1 Einleitung

Schon seit der Antike sind naturwissenschaftliche und technische Forschung und Kriegsführung eng miteinander vernetzt. So entwickelten bereits Archimedes (287–212 v. Chr.), Leonardo da Vinci (1452–1519) und Isaac Newton (1643–1727) Gerätschaften für eine militärische Nutzung (Altmann et al. 2011, S. 411). Wesentlich später, nachdem zum ersten Mal Telefon und Funk auf den Schlachtfeldern des industrialisierten Krieges verwendet wurden, sind die Erkenntnisse aus Naturwissenschaft und Technik für die Kriegsführung, aber eben auch für eine Kriegsprävention zunehmend wichtiger geworden. Neben Disziplinen wie Physik und Chemie spielen Bereiche der Informatik, wie IT-Sicherheit, Künstliche Intelligenz (KI), Robotik und Mensch-Computer-Interaktion, eine immer größer werdende Rolle.

Zur Diskussion aktueller Trends und Herausforderungen der naturwissenschaftlich-technischen Friedens- und Sicherheitsforschung fand die interdisziplinäre Konferenz SCIENCE·PEACE·SECURITY vom 25. bis 27.09.2019 in Darmstadt statt (Reuter et al. 2019). Dort diskutierten 100 Wissenschaftler*innen aus dem In- und Ausland interdisziplinäre Herausforderungen und Lösungsansätze zu Fragen der internationalen Sicherheit, sowie zu transparenz- und vertrauensbildenden Maßnahmen der Rüstungskontrolle und des Konfliktmanagements.

Dieser Artikel soll erläutern, was naturwissenschaftlich-technische Friedensforschung ist (Kap. 2), welche aktuellen Fragestellungen in der naturwissenschaftlich-technischen Friedensforschung behandelt werden (Kap. 3) und was nötig ist, um die Forschung für die aktuellen und entstehenden Herausforderungen angemessen aufzustellen (Kap. 4). Dabei wird explizit auf die aktuellen Empfehlungen des deutschen Wissenschaftsrats zur weiteren Förderung der naturwissenschaftlich-technischen Friedensforschung eingegangen.

2 Was ist naturwissenschaftlich-technische Friedensforschung?

Die naturwissenschaftlich-technische Friedensforschung (Reuter et al. 2020) kam mit der Entwicklung und Verbreitung von Atomwaffen im beginnenden Ost-West-Konflikt Ende der 1940er Jahre auf (Altmann et al. 2011). Getrieben durch die Sorge, dass vor allem die USA und die ehemalige Sowjetunion die Fähigkeit entwickelt hatten, Atomwaffen jederzeit und in großer Zahl in einem zukünftigen Krieg einzusetzen, wurden naturwissenschaftlich-technische Innovationen strategisch und auf höchster Ebene politikrelevant.

Im interdisziplinären Feld der Friedens- und Konfliktforschung spielt die Technologie auf der Grundlage von Erkenntnissen aus verschiedenen Naturwissenschaften und technischen Fachrichtungen (z. B. Physik, Chemie, Biologie, Informatik) eine Schlüsselrolle für verschiedene Formen der Konfliktlösung. Naturwissenschaftlich-technische Friedensforschung ist ein Forschungsfeld, welches sich mit der Rolle naturwissenschaftlicher und technischer Möglichkeiten im Kontext von Krieg und Frieden sowie Bewaffnung und Abrüstung befasst. Sie unterstützt die politischen Prozesse der Kriegsprävention, der Abrüstung und der Vertrauensbildung mit Analysen der Eigenschaften und Folgen neuer Waffenarten. Sie untersucht und entwickelt Vorschläge für Begrenzungen sowie technische Lösungen dafür (Altmann et al. 2017). Wissenschaftler*innen, die sich der möglichen negativen Folgen neuer Technologien bewusst sind, forschen u. a. für Verifikation (d. h. die Überprüfung der Einhaltung von Abrüstungsverträgen), die Beschränkung von Innovationen auf friedliche Ziele sowie die proliferationsresistente Gestaltung ziviler Technologien mit Dual-Use-Potenzial (Riebe und Reuter 2019). Diese naturwissenschaftlich-technische Friedensforschung wird im Zusammenspiel mit der politikwissenschaftlichen Friedensforschung zwingend benötigt.

Auf der einen Seite des Spektrums steht die disziplinäre, theoretische und experimentelle Forschung. Diese Forschung ist zu Beginn durch ein politisches Problem motiviert, bearbeitet dann aber über längere Zeit naturwissenschaftlich-technische Fragen und hat einen weniger interdisziplinären Charakter. Auf der anderen Seite des Spektrums steht die Forschung, die sich aktuelleren Fragen widmet und versucht, innerhalb kürzerer Zeiträume für die Politik wichtige Aussagen zu erarbeiten. Bei dieser Forschung ist Interdisziplinarität, insbesondere die Zusammenarbeit mit den Sozialwissenschaften, konstitutiv. Dies hebt der Wissenschaftsrat in seinem Dokument „Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung“ hervor (Wissenschaftsrat 2019a).

Aufbauend auf Ereignisse wie dem „Russell-Einstein-Manifest“ aus dem Jahr 1955 und der „Pugwash-Bewegung“ Ende der 1950er Jahre, welche sich mit Problematiken des Einsatzes von Atomwaffen auseinandersetzten, wurden in den 1960er Jahren wissenschaftliche Forschungsgruppen an renommierten US-amerikanischen Universitäten zu diesen Themen gegründet. In Deutschland richtete Carl Friedrich von Weizsäcker (damals Universität Hamburg) eine Forschungsstelle zu globalen Fragen ein. Er kann damit als Gründervater der naturwissenschaftlich-technischen Friedensforschung in Deutschland gelten. In den 1980er Jahren gründeten sich die ersten kleinen Arbeitsgruppen in Bochum, Darmstadt, Hamburg und Kiel. Seitdem wurden international beachtete wissenschaftliche Kompetenzen aufgebaut. Höhepunkte dieser langjährigen Entwicklung waren die Gründung des Forschungsverbundes Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS) 1996 und die Einrichtung der ersten Stiftungsprofessur im Bereich der naturwissenschaftlichen Friedensforschung 2006 im Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaft und Friedenforschung (ZNF) der Universität Hamburg. Aktuell haben nur Darmstadt und Hamburg Universitätsprofessuren in der naturwissenschaftlich-technischen Friedensforschung. Daneben gibt es eine Juniorprofessur in der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen sowie weitere Positionen in Friedensforschungsinstituten, die meist einen politikwissenschaftlichen Schwerpunkt haben. Dies verdeutlicht, dass die naturwissenschaftlich-technische Friedensforschung bisher deutlich unterrepräsentiert ist. Dabei liefert gerade sie wichtige Erkenntnisse zum Verständnis neuartiger Bedrohungspotenziale durch Technologien und moderne Waffen. Sie hat aber „in den letzten Jahren einen gravierenden Kompetenzverlust erlebt“ (Wissenschaftsrat 2019b, S. 11). Daher braucht es dringend strukturelle Unterstützung bestehender Institutionen, wie auch der Wissenschaftsrat bestätigt. Er empfiehlt Bund und Ländern einen Ausbau der naturwissenschaftlich-technischen Friedens- und Konfliktforschung durch Errichtung weiterer Leitungsstellen (Wissenschaftsrat 2019b, S. 11).

3 Aktuelle Forschung

In den folgenden Absätzen werden exemplarische Forschungsbeispiele im Bereich der naturwissenschaftlich-technischen Friedensforschung vorgestellt mit dem Ziel, ihre unterschiedlichen Ausprägungen deutlich zu machen. Auch soll verdeutlich werden, dass dies wichtige Themen für die zukünftige Forschungsförderung enthalten. Derzeit erhalten sie trotz ihrer akuten Brisanz zu wenig finanzielle und personelle Unterstützung.

3.1 Nukleare Nichtverbreitung und Abrüstung

Die nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung sind in eine schwere Krise geraten. Erneute Rüstungswettläufe haben sich längst angekündigt, und zentrale Rüstungskontrollverträge werden gekündigt oder in Frage gestellt. Auch um die Nichtverbreitung ist es nicht gut bestellt, insbesondere durch den Rückzug der Vereinigten Staaten aus dem Iran-Abkommen und, als Reaktion darauf, das Aussetzen verschiedener Verpflichtungen von iranischer Seite.

Für eine umfassende Betrachtung dieser politischen Krisen sowie die Erarbeitung von Lösungsvorschlägen spielen naturwissenschaftliche und technische Dimensionen eine wichtige Rolle. Zur Analyse von Nuklearprogrammen und deren Entwicklung, vorwiegend im Hinblick auf deren militärisches Potenzial, ist entsprechende Expertise notwendig. Sie ist unabdingbar für die Entwicklung und stetige Verbesserung von Verifikationstechniken und -konzepten, welche für nukleare Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle essentiell sind.

Neben der eigentlichen Forschung können die international hochgradig vernetzten Naturwissenschaftler*innen durch Track-II-Diplomatie (informelle Interaktion zwischen nicht-staatlichen Akteur*innen mit in der Regel guten Kontakten zu den jeweiligen Regierungen) an bedeutender Stelle zur Vertrauensbildung beitragen.Footnote 1 Solche Gruppen können konkrete umsetzbare Initiativen und Vorschläge erarbeiten, wie Fortschritte in der Rüstungskontrolle erreicht werden können. Gleichzeitig tragen sie im Rahmen von Politik- und Öffentlichkeitsberatung dazu bei, aktuelle Entwicklungen aus technischer Perspektive einzuordnen. Die Förderung für einen weiteren Ausbau dieses Forschungssektors wäre somit essentiell.

Gerade im Verifikationsbereich ist weitere Forschung in hohem Maße notwendig. Die Fähigkeit der Internationalen Atomenergieorganisation, nicht deklarierte Anreicherungs- und Wiederaufarbeitungsanlagen zu entdecken, muss mittels neuer Messtechniken und innovativer Ansätze in den Datenwissenschaften verbessert werden. So kann Wiederaufarbeitung vor allem durch atmosphärische Detektion des aus entsprechenden Anlagen emittierten Edelgases Krypton-85 entdeckt werden. Ebenso kann auch das bereits funktionsfähige Verifikationsnetzwerk des nuklearen Teststoppvertrags noch weiter verbessert werden – auch im Bereich der Datenanalyse.

Trotz einiger Fortschritte bleiben viele Fragen offen, beispielsweise wie nukleare Abrüstung verifiziert werden kann (Göttsche 2019). So müssen Messsysteme entwickelt werden, die zur Bestimmung der Echtheit von Sprengköpfen geeignet sind, welche vor ihrer Zerlegung Inspektoren gezeigt werden (Fuller und Carlos 2014). Um irreversible Abrüstung verifizieren zu können, sind Verfahren notwendig, produzierte Spaltmaterialinventare der Kernwaffenstaaten abzuschätzen. Schließlich muss in einer kernwaffenfreien Welt klar sein, dass die Spaltmaterialbilanz „geschlossen“ ist, also alle Spaltmaterialien unter Verifikation gestellt sind. Spieltheoretische Ansätze können hilfreich sein um zu entscheiden, an welchen Stellen Verifikationstätigkeiten besonders intensiv sein können.

3.2 Biologische und chemische Waffen

Neben nuklearen Waffen zählen biologische und chemische Waffen aufgrund ihrer Schadpotenziale zu den Massenvernichtungswaffen. Internationale Verträge wie das Genfer Protokoll von 1925 sowie das Biowaffen- und das Chemiewaffenübereinkommen (BWÜ, CWÜ) begründen das Verbot dieser Waffenkategorien. Die fortschreitende Universalisierung beider Übereinkommen gilt als großer Erfolg in der Rüstungskontrollpolitik. Beide Abkommen sind aber aus unterschiedlichen Gründen unter Druck geraten (Himmel 2018). Aktuelle Ereignisse wie der wiederholte Einsatz von Chemiewaffen im syrischen Bürgerkrieg (2012–2018; Becker-Jakob 2019) sowie die Verwendung von Nervenkampfstoffen für Mordversuche in Malaysia 2017 und Großbritannien 2018 durch vermutlich staatliche Akteure, stellen die Durchsetzung des Chemiewaffenverbots gegenwärtig in Frage (Costanzi und Koblentz 2019). In einer politisch angespannten Atmosphäre ist unter den Vertragsstaaten des CWÜ ein schwerwiegender Vertrauensverlust zu beobachten. Beispielsweise können wichtige Fragen wie die Untersuchung des Einsatzes von Chemiewaffen in Syrien nicht mehr konstruktiv bearbeitet und gelöst werden.

Die politische Lage innerhalb des BWÜ ist gegenwärtig zwar nicht so angespannt wie im CWÜ, jedoch aus anderen Gründen nicht viel besser. So gibt es bis dato keinen vertraglich vereinbarten Verifizierungsmechanismus für diesen essentiellen Rüstungskontrollvertrag (Himmel 2018). Die Bewertung der Vertragstreue einzelner Mitgliedsstaaten stützt sich daher auf unzureichende, oft intransparente Methoden. Wissenschaft und Technologie entwickeln sich gerade in den Lebenswissenschaften sehr schnell. Eine strukturierte Überprüfung von für das BWÜ relevanten Entwicklungen fehlt aber bisher völlig. Vor diesem Hintergrund sind die politischen Fortschritte im BWÜ relativ langsam, und die Vertragsstaaten haben Schwierigkeiten, sich auf notwendige Schritte zur Stärkung des Verbotes biologischer Waffen zu einigen (Klotz 2019).

Die Einführung neuer Produktionskonzepte in einer zunehmend globalisierten chemischen Industrie, Dual-Use-Aspekte neuer gentechnologischer Methoden sowie die Konvergenz von Biologie und Chemie stellen einige der zukünftigen Herausforderungen für die biologische und chemische Rüstungskontrolle dar. Hier kann die naturwissenschaftliche Friedensforschung wesentlich zu einem besseren Verständnis neuartiger Herausforderungen für das BWÜ und CWÜ beitragen:

  • Die Bewertung der Vertragstreue in beiden Übereinkommen kann durch die Nutzung von Open-Source-Informationen verbessert werden. Erforderlich hierzu ist eine unabhängige, naturwissenschaftlich-technische Expertise zur kritischen Analyse von öffentlich zugänglichen Informationen.

  • Bisher etablierte und auch neu entwickelte analytische Methoden zur Identifizierung und Attribuierung biologischer und chemischer Angriffe sind weiter zu optimieren, damit in einer politisch angespannten Lage belastbare Untersuchungsergebnisse generiert werden.

  • Aus Sicht der präventiven Rüstungskontrolle biologischer und chemischer Waffen sind Verfahren für eine verbesserte Risikobewertung neuer Entwicklungen in der Biotechnologie und Chemie erforderlich.

Entsprechende Entwicklungsergebnisse der naturwissenschaftlichen Friedensforschung können so zur institutionellen Stärkung des BWÜ und zu einer verbesserten Durchsetzung der Verbotsnorm des CWÜ beitragen.

3.3 Neue Technologien und Rüstungskontrolle

Forschung und Entwicklung für neue Militärtechnik haben immer wieder neue Waffensysteme hervorgebracht, die schon oft den Weltfrieden gefährdet und die militärische Stabilität fragiler gemacht haben. Im Kalten Krieg waren das vor allem die Übergänge von der Spalt-(Atom‑)Bombe zur Fusions-(Wasserstoff‑)Bombe mit hundert- bis tausendfacher Energiefreisetzung, vom Bomber zur Langstreckenrakete, die die Flug- und Vorwarnzeiten von vielen Stunden auf 10 bis 30 min verkürzten, und von Einzel- zu Mehrfachgefechtsköpfen auf Raketen, die das Szenario eines entwaffnenden Erstschlags hervorriefen. Ein weiteres Thema war die Raketenabwehr; ein nahe liegendes Mittel, sie zu überwinden, ist quantitativer Aufwuchs von Raketen und Gefechtsköpfen. In Zusammenhang mit Raketenabwehr stehen Weltraumwaffen. Rüstungskontrollverträge konnten einige der dringendsten Probleme eindämmen, jedoch nicht den allgemeinen Trend des qualitativen Wettrüstens aufhalten.

Heute sind Rüstungskontrollverträge – nicht nur für Nuklearwaffen – in Gefahr. Beispielsweise wurden der Anti-Ballistic Missile (ABM)-Vertrag gekündigt und der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) von Russland nicht mehr umgesetzt. Eine Vertragspartei hat sich vom Iran-Abkommen zurückgezogen. Der Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte (INF)-Vertrag ist gekündigt. Ob 2021 der New-START-Vertrag verlängert werden kann, ist noch unklar.

Weltraumwaffen und -streitkräfte, deren Begrenzung seit Jahrzehnten auf der Tagesordnung steht, tauchen in der Militärplanung wieder auf. Hyperschall-Gleitflugkörper werden entwickelt und stationiert, die zwar nicht früher ankommen als herkömmliche Raketen, aber wegen niedrigerer Flugbahnen erst später entdeckt werden können, auch weil sie in der zweiten Bahnhälfte Abwehrstellungen umfliegen können. Hyperschall-Marschflugkörper mit sechs- bis zehnfacher Geschwindigkeit eröffnen neue Möglichkeiten für Überraschungsangriffe. Bewaffnete Drohnen, bisher in der Angriffsfunktion noch ferngesteuert, sind inzwischen in über 30 Ländern stationiert. Der nächste Schritt zu autonomen Waffensystemen, in denen der Steuercomputer ohne menschlichen Eingriff Ziele auswählt und angreift, wird in Forschung und Entwicklung aktiv vorbereitet (Altmann 2019). Wenn nicht in den nächsten Jahren ein rechtlich verbindliches Verbotsabkommen abgeschlossen wird, ist abzusehen, dass es bei autonomen Waffensystemen ein schnelles und intensives Wettrüsten sowie Weiterverbreitung geben wird, sobald ein Staat mit signifikanten Stationierungen beginnt. In einer Krise könnten sich zwei Flotten autonomer Waffensysteme gegenseitig unkontrolliert provozieren und so, ohne das Eingreifen oder das Wissen entscheidender Personen, einen Krieg auslösen (Altmann und Sauer 2017). Bei kurzem gegenseitigem Abstand betrügen die Vorwarnzeiten nicht Minuten wie bei Nuklearraketen, sondern Sekunden.

Ein Grundproblem vieler neuer Technologien ist, dass sie kleinere Waffen und deren Herstellung in kleinen, unauffälligen Einrichtungen ermöglichen. Im Fall universeller Produktionsautomaten, etwa bei 3‑D-Druck oder in der DNS-Synthese, liegt die Art des erzeugten Produkts nur noch in den Steuerdaten, also in der Software (Christopher 2015; Fey 2016). Das erleichtert unkontrollierte Weiterverbreitung und erschwert die Überprüfung der Einhaltung von Verboten und Beschränkungen.

Parallel zu diesen technisch bedingten Problemen und Gefahren verschlechtert sich die militärisch-politische Lage, insbesondere im Doppeldreieck zwischen den Nuklearwaffenstaaten USA, Russland und China einerseits, China, Indien und Pakistan andererseits. Nötig ist die Rückkehr zu grundlegenden Einsichten wie:

  • Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf niemals geführt werden.

  • Dauerhaft kann nationale Sicherheit nur durch internationale Sicherheit gewährleistet werden.

  • Ein Krieg zwischen Großmächten würde ein erhebliches Risiko der Eskalation zum Nuklearkrieg mit sich bringen.

Bei dem Prozess, diese Einsichten zu fördern, kann naturwissenschaftlich-technische Friedensforschung eine wichtige Rolle spielen – einerseits im Aufzeigen zu erwartender negativer Entwicklungen, andererseits in der Erarbeitung von Begrenzungs- und Verifikationsmöglichkeiten.

3.4 Neue Bedrohungen im Cyberspace

Nicht nur in neuen physischen Technologien, sondern auch im „Virtuellen“ spielt Informatik mittlerweile eine große Rolle in der Friedens- und Konfliktforschung. Der Computerwurm Stuxnet, der 2010 Irans Uran-Anreicherung behinderte, oder der Angriff und Zugriff auf das deutsche Regierungsnetzwerk im Dezember 2017 sind neben vielen weiteren Vorfällen prominente Beispiele. Diese Ereignisse verdeutlichen, dass Cyberangriffe oft eine transnationale Komponente besitzen. Deshalb werden sie in Bezug auf die internationalen Beziehungen und die internationale Sicherheit immer wichtiger. Eine intensive Forschung ist daher notwendig, um neben rein technischen auch adäquate soziale, politische und rechtliche Ansätze für die Konfliktlösung und Friedenssicherung zu finden. Dies sollte die Forschung in der Schnittmenge von Informatik sowie Friedens- und Konfliktforschung adressieren.

Die „IT-Friedensforschung“ beschäftigt sich mit der Rolle der IT für Frieden und Sicherheit (Reuter 2019, 2020). Sie ist einerseits Teil der Friedens- und Konfliktforschung (vor allem der naturwissenschaftlich-technischen Friedensforschung), denn Frieden und Sicherheit sind entweder ein angestrebtes Ziel oder Gegenstand der Untersuchung. Sie ist andererseits aber auch Teil der Informatik (insbesondere Cybersicherheit), da zum einen Computersysteme und zum anderen die diese Systeme umgebenden Phänomene sowie sicherheitsrelevante algorithmische Prozesse erforscht werden. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist es das Ziel der Disziplin, die Rolle von IT für Frieden und Sicherheit (empirisch) zu erforschen und zu verstehen. Aus Sicht der technischen Forschung ist es das Ziel der Disziplin, technische Möglichkeiten (teilweise normativ) zu konzipieren und zu entwickeln, um eine Eskalation von Cyber-Konflikten und Cyber-Angriffen zu verhindern, internationale Sicherheitsbedrohungen abzuwenden und die möglichen Folgeschäden, verursacht durch Handlungen, die durch zwischenstaatliche (und in manchen Fällen sogar auch durch rein zwischenmenschliche) Unsicherheiten motiviert sind, zu verringern.

Dabei existieren jedoch einige Herausforderungen (Reuter 2020):

  • Es besteht Unsicherheit über die Ziele und Vorgaben der vermehrt aufkommenden militärischen Cyber-Einheiten und das Risiko, unbeabsichtigt auf zivile Infrastrukturen zu zielen. Ebenfalls sind die unüberschaubare Vielfalt (staatlicher und nichtstaatlicher) Akteur*innen mit strategischem und kommerziellem Interesse sowie die Zusammensetzung der Gruppe der potenziellen Aggressor*innen aus Streitkräften, Einzelpersonen und Teilen des privaten Sektors eine große Herausforderung.

  • Neben der schwierigen und manchmal unmöglichen Zuordnung von sicherheitsgefährdenden oder gar offensiven Aktivitäten (Attribuierung) müssen Methoden der Messungen und Verifikation an neue Technologien angepasst werden. Darüber hinaus müssen Regeln für die Transparenz im Cyberspace festgelegt werden.

  • Es braucht Methoden, um militärische/zivile Anwendungen oder Nutzung/Missbrauch zu unterscheiden und die Vervielfältigung und Verbreitung von Codes bzw. von (Dual-Use‑)Technologien zwischen Ländern oder anderen Akteur*innen zu beschränken.

  • Eine ständige Anpassung der Gesetze an die neuen Technologien stellt eine Herausforderung dar. Beispielsweise besteht derzeit keine Einigung über die technologischen Eigenschaften von Cyberwaffen, die hinsichtlich Qualität und Quantität überwacht werden sollen.

Ein weiterer Aspekt im Hinblick auf Bedrohungen im Cyberspace ist, dass sich Cyberstreitkräfte nicht nur auf Abwehr, sondern auch auf Angriffe vorbereiten, was Wirkungen auch in der physischen Welt haben kann und mit militärischen Handlungen in dieser koordiniert wird. Da auch bei Cyberrüstung schnelles Zuschlagen entscheidende Vorteile im Kampf bringen könnte, können auch hier militärische Interessen zu Automatisierung führen, mit der möglichen Folge schneller, ungewollter Eskalation. Insgesamt soll Kampfüberlegenheit erreicht werden, indem mittels Künstlicher Intelligenz militärische Entscheidungen mehr Informationen einbeziehen und Planung, Aktion und Reaktion schneller ablaufen (Geist und Lohn 2018). Das könnte so weit gehen, dass Menschen Schwierigkeiten bekommen, dem Kampfgeschehen zu folgen, geschweige denn es zu steuern.

4 Bewertung der Empfehlung des Wissenschaftsrats

Das vorherige Kapitel hat deutlich gemacht, dass ein großer Anteil aktueller Fragestellungen der Friedensforschung naturwissenschaftlich-technische Bezüge hat.

Der Wissenschaftsrat, als wichtigstes wissenschaftspolitisches Beratungsgremium in Deutschland, hat im Juli 2019 seine Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung veröffentlicht. In seinem Gutachten sieht der Wissenschaftsrat (2019b)

„die Friedens- und Konfliktforschung in ihrem politik- und sozialwissenschaftlichen Kern sehr gut für die anstehenden Herausforderungen gewappnet. Dies gilt allerdings weniger für die naturwissenschaftlich-technische Friedensforschung, in der Deutschland früher international führend war und deren strukturelle Situation inzwischen prekär geworden ist.“

Er weist auf einen dringenden Handlungsbedarf zur Stärkung der naturwissenschaftlich-technischen Friedens- und Konfliktforschung hin, um den massiv gestiegenen Beratungsbedarf der Politik zu decken:

„Um die notwendige naturwissenschaftlich-technische Forschung und Expertise dauerhaft in Deutschland vorzuhalten, hält er allerdings den institutionellen Auf- und Ausbau dieses Teilgebiets der Friedens- und Konfliktforschung […] für unverzichtbar und empfiehlt Bund und Ländern, hier aktiv zu werden“ (Wissenschaftsrat 2019b).

Darüber hinaus fordert das Gremium die in jüngerer Zeit neu etablierten Forschungseinrichtungen zur Cybersicherheit auf, vermehrt Fragen der Friedens- und Konfliktforschung aufzugreifen. Auch begrüßt der Wissenschaftsrat, dass die Deutsche Stiftung Friedensforschung eine neue thematische Förderlinie „Neue Technologien: Risiken und Chancen für internationale Sicherheit und Frieden“ eingeführt hat und auch das Auswärtige Amt sich zumindest vorrübergehend finanziell an Forschungsvorhaben in diesem Bereich beteiligen möchte (Wissenschaftsrat 2019a). Dennoch bleibt festzuhalten, dass eine weitergehende institutionelle Konsolidierung und Stärkung der naturwissenschaftlich-technischen Friedensforschung unabdinglich ist.

Der Wissenschaftsrat spricht sich für eine enge Kooperation mit den sozialwissenschaftlichen Disziplinen aus sowie für die Förderung von Forschungs- und Transfervorhaben an der Schnittstelle von naturwissenschaftlich-technischer und sozialwissenschaftlicher Friedens- und Konfliktforschung.

Wie in Kap. 2 erwähnt, deckt naturwissenschaftliche Friedensforschung ein breites methodisches Spektrum ab, das von disziplinärer bis zu stark interdisziplinärer Arbeit reicht. Für beide Arten von Forschung ist langfristige Kontinuität naturwissenschaftlich-technischen Wissens und entsprechender Analysemethoden erforderlich (Wissenschaftsrat 2019a).

Der Forschungsbereich an sich ist zu klein, als dass entsprechende Strukturen urwüchsig aus den Hochschulen bzw. Forschungseinrichtungen entstehen könnten. Auch bestehende Forschungsgruppen sind personell unterbesetzt (Wissenschaftsrat 2019a). Zusätzlich wird der Aufbau erforderlicher Strukturen durch die fakultätsübergreifende Ausrichtung der Friedensforschung (durch die Einbeziehung vor allem sozialwissenschaftlicher Aspekte) erschwert, da die Forschung in Universitäten nicht klar einzelnen Fakultäten oder Fachbereichen zugeordnet werden kann und auch relevante außeruniversitäre Einrichtungen entweder naturwissenschaftlich oder sozialwissenschaftlich fokussiert sind. So sind auch Umwidmungen vakant werdender Professuren äußerst unwahrscheinlich.

Damit der im Evaluationsbericht dargelegte Beratungsbedarf in Politik und Öffentlichkeit zukünftig gewährleistet und Nachwuchs für die naturwissenschaftliche Friedensforschung gewonnen werden kann, stimmen die Autoren dieses Beitrags dem Wissenschaftsrat mit Nachdruck zu, dass strukturelle Fördermaßnahmen notwendig sind, welche eine dauerhafte institutionelle Absicherung ermöglichen. Eine nachhaltige und resiliente Forschungslandschaft mit hoher internationaler Sichtbarkeit erscheint nur bei mehreren starken Standorten mit jeweils mehreren Leitungspositionen gesichert. Fördermaßnahmen müssen auf eine dauerhafte Absicherung der Standorte abzielen. Nicht zuletzt betont der Evaluationsbericht als wesentliche Voraussetzung eine angemessene personelle und finanzielle Grundausstattung. Diese sei notwendig, um die naturwissenschaftliche Friedensforschung in Deutschland im internationalen Vergleich erneut voran zu bringen.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Wiederbelebung und Ausbau naturwissenschaftlich-technischen Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland für den Erhalt von Frieden und Sicherheit in der Zukunft von unverzichtbarer Bedeutung sind.