auf Patientengesundheit und -sicherheit nehmen können. Entsprechend des jeweiligen LL-Niveaus (S1, S2e, S2k, S3) ist bei der Erstellung der Einbezug der an den jeweiligen Versorgungsprozessen beteiligten weiteren Fachdisziplinen und Patientenvertretungen wichtig und notwendig [2].

Auch in der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) werden durch engagierte Hausärzt:innen und Wissenschaftler:innen seit mehr als 20 Jahren fachspezifische LL erstellt, die Handlungsempfehlungen für häufige Beratungsanlässe in der hausärztlichen Versorgung beinhalten [3]. Die Erstellung von DEGAM-LL sowie die Mitarbeit an interdisziplinären LL erfolgen überwiegend ehrenamtlich und werden durch die SLQ-Geschäftsstelle und die Leitlinienentwicklungsstelle gemanagt und methodisch beraten. Aktuell (Stand 12/2022) gibt es 30 DEGAM-LL, darüber hinaus 71 LL anderer Fachgesellschaften, bei denen die DEGAM mit der Entsendung von Mandatstragenden beteiligt ist. Im Durchschnitt erarbeiten etwa 3–4 Autor:innen eine DEGAM-LL und werden von etwa 3–4 Pat:innen pro LL begleitet, die den Autorenteams beratend zur Seite stehen, um Textentwürfe zu reviewen und LL-Empfehlungen auf Praxistauglichkeit zu prüfen. Nicht selten sind Autor:innen und Pat:innen in mehreren LL aktiv, teilweise ergänzt durch Mandatsträgerrollen (für externe LL). Der Reiz, neueste Forschungsergebnisse zu bewerten und für hausärztliches Handeln zu „übersetzen“ oder sich von neuen Erkenntnissen überraschen zu lassen, könnten genauso Motivationen sein, wie der altruistische Ansatz, die hausärztliche Patientenversorgung zu verbessern. Auch die Möglichkeit der Anerkennung publizierter LL im Rahmen von Qualifizierungsarbeiten (z. B. Promotionen, Habilitationen) kann motivierend sein [4]. Unabhängig von den Motiven sei an dieser Stelle allen an der LL-Entwicklung beteiligten Personen für ihren großartigen Einsatz gedankt.

Die Finanzierung der Leitlinienarbeit ist von einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft, die sich v. a. über Mitgliederbeiträge finanziert, nur sehr begrenzt leistbar. Autorengruppen sind daher – neben dem Einsatz ehrenamtlicher Ressourcen – auf öffentliche Förderausschreibungen angewiesen, die bisher nur selten die Förderung von Leitlinienentwicklungen thematisierten. Nur wenigen DEGAM-LL-Autor:innen gelang bisher die Einwerbung von öffentlichen Fördergeldern zur Unterstützung der kompletten LL-Arbeit. Der Innovationsausschuss des G‑BA hat seit 2020 3 Ausschreibungen im Themenfeld „Versorgungsforschung – Medizinische Leitlinien“ aufgelegt, gegenwärtig fördert der G‑BA in diesem Förderprogramm insgesamt die (Weiter‑)Entwicklung 24 medizinischer Leitlinien [5].

In der 2. Ausschreibungsrunde des G‑BA zur Förderung medizinischer Leitlinien im Jahr 2021 haben 5 Autorenteams der DEGAM Anträge geschrieben, um sich für eine Finanzierung für die:

  1. a)

    Förderung einer neuen LL,

  2. b)

    Förderung des Updates (Aktualisierung) einer bestehenden LL oder

  3. c)

    Förderung des Updates und gleichzeitigen Upgrades einer LL in ein höheres LL-Niveau sowie die Aktualisierung einer LL als „living guideline“ [6]

zu bewerben. Alle 5 LL-Vorhaben erhielten vom G‑BA eine Förderzusage. In diesem Artikel werden die GBA-geförderten LL-Projekte vorgestellt, indem Vorhaben, Motivationen und Ziele durch Leitlinienautor:innen kurz beschrieben werden.

Überblick über die im Jahr 2022 vom G-BA geförderte DEGAM-Leitlinien

a) Entwicklung einer neuen DEGAM-Leitlinie

S3-Leitlinie Schilddrüsenknoten bei Erwachsenen in der hausärztlichen Versorgung (LeiSE)

Leitlinienautorenteam: Karen Voigt, Jean-François Chenot, Felix Kannapin, Simone Kiel, Martin Kramer, Thomas Kühlein, Caroline Tengelmann, Til Uebel, Lisette Warkentin, Felix Werner, Jeannine Schübel.

Die Prävalenz von Schilddrüsenknoten (SDK) in der deutschen Bevölkerung ist hoch und steigt seit Jahren. Aktuelle Analysen (populationsbezogene SHIP-Studie in Mecklenburg-Vorpommern) belegen, dass knapp bei der Hälfte der erwachsenen Studienpopulation (47,5 %) mindestens ein SDK sonographisch gefunden werden kann [7]. Die Prävalenz steigt mit zunehmendem Alter auf bis zu 76 % bei ≥61-Jährigen, wenn man mit hochauflösendem Ultraschall danach sucht [8]. Die diagnostische Herausforderung ist deshalb nicht die Entdeckung von SDK, sondern die Identifikation behandlungsbedürftiger SDK. Dabei finden 2 abwendbare gefährliche Verläufe Beachtung: ein Schilddrüsenmalignom und das Vorliegen einer Schilddrüsenautonomie. Symptomatische SDK können durch Heiserkeit, Schluckstörungen, Luftnot, bei Hyperthyreose auch Tachykardie, Zittern, Schweißausbrüche klinisch auffällig werden. Die meisten SDK-Befunde sind jedoch asymptomatisch und gesundheitlich unbedenklich. Bösartige Erkrankungen der Schilddrüse sind sehr selten (2016: Frauen 12,7/100.000 Einwohner vs. Männer 6,2/100.000 Einwohner), die Inzidenzraten sinken mit steigendem Alter [9]. Bei diesen bösartigen SDK handelt es sich weit überwiegend um kleine papillare Karzinome, die selten bedrohlichen Charakter haben [10]. Die Sterberaten in Deutschland sind bei beiden Geschlechtern gesunken. Insgesamt hat Schilddrüsenkrebs eine günstige Prognose. Am Beispiel Südkoreas, das im Rahmen des 1999 eingeführten nationalen Krebsscreeningprogramms u. a. auch verstärkt Schilddrüsensonographien durchführte, zeigte sich bereits, dass ein „Mehr“ an Diagnostik zwar zu steigenden Inzidenzen und in der Konsequenz steigenden Behandlungsraten (Operationen) mit Nebenwirkungsrisiken führte, dies jedoch keinen Einfluss auf die Mortalität nahm [11].

Aktuell liegen keine gültigen Leitlinien zur Prävention, Diagnostik oder Therapie von Schilddrüsenknoten für den deutschsprachigen Raum vor. Die durch verbesserte Technik zunehmende, oftmals zufällige Detektion von Schilddrüsenknoten durch Ärzt:innen unterschiedlicher Fachrichtungen führt zu vermehrten hausärztlichen Beratungsbedarfen. Die neu zu entwickelnde Leitlinie wird Empfehlungen zu präventiven, diagnostischen und therapeutischen Versorgungsfragen im hausärztlichen Setting formulieren und Schnittstellen zur Weiterbehandlung in anderen Fachbereichen aufzeigen.

Zur Entwicklung handlungsleitender Empfehlungen erfolgen systematische, teilweise orientierende Literaturrecherchen. Die Empfehlungen werden im nominalen Konsensprozess mit acht Fachgesellschaften (Deutsche Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V., Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin e. V., Deutsche Röntgengesellschaft e. V., Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie e. V., Deutsche Gesellschaft für Chirurgie e. V., Deutsche Gesellschaft für Nuklearmedizin e. V., Deutsche Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin e. V., Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V.) und Patientenvertreter:innen des Bundesverbands Schilddrüsenkrebs – Ohne Schilddrüse leben e. V. abgestimmt. Zusätzlich werden vom Autorenteam Qualitätsindikatoren recherchiert und für das deutsche Versorgungssystem angepasst oder entwickelt. Die Leitlinienentwicklung wird von DEGAM-nominierten Paten begleitet (G. Egidi, M. Becker, M. Philipp, C. Allerlei, H.-J. Hellmuth). Die finale Version der LL soll bis Ende März 2025 publiziert sein. Die Entwicklung einer begleitenden laienverständlichen Patienteninformation wird von der „Was hab ich?“ gGmbH (Dresden, Deutschland) und dem Bürgerforum des Instituts für Allgemeinmedizin Würzburg beraten.

(Autorin: KV)

b) Update (Aktualisierung) bestehender DEGAM-Leitlinien

Update der S3-Leitlinie Nicht-dialysepflichtige chronische Nierenerkrankung (CKD) in der Hausarztpraxis (CKD-up)

Leitlinienautorenteam: Jean-Francois Chenot, Martha Negnal, Simone Kiel, Leonard Mathias, Elizabeth Sierocinski, Sylvia Stracke.

In Deutschland haben etwa 27 % der Patient:innen in Hausarztpraxen und bis zu 50 % der Bewohner:innen in Pflegeheimen eine eingeschränkte Nierenfunktion oder eine chronische Nierenerkrankung („chronic kidney disease“, CKD). Ziel der 2019 erstmals in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie (DGfN) veröffentlichten S3-Leitlinie ist es, risikoadaptierte Empfehlungen zu Früherkennung, Diagnose, Therapie, Überweisungen und Monitoring zu geben, um das Fortschreiten von CKD-Erkrankungen weiter zu verlangsamen und Komplikationen vorzubeugen [12]. Seit dem Erscheinen der S3-Leitlinie sind neue Therapieansätze, wie z. B. SGLT2-Hemmer [13] und nichtsteroidale Mineralokortikoidrezeptorantagonisten (Finerenon), verfügbar geworden, zu denen Empfehlungen erstellt werden müssen. Es sind Studien zum mangelnden Nutzen einer Harnsäuresenkung bei CKD veröffentlicht worden, sodass hier eine klare Empfehlung gegeben werden kann. Mit der sog. Kidney Failure Risk Equation (KFRE, [24]), die inzwischen mehrfach validiert werden konnte, steht nun auch ein besseres Risikovorhersagemodel für eine Progression zu terminalen Nierenerkrankungen zur Verfügung [14]. Die etwas anderen Impfempfehlungen für Menschen mit CKD sollen neu integriert werden. Es sind kurze Videos für Patient:innen und Ärzt:innen geplant.

Beim Update der Leitlinie werden nun auch die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie und die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin teilnehmen. Für die Patient:innen wird der Bundesverband Niere teilnehmen. Die Aktualisierung wird methodisch über ein Online-Delphi-Verfahren und 2 Präsenzkonferenzen durchgeführt. Für einzelne Empfehlungen wird eine systematische Literatursuche durchgeführt werden. Das Update soll 2024 abgeschlossen sein.

(Autor: JFC)

Update der S3-Leitlinie Hausärztliche Risikoberatung zur kardiovaskulären Prävention (LLKVP)

Leitlinienautorenteam: Jörg Haasenritter, Uwe Popert, Erika Baum, Norbert Donner-Banzhoff, Günther Egidi, Antje Miksch, Joachim Fessler, Aniela Angelow.

Herz-Kreislauf-Erkrankungen stellen weiterhin die häufigsten Todesursachen in Deutschland dar [15]. Die Hausarztpraxis ist wegen ihres niedrigschwelligen Zugangs und der regelmäßigen Inanspruchnahme durch alle Bevölkerungsgruppen der maßgebliche Ort für eine Beratung zur kardiovaskulären Prävention vor Eintritt einer entsprechenden Erkrankung (Primärprävention). Zielgruppe der Leitlinie sind erwachsene Personen, die in diesem Sinne auf hausärztlicher Versorgungsebene beraten bzw. behandelt werden. Primäres Ziel der Leitlinie ist, Patient:innen und Ärzt:innen bei der gemeinsamen Entscheidungsfindung zu unterstützen. Zu den in dieser Entscheidungssituation grundsätzlich infrage kommenden Handlungsoptionen zählen neben „nichts ändern“ sowohl medikamentöse Therapien als auch Lebensstiländerungen. Alle haben ein eigenes Nutzen-Schaden-Profil, das in Abhängigkeit von Gesamtrisiko, Geschlecht, Alter und Lebensumständen variiert. Ärzt:innen und Patient:innen benötigen also valide Aussagen und Empfehlungen zum möglichen Nutzen und Schaden der einzelnen Handlungsoptionen, die die Komplexität der Entscheidungsfindung berücksichtigen. Die besonderen Belange von Menschen mit Diabetes mellitus wurden bereits in der bisherigen Version der Leitlinie berücksichtigt. Auf Basis eines systematischen Leitlinienreviews sowie weiterführender Evidenzrecherchen werden in der neuen Version zudem nach Möglichkeit auch Besonderheiten bei Menschen mit 2 oder mehr chronischen Krankheiten, solchen mit Migrationshintergrund und Menschen unterschiedlicher Altersgruppen berücksichtigt. Am Konsensverfahren beteiligen sich 14 medizinische Fachgesellschaften. Darüber hinaus wird ein Panel von bis zu 10 praktisch tätigen Hausärzt:innen in den Erstellungsprozess der Leitlinie eingebunden (Auswahl und Priorisierung der Schlüsselfragen, Einschätzung der Verständlichkeit, der klinisch-praktischen Relevanz und der Umsetzbarkeit der Empfehlungen im Alltag, Vorschläge zur Implementierung). Die Einbeziehung des Praxispanels stellt eine Variante des bei der Erstellung von DEGAM-Leitlinien üblichen Praxistests dar. Die Perspektive der Betroffenen wird durch Vertreter:innen einer Patientenorganisation, aber auch durch ein separates Patientenpanel berücksichtigt.

Inhaltlich zeichnet sich im Vorfeld bereits eine konkrete Änderung ab. So empfiehlt die alte Version der Leitlinie in der Primärprävention die Gabe von ASS bei einem kardiovaskulären Gesamtrisiko >20 %. Verschiedene Studien weisen nun darauf hin, dass die Schaden-Nutzen-Bilanz gegen eine solche Empfehlung spricht [16]. Zu anderen Fragestellungen deuten sich zum Teil neue, zum Teil aber auch altbekannte Diskussionen an: Stellenwert des Diabetes/HBA1c für die Risikoprädiktion bei älteren Menschen; der Stellenwert von Metformin, Statine (Hochdosis- bzw. Zielwertstrategien), Einsatz anderer Lipidsenker wie Ezetimib oder gar PCSK-9-Antikörper. Das Update der Leitlinie soll bis Mitte 2024 vorliegen.

(Autor: JH)

c) Update und Upgrade einer DEGAM-Leitlinie sowie Aktualisierung als „living guideline“

Interprofessionelles, digitales Upgrade der DEGAM-S1-Handlungsempfehlungen Nackenschmerzen auf S3-Niveau (IdUNa)

Leitlinienautor: Thomas Kötter.

In Deutschland geben 46 % der Menschen an, in den letzten 12 Monaten an Nackenschmerzen gelitten zu haben [17]; in Hausarztpraxen ist dies der dritthäufigste Beratungsanlass [18]. Um Betroffenen helfen zu können, bedarf es einer engen Abstimmung zwischen Hausärzt:innen sowie Fachleuten aus weiteren Gesundheitsfachberufen, v. a. Physiotherapeut:innen. Physiotherapie ist bei anhaltenden nichtspezifischen Nackenschmerzen oft das Mittel der Wahl und wird in vorliegenden Leitlinien empfohlen.

Im Projekt IdUNa sollen bestehende S1-Handlungsempfehlungen zu einer evidenz- und konsensbasierten S3-Leitlinie weiterentwickelt und damit ein Beitrag zu einer verbesserten interdisziplinären und interprofessionellen Versorgung von Patient:innen mit Nackenschmerzen geleistet werden. Ein Schwerpunkt dabei ist die Recherche der aktuellen Evidenz zum Thema Physiotherapie bei Nackenschmerzen. Die Entwicklung und Publikation der S3-Leitlinie sowie die Verbreitung der Projektergebnisse, ihre Umsetzung und Evaluation erfolgen auf digitalem Weg. Gleiches gilt für künftige Aktualisierungen bis hin zu einer Konversion der Leitlinie hin zu einer „living guideline“. Die Leitlinien wird in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Physiotherapiewissenschaft entwickelt und methodisch von der Sektion Leitlinien und Qualitätsförderung der DEGAM begleitet. Als Plattform für die Entwicklung und Publikation der Leitlinie kommt die MAGICapp [25] zum Einsatz. Nach einer umfassenden Literaturrecherche werden aus den Evidenztabellen zu jeder Schlüsselfrage Empfehlungen formuliert. Am Konsensverfahren beteiligen sich 3 medizinische Fachgesellschaften (Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie, Deutsche Gesellschaft für Neurologie/Deutsche Medizinische Gesellschaft für Paraplegiologie, Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie) sowie die Unabhängige Vereinigung aktiver Schmerzpatienten in Deutschland.

Die Entwurfsform der Leitlinie wird durch Patient:innen, Hausarzt- und Physiotherapiepraxen Praxistests unterzogen (Durchführung: Bereich Allgemeinmedizin, Technische Universität Dresden). Die Ergebnisse werden der Leitlinienarbeitsgruppe zurückgemeldet und abschließend in die Formulierung der finalen S3-Leitlinie Nackenschmerzen einfließen. Als weitere Bausteine werden Patienteninformationen und Qualitätsindikatoren mitentwickelt, es werden „Gemeinsam-klug-entscheiden“-Empfehlungen und Lernziele für den Gegenstandskatalog des Instituts für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen formuliert. Der Entwicklungsprozess wird durch ein Advisory Board (Leitlinien-Pat:innen: A. Becker, J.‑F. Chenot und Vertreter:innen von Berufsverbänden: C. C. Büttner, J. Husemann) begleitet.

Die aktualisierte Leitlinie wird zu einer evidenzbasierten Versorgung von Nackenschmerzpatient:innen beitragen und Überdiagnostik und -therapie vermeiden helfen. Durch eine effektive Versorgung werden Wartezeiten reduziert und das Risiko einer Chronifizierung der Schmerzen gesenkt.

(Autor: TK)

Aktualisierung und Umwandlung der S3-Leitlinie Multimorbidität in eine „living guideline“ (MULTImprove)

Leitlinienautorenteam: Martin Scherer, Dagmar Lühmann, Heike Hansen, Ingmar Schäfer, Cathleen Muche-Borowski.

Die Versorgung von Menschen, die an mehreren chronischen Erkrankungen gleichzeitig leiden (= Multimorbidität), nach krankheitsspezifischen Leitlinien kann – bedingt durch Polypharmazie sowie inkompatible oder widersprüchliche Behandlungsempfehlungen – zu einer gesundheitlichen Gefährdung führen [19]. Zudem bedeutet die Vielzahl von Therapie- und Verhaltensanweisungen eine erhebliche Belastung für diese Patientengruppe [20, 21]. Ohne klare Zuständigkeiten hinsichtlich der Koordination der Behandlungen durch unterschiedliche Leistungserbringer:innen kann es zu Überversorgung kommen und es besteht die Gefahr, dass Wünsche und Wertvorstellungen der Behandlungssuchenden aus dem Fokus geraten. Die Leitlinie „Multimorbidität“ soll das Setzen von Prioritäten unterstützen, indem unter Berücksichtigung der Heterogenität von Multimorbidität evidenzbasierte und konsensbasierte Empfehlungen für die Patientenversorgung gegeben werden.

Kernstück der Leitlinie ist ein sog. Metaalgorithmus, der eine Strukturierungs- und Orientierungshilfe für die Konsultation bietet [22]. Durch eine kontinuierliche Arzt-Patient-Beziehung und ein belastbares Vertrauensverhältnis wird es erleichtert, Patientenpräferenzen und -wünsche in den Mittelpunkt der Behandlung zu stellen und gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Handlungsempfehlungen zum Management von Multimorbidität werden evidenzbasiert auf der Ebene der Betroffenen, der Versorgenden und der Kommunikation erarbeitet. Neu aufgenommen in die Leitlinie werden Ausführungen zu klimatischen Aspekten (z. B. klimasensible Gesundheitsberatung) und die Ableitung von Qualitätsindikatoren. Die bereits vorhandene „toolbox“, eine Sammlung von Instrumenten und Werkzeugen (z. B. Listen zu inadäquaten Medikamenten im Alter), wird kontinuierlich aktuell gehalten.

In der 2017 publizierten Leitlinie waren neben der federführenden DEGAM noch die Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG), die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) und die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG; [23]) beteiligt. Als „living guideline“ wird die Leitlinie mit insgesamt 15 weiteren Fachgesellschaften und anderen Organisationen aktualisiert. Die Patientenperspektive bringen 2 Vertreterinnen der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen (BAG SELBSTHILFE e. V.) ein. Die Methodik folgt der Erstellung einer S3-Leitlinie mit systematischer Evidenzaufbereitung für einzelne Empfehlungen und strukturierter Konsensfindung mit allen beteiligten Fachgesellschaften/Organisationen. Die Besonderheit der „living guideline“ besteht darin, dass innerhalb des Förderzeitraums von 3 Jahren jährlich eine aktualisierte Leitlinienversion publiziert wird. Das erste Update wird 2023 abgeschlossen sein.

(Autorin: CMB)

Diskussion und Ausblick

Es ist als Erfolg für die einzelnen Antragstellerteams, aber auch für die DEGAM zu werten, dass 5 der 5 antragstellenden Autorenteams in der 2021er-G-BA-Ausschreibung „Versorgungsforschung – Medizinische Leitlinien“ eine Förderzusage erhielten. Die meisten dieser geförderten LL wären aus Ressourcengründen sonst gar nicht oder nicht in diesem Ausmaß umgesetzt worden. Alle 5 LL-Vorhaben thematisieren Themen, die von hoher hausärztlicher Relevanz sind. Gleichwohl wird auch in diese Projekte ein nicht unbedeutendes Maß von Ehrenamtlichkeit eingebracht werden. Für die wertvolle und zeitintensive Unterstützung durch Pat:innen, Mandatstragende der Fachgesellschaften und Patientenvertretungen wurde im Rahmen der G‑BA-Förderung keine Aufwandsentschädigungen übernommen.

Die G‑BA-Förderung bedeutet für die geförderten Leitliniengruppen Personalressourcen, um die zeitintensive wissenschaftliche Basisarbeit finanzieren zu können und zusätzliche Aufgabenpakete, wie Implementierungstools oder die Entwicklung von Qualitätsindikatoren, zu ergänzen. Die G‑BA-Förderung unterstützt zudem auch die mittelfristige Nachwuchsgewinnung von jüngeren Leitlinienentwickler:innen, insbesondere aus dem akademischen Mittelbau. Inwiefern diese Nachwuchsförderung nachhaltig ist, wird sich in der Zukunft erweisen. Gleichwohl bedeutet eine öffentliche Förderung natürlich immer auch, den Vorgaben des Förderers zu entsprechen, d. h., den im Antrag entwickelten engen Zeit‑, Ressourcen‑, Meilensteinplan umzusetzen, da sonst ggf. die Rückgabe der Fördergelder drohen kann.

Auch 2022 erfolgte eine Ausschreibungsrunde, an der sich DEGAM-Vertreter:innen als Konsortial- oder Kooperationspartner bei insgesamt 9 Leitlinienvorhaben beteiligten, die von anderen Fachgesellschaften beantragt wurden. Voraussichtlich wird es im Sommer 2023 eine erneute G‑BA-Ausschreibung zur Förderung medizinischer Leitlinien geben. Die LL-Motivierten sind aufgerufen, Leitlinienideen zu (häufigen) hausärztlichen Beratungsanlässen als Antragsthemen zu entwickeln. Bei Beratungsbedarf oder Interesse an LL-Mitarbeit kann gern die SLQ-Geschäftsstelle (leitlinien@degam.de) kontaktiert werden.

Take Home Messages

  • Die Entwicklung von DEGAM-Leitlinien und Leitlinien mit DEGAM-Beteiligung ist wichtig, um Empfehlungen für die medizinische Versorgung auf aktueller Wissensbasis anzubieten und damit eine hochwertige hausärztliche Versorgungsqualität sicherzustellen.

  • Die Entwicklung von Leitlinien ist ressourcenintensiv, es braucht engagierte Ärzt:innen und Wissenschaftler:innen.

  • Öffentliche Förderungen von Leitlinien erweitern nicht nur das Leitlinienportfolio der DEGAM, sondern können auch einen Beitrag zur Nachwuchsgewinnung für die Leitlinienentwicklung leisten.