1 Einleitung

Der Beitrag diskutiert das Verhältnis von allgemeiner und beruflicher Bildung mithilfe einer pädagogischen Theorie der Organisation. Organisationen sind eine dominante Sozialform der modernen Gesellschaft, deren Praxis die Einheit von allgemeiner und beruflicher Bildung realisiert. Allgemeine Erwachsenen- und berufliche Bildung treffen sich darin, Prozess und Ergebnis der individuellen Auseinandersetzung mit Organisationen und der ihnen eingeschriebenen pädagogischen Logik zu sein. Organisationen sind nicht nur Kontext von Bildung, sie sind selber pädagogisch: Organisationen adressieren Verhaltenserwartungen und Handlungsimperative an ihre Mitglieder sowie an ihre Klientinnen und Klienten; sie individualisieren berufliche Kompetenzen wie allgemeine Bildungsgehalte. Eine um Abgrenzung bemühte Gegenüberstellung sektoraler Bildungskonzepte und die ihnen gemeinsame Subjektzentrierung verdeckt dagegen die Tatsache, dass die normierenden, handlungsleitenden Strukturvorgaben in Organisationen ein anthropagogisches Anforderungsschema etablieren, das gleichzeitig berufliche und allgemeine Bildung absichtsvoll realisiert. Es geht im Folgenden aber nicht um das Ausrufen eines organizational turn für die Erziehungswissenschaft, verbunden mit der Behauptung, man müsse nun dieses oder jenes Konzept aus den Nachbarwissenschaften heranziehen. Vielmehr soll eine Leerstelle der Erwachsenen- und Berufspädagogik in den Blick genommen werden, die über einen längeren Zeitraum gepflegt wurde. Dabei kommt es darauf an, auf die bisher nur zögerlich genutzten Möglichkeiten in den eigenen Grundlagenkonzepten der Erziehungswissenschaft hinzuweisen, die es erlauben, die historisch entstandene Auslassung in ihrer Funktionalität für eine Erziehungs- und Bildungstheorie in der digitalen Moderne erneut zu prüfen.

Die Theorie einer Pädagogik der Organisation bietet einen integrierenden Zugang zu den ideen- und sozialgeschichtlichen Ursprüngen allgemeiner und beruflicher Bildung. Deren unterschiedliche Begriffsvorgaben werden systematisch aufeinander bezogen, eine Entdifferenzierung ihrer semantischen Gehalte bei der verallgemeinernden Bezugnahme auf Organisation wird vermieden. Hierfür wird zunächst die These einer subjektzentrierten Organisationsvergessenheit der Erziehungswissenschaft diskutiert (2). Diese Organisationsvergessenheit findet sich nicht nur in der Pädagogik, sondern auch in klassischen Überlegungen zur gesellschaftlichen Form der Arbeit (3). Die Beobachtung der Formung und Verformung des modernen Subjekts durch Arbeit blendet ebenfalls die handlungsleitende Funktion organisationaler Strukturbildung aus, was auch von dieser Seite den Blick auf das genuin pädagogische Wirkprinzip der Organisation verstellt (4). Dies wird auch für das Verständnis der Digitalisierung problematisch, da die Expansion digitaler Ordnungsleistungen ganz wesentlich eine Konsequenz der gesellschaftsweiten Verbreitung von Organisationen ist (5). Der Zusammenhang von Digitalisierung und Organisation ist für allgemeine wie berufspädagogische Annahmen aber zentral, da sich das Verhältnis von Arbeit und Subjekt nachhaltig verändert. Dies wirft Fragen nach einem zeitgemäßen Verständnis von Beruf wie nach der Autonomie des Subjekts auf, die beide mit dem Bildungsbegriff verbunden sind. Dieser erschließt die Strukturanalogie von Subjekt und Organisation, die das abschließende Plädoyer für eine heterarchische begriffliche Polykontextur von Bildung, Lernen, Sozialisation, Erziehung und Kompetenz stützt. Durch die Bereitstellung einer Theoriesystematik ermöglicht der Beitrag eine organisationsbezogene Konzeptualisierung erziehungswissenschaftlicher Kernbegriffe. Eine pädagogische Theorie der Organisation erlaubt es, die durch eine dominierende Subjektzentrierung kultivierte Organisationsvergessenheit der Pädagogik und damit auch empirischen Forschungsbedarf sichtbar zu machen (6).

2 Die Organisationsvergessenheit erziehungswissenschaftlicher Bildungsreflexion

Organisationen prägen das soziale Leben in der modernen Gesellschaft. Ihre pädagogische Eigenlogik hat aber bisher in der Erziehungswissenschaft keine größere Aufmerksamkeit erhalten. Die historisch etablierte Subjektzentrierung der Erziehungswissenschaft (Benner 2015; Dräger 2017), hat dazu beigetragen, dass Organisationen wie die Schule oder der Betrieb regelmäßig nur als förderlicher oder hinderlicher Kontext individueller Lehr-Lernaktivitäten in den Blick geraten. Subjekt und Organisation erscheinen als struktureller Gegensatz, der regelmäßig normativ aufgeladen wird: das nach Autonomie strebende, lebendige Individuum in einer kalt und leblos verwalteten, unpersönlichen Welt. Aber auch in der (organisations-)soziologischen, -psychologischen oder bildungshistorischen Forschung sind die pädagogischen Implikationen von Organisationen bisher kaum beachtet worden. Die Sozialisationsforschung verhandelt Organisationen ohnehin als Sozialisationsinstanzen, während die Arbeits- und Organisationspsychologie (Frieling und Sonntag 1999; Schuler et al. 2007) Konzepte wie Arbeitsplatzgestaltung oder das einer vollständigen Arbeitshandlung (Ulich 2007, S. 221 ff.) zwar auf deren Messbarkeit zurichtet, die Organisationsaffinität des Messens und seine pädagogischen Wirkungen (Manhart 2016) aber kaum reflektiert. Es mag daher sein, dass gerade die Allgegenwart der Organisation und ihrer pädagogischen Anforderungen die damit verbundenen Aneignungs‑, Vermittlungs- und Fähigkeitsprobleme verdeckt.

Dieses Desiderat ist mindestens in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Erstens wird damit die bildungstheoretische Tradition in ihrer ursprünglich das Subjekt deutlich überschreitenden Sozialorientierung systematisch verkürzt. Bereits bei Rousseau und Humboldt wird die Auseinandersetzung des Individuums mit der Eigenlogik absichtsvoll organisierter Zusammenhänge – insbesondere in Gestalt des frühmodernen Staates (Manhart 2003) und der damit assoziierten verwaltungsförmigen Abläufe (Wendt 2021a) – diskutiert. Beide betonen die Ambivalenz der das Individuum herausfordernden Regelsetzungen der Gesellschaft (Rousseau 1971, S. 12) wie des Staates (Humboldt 1960, S. 86; Manhart 2011, S. 379ff., 469ff.), die den Gegensatz von bloß äußerlich-sozialer Allgemein- und individueller Besonderheit übergreifen. Der Nationalerziehungsdiskurs der Spätaufklärung (Villaume [1794] 1985; Pölitz 1806), der Romantik und des Deutschen Idealismus setzt sich intensiv und theorietechnisch durchaus ambitioniert mit dem Staat als „Erziehungsanstalt“ (Paul [1806] 1963, S. 20), gar als „Bildungsfabrik“ (Fichte [1813] 1971, S. 589) auseinander (Manhart 2003, S. 122ff., 2011, S. 379ff.). Diese Ansätze sind in der anschließenden Konzentration auf eine (Schul‑)Pädagogik vom Kinde her theoriesystematisch verdrängt worden und tauchen im gegenwärtigen erziehungswissenschaftlichen Diskurs allenfalls als historische Kuriositäten auf. Zweitens liefern die vielfältigen wissenschaftlichen Befunde zu Aneignungs‑, Vermittlungs- und Befähigungsprozessen zahlreiche Hinweise für die Diagnose einer durch und durch pädagogisierten, d. h. pädagogisch organisierten Gesellschaft (Arnold 1998). Die mit organisationaler Strukturbildung einhergehende Regulationsverdichtung, die Vervielfältigung von Lehrplänen, Zertifikats- und Qualifizierungsstrategien, von Schulungen und Weiterbildungen erzeugt unzählige Anforderungen an Individuen, auf deren Probleme individualpädagogische Formen der Beratung, des Coachings und der Supervision reagieren, die wiederum organisiert sind. Die lautstarke wissenschaftliche wie politische Propagierung des Lernens (Manhart 2014) relativiert daher auch die Rede vom stillen Sieg der Erziehungswissenschaft (Tenorth 1992). Der unverkennbare Erfolg von Pädagogik und Erziehungswissenschaft in der Gegenwart ist ganz wesentlich mit der Durchsetzung der Form der modernen Organisation verknüpft (Wendt 2020). Organisationen erlauben als soziale Stützeinrichtungen nicht nur, pädagogische Zielstellungen und Interventionen auf Dauer zu stellen, sondern sie erzeugen auch den entsprechenden Bedarf auf Seiten des Subjekts (Manhart 2009).

Das jeder Pädagogik zugrundeliegende Prinzip zeitlicher Ermöglichung durch sachliche Einschränkung korrespondiert mit der Eigenlogik von Organisationen, die Zwecksetzungen regelhaft absichern und prozessieren (Wendt 2021a). Organisationen formalisieren und standardisieren vielfältige Anforderungen zum Zweck der zeitlichen Planung und sachlichen Nebeneinanderordnung des Ablaufgeschehens und dies nicht zuletzt deshalb, um die vergleichende Beurteilung ihrer Resultate zu ermöglichen. Standardisierendes Vergleichen und das damit verbundene Bewerten ist wiederum eine typische pädagogische Praxis (Manhart 2016). Normierungen von Anforderungen und Vorgaben werden aber bisher in Begrifflichkeiten reflektiert, die z. B. auf den Regelungszusammenhang des Berufs oder die curricularen Vorgaben eines Schulabschlusses als Kontext verweisen, so dass organisationale Strukturvorgaben darin auf- bzw. untergehen. Natürlich kennen beruflich-betriebliche Weiterbildung und Berufsbildung die Organisation, das Unternehmen, den Betrieb, sie werden aber zumeist nur als Kontext pädagogischer Lehr- und Lernvorgänge begriffen, die von Subjekten angeleitet werden und auch nur Subjekte betreffen. Im Gegensatz zum lehrenden und lernenden Individuum geht die Logik der Organisation nicht in die pädagogische Begriffsbildung ein.

Die genauere Bestimmung der Funktion und Bedeutung beruflicher Qualifikation kommt daher begrifflich ohne die Einbeziehung der Form und Dynamik der Organisation aus (Rauner 2010, S. 87ff.). Als Ergebnis der erfolgreichen Vermittlung hochstandardisierter Informationen, deren Aneignung prinzipiell automatisiert geprüft werden kann, verweisen sie auf ihre technische Substituierbarkeit. Die daran anknüpfenden Warnungen vor der Erosion des Berufsprinzips (Meyer 2003), folgern hieraus aber die Notwendigkeit einer verstärkten Beschäftigung der erziehungswissenschaftlichen Forschung mit dem Individuum und seinem innerpsychischen Vermögen, während die Organisation als Kontext begrifflich unerschlossen bleibt. Reagiert noch die Schlüsselqualifikationsdebatte (Mertens 1974) auf das schnelle Veralten hochstandardisierter Qualifikationen in Organisationen mit einer domänenübergreifenden Verallgemeinerung der zu vermittelnden Inhalte, so konzentriert sich die seit Mitte der 1980er-Jahre einsetzende Konzeptualisierung von Kompetenzen (Zabeck 1989) auf die begriffliche Formalisierung subjektiver, d. h. innerpsychischer Strukturen, die nun zur individuellen Bearbeitung mit und durch ihre Überprüfung freigegeben werden (Manhart 2016). Unterbelichtet bleibt der Zusammenhang dieser Entwicklungen mit Organisationen.

Im Kompetenzdiskurs werden vor allem persönlichkeitsrelevante Verstehens‑, Reflexions- und Fertigkeitsvollzüge konzeptualisiert, die als handlungsleitende domänenspezifisch-praktische Begriffe eines Arbeitswissens und ihrer subjektiven Theoretisierung und Reflexion gedacht werden (Rauner 2010, S. 87, 101). Das wachsende berufspädagogische Interesse an der Unsicherheit und Nichttrivialität von Vermittlung, Aneignung, Kompetenzentwicklung und Lernen ist dabei auch ein Interesse in eigener Sache: Es wird die unersetzliche Komplexität und Nichtautomatisierbarkeit des arbeitenden Subjekts herausgestellt. Damit übernimmt der berufspädagogische Diskurs zentrale Elemente der bildungsphilosophischen Tradition, kann sich aber zugleich von deren hochkultureller Arbeits- und Anwendungsferne distanzieren (Brosziewski 2010). Dem kommt entgegen, dass in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft Bildung zunehmend praxeologisch reformuliert wird. Es geht bei Bildung nicht mehr vorrangig um gehobene Selbstreflexion, sondern sie wird als Produkt einer Handlungspraxis verstanden (Nohl 2006; Bohnsack 2012), die auch Lohnarbeit sein kann. Nicht zufällig werden dann in der weiteren Steigerung von Kompetenz zur domänenübergreifenden Selbstorganisationskompetenz des Subjekts bei Erpenbeck (2011) Strukturanalogien zwischen Kompetenz, Bildung und Organisation deutlich. Die Reduktion von Kompetenz auf das Erkennen und Nutzen zufälliger Gelegenheiten bei Luhmann (2006, S. 282) läuft auf die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen hinaus (ebd., S. 320) und illustriert diesen begrifflichen Zusammenhang aus Sicht der Organisationssoziologie.

Nicht zuletzt spielt sich damit die Reflexion pädagogischer Absichten in Form von Strukturvorgaben wieder ein, die bei Rousseau oder Humboldt nicht Ausdruck einer philosophischen Höhenkammdebatte ist, sondern auf der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungen – insbesondere der Expansion verwaltungsförmiger Strukturen in Politik und Wirtschaft – beruht (Manhart 2003). Formal sind die Nähen von Bildung und Kompetenz im Unterschied zur standardisiert überprüfbaren Qualifikation offensichtlich: Bildung wie Kompetenzerwerb beruhen auf der in jeder Sozialisationssituation anliegenden Komplexität, die eine unkontrollierbare und nicht ausbestimmbare Vielfalt loser und kausaler Kopplungen von Anforderungen, Angeboten und Aneignungen zur Folge hat. Nutzt man diese Vielfalt von Reizen, Reaktionen und Reflexionen als Modus einer absichtlichen Vermittlung, dann reformuliert dies den klassischen Bildungsbegriff. Erfolgt Sozialisation unabsichtlich, so sind Erziehung und Unterricht die absichtliche Vermittlung mit anschließender Überprüfung der Aneignung des Vermittelten (Kade und Seitter 2005), was zu qualifizierenden Abschlüssen führt. Bildung integriert diese beiden Modi als absichtlich unabsichtlichen Geschehenszusammenhang (Manhart 2003, 2008, 2009), d. h. man rechnet in der Fremd- wie Selbstveränderung damit, dass immer viel mehr geschieht als das, was man beabsichtigt hat und kontrollieren kann. Während Kompetenz aber insbesondere auch das Wünschen und Wollen und deren Zusammenhang mit der Performanz von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnissen im Subjekt konzeptualisiert (Erpenbeck 2011; Arnold 1998), beschreibt Bildung den absichtsvollen Umgang mit einer Komplexität, die nicht auf Absichten reduzierbar ist. Bildung beschreibt daher auch Organisationen, die im Unterschied zu Subjekten aber weder etwas Wollen noch Wünschen müssen – sie haben daher auch keine Psyche mit Kompetenzen –, um in ihren Plänen und normativen Anforderungen Absichten gegenüber sich selbst und den von ihnen beobachteten Subjekten zu realisieren.

Insbesondere Organisationen nutzen ihre Komplexität reflexiv zur eigenen Kontextsteuerung (Manhart 2009, 2016; Wendt 2020, 2021b), die einer organisationsfernen Unterrichtstheorie als heimlicher Lehrplan (Dreeben 1968) erscheinen muss, in Organisationen aber vor allem mit positiv konnotierter Überraschung und Abweichung assoziiert und als Innovationsgeschehen kultiviert wird (Manhart et al. 2020; Wendt 2022a; Wendt et al. 2022). Das aktive Auseinanderziehen von Vermittlung und Aneignung ist dabei nicht vorrangig Ausdruck der Einsicht, dass die Aneignung bestimmter Gehalte nicht garantiert werden kann. Das ist auch bei Erziehung und Unterricht der Fall. Vielmehr reagiert der Kompetenzbegriff darauf, dass auch das Anzueignende unbestimmt, also nicht standardisierbar ist. Bei Bildung kommt nun hinzu, dass sich Subjekt und Organisation sowohl in den Gründen der eigenen Absichten zur Selbstveränderung, wie im Vollzug der Veränderung als intransparent erfahren, weil sie komplex sind. Bildung ist deshalb nicht nur eine aneignungsorientierte, aber fremdgesteuerte Praxis ohne die Kontrolle und Überprüfbarkeit ihres Erfolgs (Nohl 2006; Dörner 2011), sondern beschreibt vor allem ein zentrales Merkmal des subjektiven Binnenverhältnisses, dass dieses als immer schon gebildetes Individuum ausweist. Das damit verbundene Distanzierungsvermögen ist jedoch nicht zuletzt das Ergebnis der subjektiven Auseinandersetzung mit den zahlreichen Strukturvorgaben moderner Organisationen. Die Selbstorganisation der Organisation verweist wiederum darauf, dass auch Organisationen auf direktive Steuerung, auf erkennbare Absichten mit produktiven Abweichungen reagieren. Nutzt man genau dies zur absichtsvollen Veränderung – und Organisationen tun dies zur Selbst- und Personalentwicklung ständig –, so erzeugt dies in seinen komplexen unabsichtlichen Vollzügen Bildung.

Eine gegenstandsadäquate theoriesystematische Analyse von Organisation profitiert daher vom Einbezug des allgemein- und berufspädagogischen Bildungsdiskurses wie umgekehrt der Bildungsdiskurs von den Befunden und weiteren begrifflichen Differenzierungsmöglichkeiten der Organisationsforschung. In Organisationen wird gleichzeitig von verschiedenen Personen verschiedenes gelernt, denn immer finden Sozialisation, Erziehung, Kompetenzentwicklung und Bildung gleichzeitig statt (Wendt 2020, S. 46 ff.). Eine angemessene Konzeptualisierung dieses differenzierten Lerngeschehens in Organisation legt Bildung, Kompetenzentwicklung, Erziehung, Qualifikation und Lernen nicht in einem hierarchischen, sondern in einem heterarchisch-dynamischen Verhältnis zueinander an. Das gilt auch für das Verhältnis von praktischen zu wissenschaftlichen Begriffen, gerade weil im berufspädagogischen (Rauner 2010, S. 99ff.) wie im praxeologischen Diskurs (Schön 1983; Reckwitz 2003; Elkjaer 2004; Nohl 2006), aber auch in psychologischen und erziehungswissenschaftlichen Lerntheorien (Holzkamp 1995; Meyer-Drawe 2012) betont wird, dass wissenschaftliche und praktische Begriffe unterschiedliche semantische Reichweiten und Relevanzspektren haben. Berufspädagogisch ist eine nichthierarchische Begriffsanlage deshalb wichtig, weil berufliche Handlungskompetenz nicht allein durch Theorieausbildung erworben werden kann. Dies gilt gerade auch dann, wenn eine vollständige Arbeitshandlung – als anzustrebende pädagogische Norm (Ulich 2007, S. 230f.; Frieling und Sonntag 1999; Frieling 2006) – die Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Handelns im Arbeitsprozess einfordert. Die Reflexion der Praxis kann diese Praxis nicht ersetzen. Das gilt aber auch umgekehrt und daher muss diese Dignität der Praxis (Schleiermacher 1983, S. 40) auch nicht, wie z. B. bei Rauner (2010, S. 95), zu einer Abwertung wissenschaftlicher Reflexion führen. Reflexion, wissenschaftliche Forschung und Theoriebildung sind auch nichts anderes als Praxen.

Wenn im Anschluss an die praxeologische Wende der Erwerb praktischer Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten vorrangig an die erfolgreiche Einsozialisation in eine community of practice gekoppelt wird (Rauner 2010, S. 98ff.; Elkjaer 2004), zeigt dies aber erneut die Organisationsvergessenheit erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung. Abgesehen von ihrer Fassung als Kommunikationsgemeinschaften in der Geschichte wissenschaftlicher Disziplinen (Stichweh 1994; Manhart 2011) sind Praxisgemeinschaften ein geradezu typisches, weil die Interaktion unter Anwesenden betonendes Element der erziehungswissenschaftlichen Bildungstradition. Schon Wilhelm von Humboldts praktische Beispiele für Bildungszusammenhänge betonen auffällig oft den individuellen Austausch innerhalb von Gruppen nicht nur in den Salons der Aufklärungsgesellschaft. Dies gilt nicht weniger für den Versuch einer systematischen Analyse gepflegter Interaktionszusammenhänge in Schleiermachers „Theorie des geselligen Betragens“ (2000). Beide setzen als besonders bildend eine spezifische Kommunikations- im Sinne einer Praxisgemeinschaft voraus, die aber weder in einem organisationalen noch beruflichen Zusammenhang steht. Mit dem sprachlichen Reimport entsprechender Überlegungen als community of practice in die Berufspädagogik wird, bei aller zugestandener Relevanz von Gruppenbildungsprozessen, die Organisationsvergessenheit aber fortgeschrieben. Denn Organisationen sind weder Gemeinschaften noch bestehen sie aus sozialen Gruppen, lassen sich also auch nicht mit gruppentheoretischen Konzepten angemessen erfassen. Die Orientierung am Subjekt sowie an der Gruppendynamik einer Interaktion unter Anwesenden verdeckt in der berufs- wie organisationspädagogischen Forschung daher regelmäßig die Strukturvorgaben und -logiken von Organisationen. Für das Verständnis von Lernen, Erziehung, Sozialisation, Bildung, Qualifizierung und Kompetenzentwicklung in der Organisationsgesellschaft reicht diese Erweiterung der Perspektive vom Individuum zur Gruppe nicht aus.

3 Arbeit ohne Organisation

Organisationsvergessenheit ist nicht nur das Ergebnis einer in der Pädagogik kultivierten Individuums- und Subjektzentrierung. Vielmehr bleiben Funktion und Eigenlogik moderner Organisation auch in klassischen Überlegungen zur Form gesellschaftlicher Arbeit unberücksichtigt, etwa wenn Arbeit vor allem als identitätsstiftend für das Subjekt reflektiert wird (Prange 1984). Gerade für berufspädagogische Überlegungen liegt der Rückgriff auf die Eigentümlichkeit und das Sosein des Subjekts nahe, weil das traditionelle Berufsprinzip (Gonon 2015) an die von Luther (2017; Hobbensiefken 1980, S. 58ff.) betonte innere Berufung des Individuums anknüpft, eine Vorstellung, die im schichtstabilen System der Zünfte als individuelle Absicherung durch Positionalität hinterlegt ist (Greinert 1997).

Mit dem Aufweichen gesellschaftlicher Strata und der daraus resultierenden Freisetzung des Individuums (Beck et al. 1996) bleiben anthropologisch-subjektzentrierte Vorstellungen für das Verständnis von Arbeit zentral. Als besonders wirkmächtig erweist sich hierbei die marxsche Annahme einer Eigentlichkeit des Subjekts, dessen Realisierung in den Arbeitsverhältnissen einer Klassengesellschaft aber misslingt. Seinem Dasein als Gattungswesen kann das Subjekt nur gerecht werden, wenn es sich durch Arbeit an der Welt auszudrückt (Marx 1974). Der an Hegel (1989) anschließende Arbeitsbegriff von Marx ist eng mit der Vorstellung einer bildenden Transformation von Materie verknüpft, die es ermöglicht, sich in Selbstgeschaffenem gegenüberzutreten, sich darin also selbst zu bestimmen. Organisierte Produktionszusammenhänge, Prozesse der Arbeitsteilung und der kapitalistischen Lohnarbeit haben daher unvermeidlich die Entfremdung des Subjekts zur Konsequenz. Gerade der Begriff der Entfremdung, der sich weiterhin großer Beliebtheit erfreut (Jaeggi 2005), kontaminiert jede weitere Reflexion sozialer Strukturen. Jede Arbeit in Organisationen erscheint als unterjochende Fremdbestimmung (Türk 1995). Das Distanzierungsvermögen des Subjekts wie die pädagogische Wirksamkeit der Organisation werden, wenn überhaupt, hier nur als abzulehnende Störgrößen konzeptualisiert. Organisierte Arbeit steht der Selbstverwirklichung des Subjekts unwiderruflich entgegen, ein Verdikt, dem auch die Beschäftigung mit der pädagogischen Wirksamkeit von Organisationen anheimfällt.

In dieser Tradition sind es daher anthropologische Vorgaben einer Theorie des Subjekts, die als Ausgangspunkt und Zielbestimmung der Berufspädagogik, die Qualifizierungsstrategien und die Gestaltung von Lernorten begründen. So ist etwa das Prinzip der vollständigen (Arbeits‑)Handlung (Ulich 2007) nicht zuletzt als Gegenentwurf zu einer entfremdenden Arbeitsgestaltung zu verstehen, in der nicht nur der Einblick des Subjekts in arbeitsteilige Zusammenhänge, sondern auch es sich selbst ausschnitthaft bleibt. Dass die Reintegration von Arbeitsschritten zu einem Ganzen den teilweisen Verzicht auf zentrale Organisationsprinzipien erfordert, wird in der leichtgängigen Kritik an entfremdender Arbeit aber ausgeblendet. Auch die Umsetzung teilautonomer Gruppenarbeit oder das Arbeiten in Teams, wie sie im Rahmen projektförmiger Arbeit praktiziert und in ein Regime lebenslangen Lernens eingeordnet werden, katalysiert reflexartige Ablehnungstendenzen, wenn auf die damit assoziierte neoliberale Governance verwiesen wird (Fejes 2008).

Arbeit impliziert immer auch die Entwertung des gegenwärtigen Moments (Prange 1984), weil sie einem Ziel dient, das jenseits ihrer Ausführung liegt. Diese externe Zwecksetzung und Nutzanwendung jeder Arbeit hat diese ebenso dauerhaft delegitimiert, wie dass diese Zielerreichung körperliche wie geistige Anstrengung erfordert. Hier kommt eine langlaufende Denktradition ins Spiel, in der arbeitsferne, anstrengungsfreie Muße einer das Subjekt deformierenden Arbeit gegenübergestellt wird (Arendt 1960). Dass die notwendige Arbeit von anderen erledigt werden muss, gehört zu den verdrängten Voraussetzungen jeder Form der Muße. Das gilt für die Überlegungen von Marx ebenso wie für den Versuch der Aktualisierung seiner Ideen bei Adorno. Zwar adressiert Adorno die Frage, was Menschen „an sich sind oder was sie sein könnten“ (Adorno 1969, S. 57), schneidet aber alle Möglichkeiten der Beantwortung ab, weil die gesellschaftlichen Bedingungen als Produktionsverhältnisse eine determinierend-deformierende Wirkung entfalten. Arbeit wird zwingend mit der Unfreiheit des Subjekts verknüpft, zu der gehört, dass es sich dieser nicht bewusst ist. Nur der praxisferne Intellektuelle kann über diese unbewusste Unfreiheit (ebd., S. 58) in der Verdinglichung der Arbeit im Verblendungszusammenhang einer allumfassenden Ökonomisierung aufklären. In Ermangelung eines subjektiven Distanzierungsvermögens kann dann auch der Bildungsbegriff nur in Form einer Dekonstruktion aufgegriffen werden (Ehrenspeck und Rustemeyer 1999, S. 374).

Nicht nur Adorno beurteilt die mit Organisation einhergehenden Zwecksetzungen und Normierungen allein negativ und reduziert sie auf ökonomische Ursachen und Interessen. Die vermeintliche Ökonomisierung sozialer Verhältnisse wird von einer ausschließlich am Individuum und seiner Subjektivität ausgerichteten Pädagogik dankbar aufgegriffen. In der Kritik an der handlungspraktischen Dimension des Kompetenzbegriffs als Mantra neoliberaler Bildungsreformer (Höhne 2007) wird aber die hochkulturelle Arbeitsferne einer normativen Bildungstradition aktualisiert. Abstraktheit und Konkretheit, Selbst- und Fremdbestimmung werden gegeneinander ausgespielt und jeder Anwendungs- als Verwertungsbezug denunziert und dies ganz besonders dann, wenn Organisationen im Spiel sind. Die konkrete Organisation von Arbeit, Erziehung und Bildung wird als bloß ökonomische Verzweckung einer abstrakten Selbstgenügsamkeit und Zweckfreiheit gegenüberstellt (v. Hentig 1996; Liessmann 2006). Nahezu alle relevanten Teilleistungen der Gesellschaft werden aber durch Organisationen vermittelt und zwar unabhängig davon, ob es sich um wirtschaftliche, pädagogische, politische oder juristische Sachverhalte handelt (Manhart und Wendt 2020). Auch in Schulen und Universitäten gilt das Prinzip regelgeleiteter Einschränkung, was freilich gern als bürokratisch, dehumanisierend und wiederum dem fremden Diktat der Ökonomie unterworfen, kritisiert wird. In den klassischen Positionen, die den sozialen wie subjektiven Sinn von Arbeit reflektieren, wird ausgeblendet, dass die geforderte Möglichkeitsbildung die Einschränkung anderer Möglichkeiten zur Voraussetzung hat. Genau das leisten Organisationen: Sie sozialisieren, erziehen und bilden Subjekte wie sich selbst.

Die Faszination für die identitätsstiftende Funktion der Arbeit, für die Formung des Subjekts durch Arbeit, strukturieren die Debatte, ohne dass dabei Organisationen in ihrer bildenden Funktion als absichtsvolle wie absichtslose Komplexe von Ermöglichungs- und Verhinderungsbedingungen eingehender reflektiert werden. Diese Leerstelle illustrieren auch die vielfältigen Versuche, Organisationen als Lernorte zu thematisieren. Ihre Spezifik als bildsame, auf das Subjekt einwirkende Struktur, die zugleich selbst zum Lernen befähigt ist (Argyris und Schön 1978; Geißler 1996; Elkjaer 2004; Göhlich et al. 2018), wird dabei verfehlt. Eine Gleichsetzung von Organisation und Lernort (Dehnbostel 2006) wird weder der Organisation noch dem Subjekt oder der dort stattfindenden Arbeit gerecht, weil die Verortung des Lernens im Prozess der Arbeit Lernen und Arbeiten gleichsetzt. Unberücksichtigt bleibt, dass auch die Organisation im Prozess der Arbeit lernt, allerdings etwas ganz anderes als das Subjekt. Ein analoges Problem findet sich in der Lernortdiskussion der Allgemeinen Erziehungswissenschaft und Erwachsenenbildung: Lehren und Lernen, Vermittlung und Aneignung werden entdifferenziert, wenn das lernende Subjekt und der als Lehrort inszenierte Kontext, wie bei und im Anschluss an Faulstich und Haberzeth (2010; Wittwer et al. 2015) begrifflich zu einem Lernort fusionieren. Für das Subjekt kann aber die soziale wie natürliche Umwelt, wie immer sie auch didaktisch inszeniert oder nicht inszeniert sein mag, kann jede Organisation nichts anderes als der Kontext des Lernens sein. Das Subjekt ist das, was durch das Lernen hervorgebracht wird, was ihm unterworfen ist und es ist zugleich das, was diesem Lernen zugrunde liegt. Es ist strukturierte und strukturierende Struktur, es geht dem Lernen voraus und es ist dessen Folge, es ist überrascht, zufrieden, enttäuscht – von sich; es greift sich wünschend und planend vor und denkt dem gelingenden oder misslingenden Lernen nach. Aber auch für Organisationen sind individuelle Subjekte – als Mitglieder und deren Arbeitsvollzüge – Kontexte des eigenen Lernens. Es kann daher weder in Organisationen noch in Subjekten um Lernhandlungen gehen, wie dies subjektzentrierte Lerntheorien der Psychologie (Holzkamp 1995) oder im Anschluss daran in der Pädagogik (Meyer-Drawe 2012) regelmäßig formulieren (Manhart 2014). Die verbreitete Orientierung der Allgemeinen Erziehungs- wie Erwachsenenbildungswissenschaft an Lernorten und Lernhandlungen befördert, neben erheblichen normativen Problemen (ebd.), ein unterkomplexes Verständnis der wechselseitigen Austauschbeziehungen von Organisation und Subjekt im beiderseitigen Vollzug des Lernens. Diese folgenreiche Vereinfachung findet sich auch in organisationspsychologischen und berufspädagogischen Analysen von Arbeitszusammenhängen (Frieling 2006; Ulich 2007; Lacher 2008). Als eigendynamische lernfähige Strukturen sind Organisationen wie Subjekte eigenständige Lernorte, die sich weder vom Subjekt noch von der Organisation aus einfach formen, die sich weder durch Lernhandlungen noch durch Arbeit beliebig, d. h. für eine der Seiten folgenlos aneignen ließen.

4 Die Pädagogik der Organisation

Organisationen sind und wirken immer pädagogisch. Dieser Umstand ist vermutlich so trivial, dass er regelmäßig unterbelichtet bleibt, wenn es um Fragen der Gestaltung von Arbeitszusammenhängen geht. Dass die Ausgestaltung von Lehrplänen, das Absichern von Qualifikationserfordernissen, das Festlegen methodischer Schritte oder die Adressierbarkeit von Zielgruppen zu den Herausforderungen des pädagogischen Alltags zählen, mag ein konsensfähiger Allgemeinplatz sein. Aber nicht nur die Angewiesenheit auf die Bereitstellung sachlicher Mittel, die Standardisierung zu vermittelnder Inhalte, sondern auch Zugangs- und Teilnahmeregeln setzen Organisation voraus. Pädagogische Kommunikation ist aber vor allem deshalb eng mit dem Prinzip der Organisation verknüpft, weil sie die Kritik an den Zumutungen pädagogischer Anforderungen vom individuellen Subjekt auf die rollenbezogene Person der Lehrkraft ablenkt (Luhmann 2004). Pädagogische Ziele und Maßnahmen können als organisationale Strukturvorgaben der Kontingenz individueller Absichten entzogen und auf Dauer der Schule, der Universität, dem Betrieb zugeschrieben werden.

Aber auch ohne eine primäre pädagogische Zwecksetzung ist Organisationen eine pädagogische Eigenlogik eingeschrieben. Organisationen adressieren Verhaltenserwartungen und Handlungsimperative an ihre Mitglieder, Klienten und Klientinnen. Organisationen sind also nicht nur Kontext beruflicher oder allgemeiner Bildung, sondern als soziale Form immer pädagogisch (Wendt 2020, 2022b). Denn ohne die Absicht der Veränderungen der beteiligten Subjekte wären Organisationsziele lediglich Projektionen, die jeder Möglichkeit einer konkreten Umsetzung entbehrten. Aus Bedingungen der Mitgliedschaft resultieren Verhaltenserwartungen und Handlungsimperative an die Mitglieder oder Klientinnen und Klienten der Organisation, die wiederum eine planende Prognose des für die organisationale Zielerreichung Notwendigen ermöglichen. Wie Erziehungsabsichten operationalisieren Organisationen im Rahmen ihrer Strukturbildungsprozesse daher das gesellschaftliche Interesse an der Vorhersehbarkeit von Verhältnissen (Luhmann 2002, S. 79). Diese Vorhersehbarkeit wird vor allem über die Einschränkung der Kommunikations- und Handlungsmöglichkeiten ihres Personals erreicht (Manhart 2009), was jede einzelne Person verändert. Wie für Erziehung typisch, verfügen Organisationen über ein entsprechendes Anreiz- und Sanktionspotential ihren Mitgliedern gegenüber, Fehlleistungen oder die Negation von Verhaltenserwartungen und Handlungsimperativen zu ahnden (Luhmann 1976; Manhart 2016; Hunold 2021). Nicht zufällig werden organisationale Strukturvorgaben daher als Verhaltens- (Baecker 2001) oder Orientierungszumutungen (Nohl 2022) charakterisiert.

Doch auch diese Analogie zur Erziehung wird als Personalentwicklung begrifflich verschleiert und in der erziehungswissenschaftlichen Reflexion eher gemieden. Hier wirkt sich die dominante Schul- und Generationenorientierung einer Allgemeinen Pädagogik aus, für die die Begründung struktureller Arrangements in der Erziehung vom Kinde, nicht aber vom Erwachsenen aus liegt (Dräger 2017), um von Organisationen nicht zu reden. Erziehungs- und Bildungsverhältnisse erscheinen daher als intendierte Übernahmen einer Vorgabe in einem hierarchischen Zusammenhang, der dem Generationenverhältnis analog ist. Der für das Leben in der Moderne so zentrale lernende Umgang mit dem Neuen und Unplanmäßigem, mit den unterschiedlich verteilten, auf Zusammenarbeit angewiesenen Kompetenzen zwischen Erwachsenen, wird in einer pädagogischen, also explizit vom Kinde her denkenden Erziehungswissenschaft vorschnell auf ein hierarchisches Lehr-Lernverhältnis reduziert. Weder in den informellen Interaktionszusammenhängen formaler Organisationen noch in den gruppendynamischen Prozessen sozialer wie kultureller Wissenstransformation und -aneignung unter und zwischen Erwachsenen ist ein hierarchisches Verhältnis aber der paradigmatische Fall. Diese hierarchische Differenzorientierung der jeder Pädagogik zugrundeliegenden Generationenkonstellation (Dräger 2017) ist umso bemerkenswerter, als der sowohl für die Erwachsenen- als auch für die Berufsbildung namensgebende Bildungsbegriff die immer auch stattfindende Erwachsenen- wie Berufserziehung ebenfalls verschleiert (Wittpoth 2003).

Es würde allerdings zu kurz greifen, Organisationen auf die Operationalisierung von Erziehungsprogrammen zu reduzieren. In Organisationen werden Erwachsene nicht nur erzogen, sondern auch sozialisiert und wenn diese Sozialisation Teil eines Kalküls ist, dann handelt es sich um Bildung (Manhart 2003, 2009). Was als Effekt des heimlichen Lehrplans bereits angesprochen wurde, gilt auch für die eigene Organisationskultur, die als konjunktiver Erfahrungsraum kollektive Orientierungen prägt und der organisationalen Praxis eine unverwechselbare Eigentümlichkeit einschreibt (Mensching 2008). Organisationen sind aber vor allem deshalb Lern- und Bildungsorte, weil sie als sich selbst organisierende Sinnsysteme selber lernen und sich bilden (Argyris und Schön 1978; Geißler 1996; Göhlich et al. 2018). Organisation setzen nicht nur die Fähigkeit zur Selbstregulation der beteiligten Subjekte, sondern auch der eigenen organisationalen Abläufe voraus. Organisationen unterliegen einer subjektanalogen zirkulären Dynamik der eigenen Struktur, die für sie selbst intransparent und kontingent ist. Genau deshalb ist auch Bildung eine angemessene Bezeichnung für die strukturellen Folgen des Umgangs mit der eigenen selbstorganisierten Dynamik. Bildung folgt aus und ist das Ergebnis von Routinen, vor deren Hintergrund Abweichungen und Überraschungen – sie mögen negativ oder positiv sein – verarbeitet werden. Bildsam ist also nicht die Performanz, sondern die Überraschung, darüber dass und wie sie ge- oder misslingt. Bildung folgt aus der (Selbst‑)Beobachtung der Widerständigkeit und Intransparenz der inneren Komplexität eigener Vollzüge und erzeugt sich auf diese Weise aus dem selbstbestimmten Umgang mit Fremdbestimmung. An dieser strukturellen Form von Bildung gehen alle normativen Konzepte – wie der Entfremdungs‑, Selbstzweck- oder Ökonomisierungsdiskurs – vorbei. Das gilt auch für die subjektbezogene Separierung von Bildung und Organisation. Bildung ist Komplexitätsfähigkeit und diese benötigen und erzeugen Organisationen wie Subjekte gleichermaßen (Wendt und Manhart 2022). Der Umgang mit Komplexität ist es auch, der den Bildungsbegriff für die Analyse der digitalen Transformation von Organisation und Gesellschaft prädestiniert. Denn gerade die Orientierung an der pädagogischen Funktionsweise von Organisation erlaubt es, die gegenwärtigen Veränderungen digitaler Transformation in eine erziehungswissenschaftliche Perspektive zu integrieren.

5 Arbeit und Bildung digitaler Organisation

Auch für die Analyse der digitalen Transformation kann eine weitreichende Organisationsvergessenheit diagnostiziert werden (Wendt 80,81,b, c), obwohl sich die Digitalisierung vor allem in und durch Organisationen vollzieht. Digitalisierung führt zu Prozessen der Reorganisation, bei der sich Strukturbildung zunehmend algorithmisch automatisiert. Schon analoge Organisationen haben eine hohe Datenaffinität, um Prozesse standardisieren und kontrollieren zu können. Den klassischen Mitteln organisationaler Strukturbildung, wie z. B. qualifikationsabhängigen Aufgabenprofilen, entsprechen in der digitalen Moderne zunehmend Softwarelösungen, deren Interfaces Handlungs- und Entscheidungsspielräume festlegen. Subjektive Beteiligungsleistungen erscheinen dadurch zunehmend als ersetzbar, gleichzeitig stellt sich die Frage, was sich in Organisationen der rechenmäßigen Automatisierung entzieht (Nassehi 2014; Stengel 2017; Wendt und Manhart 2020). Durch die Virtualisierung des präsenzgebundenen Nebeneinanders unterschiedlicher Handlungsvollzüge bedarf digitale Organisation weder eines lokalen Ortes noch der gleichzeitigen Anwesenheit beteiligter Subjekte. Die zunehmende Ablösung von zeitlichen und räumlichen Beschränkungen (Manhart und Wendt 2019) verändert deshalb auch die Pädagogik der Organisation. Die Einsozialisation in einen beruflichen Handlungskontext vollzieht sich entsprechend unter deutlich veränderten Bedingungen. Die Vorstellung einer community of practice dürfte für digitale Arbeits- und Lernumgebungen nur noch bedingt brauchbar sein. Im Prozess der Arbeit wird jetzt nicht nur anderes, sondern auch anders gelernt.

Digitale Organisation koppelt Vermittlung, Aneignung und Anwendung fix. Das wechselseitige Ausagieren organisationaler Strukturvorgaben und individueller Praxis findet nun zunehmend als Strukturen fortschreibende Verrechnung virtueller Umgebungen statt, die dem Subjekt wie der Organisation immer nur die Oberfläche des jeweils anderen zeigen. Für die Berufspädagogik ist dies folgenreich. Die digitale Beschleunigung des technischen Wandels zeigt, weshalb Qualifikationen mit einem hohen Obsoleszenztempo in Verbindung gebracht werden (Rauner 2010). Gerade um ihre Überprüfbarkeit zu gewährleisten, sind Qualifikationen hochstandardisierte Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse, deren Performanz prinzipiell automatisiert werden kann. Diese Automatisierung geschieht nicht nur im genuin pädagogischen Kontext als softwaregestützte Auswertung von Klausuren oder LogFile-gestützte Überprüfung der Performanz, sondern sie ersetzt menschliche Arbeitsvollzüge durch softwaregestützte Verfahrenstechnik. Das produziert nicht nur erhebliche sozialstrukturelle Veränderungen und Konflikte, sondern stellt auch den Sinn von beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen wie von Arbeit überhaupt (Benanav 2021) in Frage. Mit der Delegitimierung von Qualifikationen kommt Kompetenzen eine wachsende Bedeutung zu. Allerdings meint dies nicht den schulpädagogische Kompetenzbegriff, der an Messbarkeit (Klieme et al. 2007), also wiederum an automatisierbarer Überprüfung ausgerichtet ist. Im Hinblick auf klassische Berufsbilder und deren identitätsstiftende Funktion resultiert hieraus für die Berufspädagogik die Aufgabe, sorgsam zu bedenken, inwieweit bei der Vermittlung berufsspezifischer Qualifikationen auf digitale Lösungen zurückgegriffen wird und welche Effekte damit einhergehen.

Die Einbeziehung digitaler Organisationen aktualisiert neben Erziehung, Sozialisation und Lernen das Verhältnis allgemeiner und beruflicher Bildung. Der klassische Bildungsbegriff adressiert mit der individuellen Auseinandersetzung mit Kontingenzen und Widerständen eine reflexive Distanzierungsleistung des Subjekts zu sich selbst als seiner inneren Umwelt, die nicht zuletzt Prozess und Ergebnis der Auseinandersetzung mit organisationalen Strukturvorgaben ist und zwar unabhängig davon, ob diese analog oder digital verfertigt werden. Die Frage, inwiefern die Kontingenzen physischer Kopräsenz eine unverzichtbare Voraussetzung für Bildungsprozesse sind, spielt daher nicht die entscheidende Rolle, denn der Unterschied zwischen analoger und digitaler Bildung geht nicht in der Differenz von errechneten und kontingenten Anreizen und Widerständen auf. Gerade die Intransparenz, die mit dem Prozessieren von Algorithmen untrennbar verbunden ist (Pasquale 2015), lenkt deshalb den Blick auf das Bildungskonzept zurück. Denn Bildung beruht auf dem absichtsvollen und darin produktiven Umgang mit der unabsichtlich wirkenden Komplexität der inneren wie äußeren Umwelt, die in ihren Vollzügen aber wesentlich intransparent bleibt. Genau darin unterscheiden sich Subjekt und Organisation, auch die digitale Organisation nicht.

6 Die Bildung von Subjekt und Organisation

Als individualisierende Form der Selbstorganisation bringt Bildung die individuelle wie organisationale Fähigkeit zum Umgang mit komplexen, intransparenten Zusammenhängen auf den Begriff, deren Veränderung als Lernen bezeichnet wird. Bildung ist die Fähigkeit zum Umgang mit der eigenen und der als fremd erfahrenen Komplexität. Vor dem Hintergrund organisationsgetriebener wie digitaler Festlegungen von Handlungsspielräumen, aber auch der darauf zurückwirkenden normativen Ansprüche an das Subjekt, nimmt die Komplexität und damit die Intransparenz der Bestimmungen als Voraussetzung neuer Möglichkeiten weiter zu. Dies steigert die Bedeutung von Bildung als Komplexitätsfähigkeit auf beiden Seiten – für das Subjekt und die Organisation.

Wenn Organisationen allgemeine wie berufliche Anforderungen und Befähigungen in der Form individueller Bildung integrieren, so profiliert dies Bildung, neben dem Kompetenz- und Erziehungsbegriff, wieder als eine Zentralkategorie der Erwachsenenbildungswissenschaft. Die theoriesystematische Analyse der pädagogischen Eigenlogik von Organisation bietet die Möglichkeit, die verschiedenen Prozessbegriffe geordnet aufeinander zu beziehen und als einen komplexen Gesamtzusammenhang nichthierarchischer Differenzen zu beschreiben. Reflexion und Distanzierung, die gemeinhin mit Bildung assoziiert werden, sind nicht besser als Immersion und Engagement, deren emotional-volitionalen Gehalte auf Sozialisation und Kompetenz verweisen. Auch geht das eine, das Arbeiten dem Lernen oder die Erziehung der Bildung nicht voraus. Nur eine hetererarchische begriffliche Polykontextur kann die wechselseitige Komplexität von Subjekt und Organisation in den Blick nehmen. Aber weder Bildung, Erziehung, Kompetenz noch Sozialisation bringt sie allein auf den Begriff.

Das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem ist aber nicht nur für die Bildung von Erwachsenen zentral, es findet sich – wie Organisationen und Subjekte auch – in allen pädagogischen Handlungsfeldern und ihrer Reflexion. Die Erträge einer Reflexion und methodisch-empirischen Erforschung organisationaler Strukturbildungsprozesse für die Gestaltung pädagogischer Praxis sind längst nicht abgegolten. Organisationale Entscheidungen über die Modi der Zusammenarbeit, über Bildungsprogrammatiken oder über Formen der Aus- und Weiterbildung produzieren individuelle wie soziale Effekte, die mit dem etablierten und differenzierten Tableau pädagogischer Prozessbegrifflichkeiten wie Lernen, Sozialisation, Erziehung, Bildung und Kompetenz erschlossen werden können. Der Anspruch, die Pädagogik der Organisation nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch einzuholen, begründet deshalb ein Forschungsprogramm. Eine Neujustierung erziehungswissenschaftlicher Grundbegriffe kann diese für die (organisations-)pädagogische Theoriebildung über Subjekt und Organisation ebenso fruchtbar machen wie für die empirische Erforschung einer Pädagogik der Organisation. Erziehungswissenschaftliche Organisationsforschung macht aber eine Perspektive auf das moderne Subjekt wie die digitale Organisation erforderlich, die offen und sensibel ist für die nichthierarchische begriffliche Polykontextur von Bildung, Lernen, Sozialisation, Erziehung und Kompetenz. Eine pädagogische Theorie der Organisation fungiert deshalb nicht nur als Ansatzpunkt, die unterschiedlichen Perspektiven von allgemeiner wie beruflicher Bildung aufeinander zu beziehen. Die Strukturanalogie von Subjekt und Organisation arbeitet der pädagogischen Organisationsvergessenheit und Subjektzentrierung entgegen. Denn eine Pädagogik ohne ein angemessenes Verständnis der eigenen Möglichkeitsbedingungen, bleibt hinter allen selbst gesetzten Ansprüchen an Bildung unvermeidlich zurück.