Zusammenfassung
Dass Europa unter einem ‚Demokratiedefizit‘ leidet, ist eine gerne bemühte, aber nicht immer hinreichend differenziert untersuchte Behauptung. Der vorliegende Beitrag arbeitet heraus, dass das Defizit weniger in den demokratischen Bereichen Partizipation und Repräsentation zu finden ist als vielmehr in den Bereichen politischer Wettbewerb, Transparenz und Gewaltenkontrolle. Genauer scheint das demokratietheoretische Kernproblem vor allem in einer asymmetrischen Ausgestaltung der Gewaltenkontrollbeziehungen zwischen supranationaler und mitgliedstaatlicher Ebene zu bestehen. Dieser Asymmetrie begegnet das Bundesverfassungsgericht, indem es drei Instrumente entwickelt: die Verfassungsidentitätskontrolle, die Ultra-Vires-Kontrolle und die Integrationsverantwortung des nationalen Gesetzgebers. Alle drei Instrumente sind prinzipiell dazu geeignet, Demokratie- und Gewaltenkontrolldefizite auf nationaler und begrenzt auch auf supranationaler Ebene abzumildern – und erhöhen damit insgesamt die Legitimität des europäischen Mehrebenensystems.
Abstract
It is a common assumption that the European Union is suffering from a ‘democratic deficit’. However, this notion must be assessed in a differentiated manner. The present constribution argues that there is no major deficit in democratic participation and representation in Europe but that European democracy is deficient in the partial regimes of political contestation, transparancy, and checks and balances. To be more precise, the core problem of European democracy seems to be that of an asymmetric configuration of the checks-and-balances system between the supranational and the national level.
The German Federal Constitutional Court tries to handle this asymmetry by developing three different instruments: the judicial control of the German constitutional identity (‘Verfassungsidentitätskontrolle’), the ultra vires review, and the constitutional expectation of a political responsibility for European integration by the Bundestag (‘Integrationsverantwortung’). All three instruments are in principle suitable for making democracy work better on the national and, in a limited range, also on the supra-national level. They not only help to reduce the democratic deficits observed on both levels but also increase the legitimacy of multi-level governance in Europe altogether.
Notes
Zusätzlichen Schub bekam die Demokratiedebatte durch die umkämpften nationalen Referenden zum Vertrag von Maastricht in Dänemark, Irland und Frankreich im Jahr 1992.
Die Zustimmung in der bundesdeutschen Bevölkerung zur Arbeit des Bundesverfassungsgerichts war selten so hoch wie im Vorfeld seiner Entscheidungen zur Euro-Rettungspolitik. Im August 2012 bekundeten 75 % der vom Institut für Demoskopie in Allensbach befragten Bürgerinnen und Bürger ihr Vertrauen in das höchste deutsche Gericht (Köcher 2012).
Die folgende Diskussion orientiert sich an den Kriterien des ‚Demokratiebarometers‘ (www.democracybarometer.org). Bühlmann et al. (2012) nennen darüber hinaus noch individuelle Freiheiten (Grund- und Bürgerrechte), Öffentlichkeit (Zivilgesellschaft) und Regierungsfähigkeit (Implementierungseffizienz) als Kernfunktionen. Grund- und Bürgerrechte werden in diesem Papier unter Rechtsstaatlichkeit subsummiert, Öffentlichkeit unter Transparenz. Regierungsfähigkeit überzeugt als definierendes Merkmal von Demokratie nicht, da sie für autokratische Systeme gleichermaßen relevant ist, also nichts spezifisch Demokratisches hat.
Auch hier unterscheidet sich das EU-Mehrebenensystem nicht grundsätzlich von bekannten föderalen Systemen (vgl. zu den grundlegenden Problemen von Föderalismus und Demokratie Benz 2009).
Ebenfalls elementarer Teil des europäischen Rechtsraums ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Vgl. zum „europäischen Verfassungsgerichtsverbund“ Voßkuhle 2009.
Dies gilt allerdings zunehmend nicht mehr für solche ‚Protestparteien‘, die zu europäischen Wahlen mit dezidiert europakritischer Programmatik antreten.
Die Nichtigkeitsklage vor dem EuGH gegen Handlungen von EU-Organen könnte zwar formal eine solche Kontrolle gewährleisten; praktisch effektiv erscheint sie bislang aber nicht (vgl. Hix und Høyland 2011, S. 89).
Diesem offenkundigen Kontrolldefizit in den ‚föderalen‘ Beziehungen zwischen Nationalstaat und Europäischer Union ist im Vertrag von Lissabon zu begegnen versucht worden, indem die nationalen Parlamente stärker in die demokratische Kontrolle eingebunden werden. So sind z. B. nun direkte Einsprüche nationaler Parlamente gegen EU-Rechtsakte möglich (‚Frühwarnsystem‘/‚Subsidiaritätsrüge‘). Allerdings sind sie an bestimmte Quoren gebunden, haben nur aufschiebende Wirkung und stellen insofern ein nur schwaches Kontrollinstrument dar (siehe auch Cooper 2012). Wichtiger erscheint vor diesem Hintergrund die Einführung der Subsidiaritätsklage vor dem EuGH. Ob diese auch in der Praxis eine entsprechende Kontrolltätigkeit von Seiten der nationalen Parlamente nach sich ziehen wird, ist derzeit aber noch offen.
Dass das Bundesverfassungsgericht die Legitimität europäischen Regierens hier parlamentarisch-staatsanalog betrachtet, hat ihm beträchtliche Kritik eingetragen (vgl. van Ooyen 2011, S. 89 ff. mit weiteren Nachweisen). Allerdings behalten die Kernaussagen des Gerichts auch dann ihre Gültigkeit, wenn sie im Lichte der oben diskutierten demokratischen Kernfunktionen reformuliert werden.
Zu dieser ‚Verfassungsidentität‘ gehören laut Urteil die Staatsbürgerschaft, das zivile und militärische Gewaltmonopol, Fragen finanzpolitischer Einnahmen und Ausgaben inklusive der Kreditaufnahme, der Sozialstaat, Fragen des Freiheitsentzugs und der Sprache, das Familien- und das Bildungswesen, die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit sowie die Bekenntnisfreiheit. Teilt man das demokratietheoretische Argument des Gerichts, dass eine politische Gemeinschaft selbst über die wesentlichen Grundlagen ihres demokratischen Zusammenlebens bestimmen können muss und dass dies auf europäischer Ebene zumindest derzeit nicht hinreichend legitim möglich ist, ist gegen die Identitätskontrolle als solche demokratietheoretisch nur wenig einzuwenden.
Wie das Gericht im OMT-Verfahren auf die Antwort des EuGH reagieren wird, ist derzeit (August 2015) noch offen.
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Kneip, S. Mehr (nationale) Demokratie wagen? Die Europarechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Lichte des Demokratie- und Gewaltenkontrolldefizits im EU-Mehrebensystem. Z Politikwiss 26 (Suppl 1), 131–147 (2016). https://doi.org/10.1007/s41358-015-0010-3
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